Wenn man wieder zu leben hat

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Wenn man wieder zu leben hat
Eröffnungsvortrag
Krebsinformations-Tag
München, 26.9.2015, 9 Uhr
Klinikum Großhadern, Hörsaal III
Susanne Breit-Keßler
Wenn man wieder zu leben hat
Die NachuntersuchungKrankheit ist unaufschiebbarer Dialog mit sich selbst
Das Mosaik auf dem Boden in der Klinik, in der ich warte, hält dahineilende Schritte fest. Die aus dunklen Steinchen geformten Fußsohlen werden tattäglich überrannt von Laborantinnen und Schwestern. Ärzte
schreiten darüber hinweg; ihre Geschwindigkeit ist abhängig von Lebensalter und erreichter Position. Je langsamer sie auf den ewigen Füßen
entlanggehen, mit einem ins Leere gerichteten Blick und dennoch
freundlichen Zwischenstopps bei wartenden Patienten, desto souveräner
scheinen sie zu sein. Die anderen, wir, die wir zur Untersuchung ins
Krankenhaus kommen, schlurfen müde durch den Gang, trippeln aufgeregt vor verschlossenen Türen auf und ab oder verbergen Angst hinter
einem betont festen Tritt. Dann, auf einer der Holzbänke sitzend, einen
günstigen Orakelspruch der Menschen in weiß erhoffend, bleibt der Blick
haften am Mosaik.
Übermächtig wird der Wunsch davonzulaufen, mit diesen Füßen zu enteilen, irgendwohin, wo keine Gummischläuche zu schlucken gibt, keinen
Nadeln sich in gequälte Venen bohren, um nach Blut zu suchen. Dorthin
wo keine riesigen Ausgeburten menschlichen Erfindungsgeistes durch
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einen hindurchsehen - mit der drohenden Aussicht, „filiae“ zu entdecken, Tochtergeschwülste, Metastasen. Weglaufen, nichts wissen von alledem versammelten Elend auf einem einzigen Krankenhausflur, weglaufen vor der eigenen Biografie, die einen in Abständen zurück zwingt in
diesen Gang. Aber festzementiert wie die steinernen bleiben die eigenen
Füße; beweglich stur, um durch neue Türen zu gehen, auf Liegen gebettet
zu werden, wieder hinabzusteigen, Stockwerke zu wechseln. „Du bleibst
hier, und zwar sofort“, sagt der melancholisch-komische Karl Valentin.
Also bleiben; standhalten statt flüchten.
Die Untersuchungsrituale laufen ab wie gewohnt, die Sätze der Ärzte haben einen vertrauten, beinahe heimeligen Klang. Seit über dreißig Jahren
bewältigen wir gemeinsam die medizinische Zitterpartie, bei der es um
mein Leben und ihre Ermutigung geht - in Tonfall, Mimik und Gestik
sorgsam aufeinander eingestellt. Die sportliche Devise „ never change a
winning team“ würde sich trefflich über einem Gruppenfoto machen,
wenn es eines gäbe. Fremde, auch Fachleute, haben da nichts zu suchen;
sie dürfen bei einer der mühsamen Inspektionen höchstens einmal zuoder hineinschauen, um, wie ich ihre Anwesenheit für mich definiere,
„etwas zu lernen“. Ich brauche die unangefochtene Vertrautheit mit
„meinen“ Ärzten, die Sorte von Nähe, die sie zu geben bereit sind. Heimatlos, fremd sein an einem Ort, an dem die Wiederbeheimatung im eigenen Körper überprüft wird, das hieße die letzten Wurzeln kappen.
Ob sie das wissen, die Ärzte? Das häufige Lamento über die Halbgötter
lässt anderes vermuten. Es ist jedoch undifferenziert. Ärzte sind Menschen mit Ängsten, Selbstzweifeln und gelegentlicher Resignation angesichts des ganz alltäglichen Wahnsinns Körper und Seele zerfressender
Krankheiten. Sie kämpfen mit Gepeinigten, wollen und müssen es jeden
Tag wieder tun. Wen wundert´s, dass sie dabei auch Schwächen zeigen. „
Meine“ Ärzte sind weder halbe noch ganze Götter, auch wenn sie Wunder
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vollbringen. „Danken Sie dem Herrgott da oben“ sagt einer, dessen chirurgische Brillanz der erste Schritt zum unerwarteten Überleben war,
„nicht mir. Ich bin bloß sein Werkzeug.“ Mir sind sie Menschenfreunde,
zwei von Ihnen sogar echte Freunde. Freunde sind auch in widerwärtigsten Situationen ehrlich, verzichten trotzdem nicht auf Hinweise, wo unter günstigen Umständen ein Pfad aus dem Schlamassel führen könnte.
