Lawrence of Arabia (USA 1962, R: David Lean)
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Lawrence of Arabia (USA 1962, R: David Lean)
Über LAWRENCE OF ARABIA (USA 1962, R: David Lean) von Jean-Pierre Gutzeit, M.A. (Berlin) Leans Montagestil – er war Cutter vor seiner Regielaufbahn – ist der eines naturverbundenen, kulturhistorisch und ethnopolitisch interessierten Romantikers und Zivilisationskritikers. Nur wenige Regisseure konnten es daher wagen, so oft hart am Rande des Kitschverdachts divergente Elemente aufeinanderprallen zu lassen und betont fatalistisch zueinander in Beziehung zu setzen: seien es die Funken der Straßenbahn in DOCTOR ZHIVAGO (Doktor Schiwago, GB 1965, Scope auf Panavision-Kameras), in der Julie Christie und Omar Sharif, die sich aber erst später kennenlernen, im Abteil gemeinsam das Rumpeln und Kreischen der Moskauer Schienenstränge erleiden; seien es Flieder und Tautropfen, die just in dem Augenblick sich neu Wege finden, als sich in RYANS DAUGHTER (Ryans Tochter, GB 1970, Super Panavision) Christopher Jones und Sarah Miles in den Wäldern Irlands dem Liebesakt hingeben, oder seien es Zeit- und Raumsprünge in LAWRENCE OF ARABIA, wo das Ausblasen eines Zündholzes als Sinnbild für „außergewöhnliche“ Schmerzerfahrungen einem Krieg in Arabien „den Marsch bläst“. Dieser berühmte jump cut in LAWRENCE OF ARABIA enthält eine der raren Großaufnahmen im 70-mm-Format: ein harter (Ein-)Schnitt wird hier durch eine Totale abgelöst und diese verknüpft den geltungssüchtigen Offizier (Peter O’Toole) im Kairoer Hauptquartier der britischen Militärbehörde mit dem Glutofen der Sahara, die Lawrence alsbald durchquert. Das ausgeblasene Zündholz verwandelt sich von einer Flamme zur Sonne, die alles Leben zu verbrennen scheint. Die Zündholz-Allegorie „Es werde Licht“ ließe sich auch in Beziehung setzen zu Lawrence’ ironisch-überheblicher Erwiderung auf Auda Abu Tayis (Anthony Quinn) Warnungen vor dem Wahnsinn, der jeden beim Durchqueren der Wüste erwarte, worauf der britische Missionar prophetisch entgegnet: „Moses hat es getan!“ Naturkräfte, geschichtliche Umbrüche und überlebensgroße Herausforderungen bedienen bei Lean das Potential einer Dichotomisierung – situiert zwischen hemmungslosen Klischees, Literarizität und episch-verschachtelten Raumbildern. Auch in der Tonmontage beschreiten Lean und sein künftiger „Hauskomponist“ Maurice Jarre neue Wege: „Die Assoziation Wind-psychische Grenzerfahrung ist in diesem Film besonders modellhaft ausgearbeitet. Obwohl der Wind im Allgemeinen als essentielles Klangobjekt für die Wüste steht – in diesem Fall allerdings für den negativ besetzten Teil der Erfahrung –, fungiert er hier nicht als Orientierungslaut zur Bezeichnung des Settings. In vielen Teilen, die in der Wüste angesiedelt sind, fehlt er gänzlich. Der Wind ist nicht die Ursache von Lawrence’ Verfall, sondern ein expressives Stilmittel, diesen Verfall darzustellen und ihn sinnlich wahrnehmbar zu machen. Er bezeichnet nicht einen Ort, sondern eine zunehmende Desorientierung. Die launische Seite des Windes äußert sich in seiner ständigen Veränderung, welche die von Schafer beschriebene Unberechenbarkeit ausdrückt. Diese Veränderungen befördern das Gefühl von Unsicherheit, Instabilität und Chaos. Sie entsprechen den chaotisch wirkenden Linien der grafischen Komposition, die Kennedy festgestellt hat. […] Neu ist in ‚Lawrence of Arabia’, dass die Klanglichkeit des Windes in feinster Abstufung an die Entwicklung des Protagonisten angepasst wird. Leans Epos markiert den Beginn der Tendenz, 1 die Dinge und Materialien nicht mehr nach objektivierbaren Grundlagen erzählökonomisch einzusetzen, sondern die sensorische Qualität des Materials an sich in eine Aussage mit emotionalem Appell zu überführen. Es wird – anders ausgedrückt – der funktionalen Kommunikation eine Erlebnisqualität hinzugefügt. Der Zuschauer wird subtil in die Wahrnehmungsperspektive der Protagonisten gezwungen, indem die klangliche Abbildung der Welt und der Dinge in der Welt sich laufend der psychischen Disposition der Helden und Heldinnen anpasst.“ Leans oft als impressionistisch bezeichneter Stil wurde – der Vergleich zwingt sich förmlich auf – von einer Reihe neuerer US-Regisseure verehrt, darunter Steven Spielberg (EMPIRE OF THE SUN, Das Reich der Sonne, USA 1986, Amerikanische Breitwand), Bernardo Bertolucci (THE LAST EMPEROR, Der letzte Kaiser, GB 1987, Scope, auf Technovision; TÈ NEL DESERTO, Der Himmel über der Wüste, Italien 1990, Amerikanische Breitwand) oder Michael Cimino (HEAVEN’S GATE, Heaven’s Gate – Das Tor zum Himmel, USA 1978, Scope-Linsen von Panavision; THE SICILIAN, Der Sizilianer, USA 1987, J-D-C-Scope-Scope-Linsen von Panavision). Von Regisseuren, die allesamt die breitwandigen Tableaus Leans motivisch plagiierten, ohne jedoch in ihren Filmen auch nur annähernd vergleichbar nachwirkende mythische Momente auf die Leinwand gebracht zu haben. Offenbar sowohl eine Frage des Formats als auch der kulturellen Provinienz. 2