Der Pfad hat sich für mich gefunden und ist bislang in drei Jahrzehnten
nicht wieder verloren gegangen. Die Mediziner, im Angesicht eines Befundes, der in die Kategorie „ hohe Letalitätsrate“ fällt, sind wahrhaftig
gewesen und geblieben. Ich vermute, das hat sie - abgesehen von ihrem
ethischen Bewusstsein und allen juristischen Fragen – im gleichen Maß
Mut gekostet, wie es Erleichterung für den Umgang miteinander brachte.
Aufrichtige Sorge statt verdrängter Panik, echte Freude anstelle gekünstelter Aufmunterung – der Verzicht auf taktische Nebelwerfer macht das
Leben nicht leichter, aber würdevoller. Das Ärztewort der „eigenen Geschichte“, die jeder Patient hat, hilft beim heimlichen Schmökern in den
Gruselabteilung der medizinischen Buchhandlungen. Nur so können die
nackten Zahlen einer Statistik verkraftet werden, die der Leserin nicht
wohlgesonnen ist. Zwei Prozent Überlebenschance… Puh.
Trotzdem: Nie zuvor habe ich jede Minute eines Tages und einer Nacht
so bewusst und ausgeglichen erlebt wie in den Wochen meines Krankenhausaufenthaltes. Die Auseinandersetzung mit mir dauerte an und hatte
ihre Zeit. Der Professor, der die Chemotherapie überwachte, trug stets
eifrig neue Bücher über den Zusammenhang zwischen bösartigen Erkrankungen und Psyche herbei und wollte meine Meinung dazu hören –
und mich sicher damit ordentlich beschäftigen und bei meiner Reflexion
unterstützen. Die meisten Ärzte hockten sich – natürlich nach der Bitte
um Erlaubnis auf mein Bett, waren nicht mehr weit weg und sprachen
mit mir über mein Befinden, über meinen Glauben und den Gott, der ei3
nen auch in den tiefsten Tiefen hält. Ich mochte es, wenn sie mir meine
Hand streichelten, weil mir diese körperliche Nähe bei all den körperlichen und seelischen Mühen gut tat.
Streng waren die Ärzte, als ich nach sechs Wochen intravenöser Ernährung einfach nicht essen wollte. Da blieb mir nur zu gehorchen, wollte ich
nicht in der Klinik bleiben. Dasselbe geschah bei einer noch mühsameren
Angelegenheit als dem Essen. Ich musste bougiert werden, d. h. einen
Gummischlauch schlucken, um die sich immer wieder zusammenziehende Narbe in der Speiseröhre offen zu halten, die zuvor zweimal mit einem
unflexiblen Stahlrohr aufgebrochen werden musste. Durch eine liebevolle List von Ärzten und Schwestern lernte ich das selbst zu tun, und praktizierte es dann auch ein dreiviertel Jahr lang zuhause, bis die Gefahr vorüber war. Oft habe ich mit meinem Gott gehadert wegen dieser elenden
Schinderei, habe geflucht und ihn gebeten, mir die nötige Kraft für diese
Plackerei ei zu geben. Auch die Zeit der langen und wuchtigen Chemotherapie hat mich gebeutelt und gestärkt – beides zugleich.
Ich habe zulassen können, dass mir übel war, dass ich nicht aufstehen
konnte, nichts tun konnte, dass ich nicht schön war, weil ich keine Haare
mehr auf dem Kopf hatte, dass ich körperlich ein Häufchen Elend war.
Alles das war „dran“, es war in diesem Augenblick entscheidend, es war
die Realität. Nichts von vorher hat gezählt; ein Nachher war sowieso außerhalb jeder Diskussion. Ich habe es auch in quälenden und schweren
Stunden als Entlastung empfunden, nicht mehr an früher, an vergangene
Vitalität zu denken, und schon gar nicht an neue Lebensmöglichkeiten.
Der Augenblick war wichtig, egal, wie er ausgesehen hat. Ich habe mit
Haut und Glatze gespürt, was es heißt, gerechtfertigt zu sein allein aus
Gnaden – sich bleich, kahlköpfig, abgemagert und ängstlich geliebt und
angenommen zu wissen von Gott, ohne strahlend großartig vor ihm dazustehen.
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Für mich beinahe unmerklich hat sich dann der Wandel vollzogen von
einer, menschlich gesehen, völlig aussichtslosen Lage hin zu der Möglichkeit, wieder zu leben. Leben heißt nach solchen Monaten nicht einfach Rückkehr in das Gewohnte. Niemand kann so tun, als wäre nichts
gewesen. Leben mit dem Damoklesschwert? Im übertragenen Sinn vielleicht; wörtlich genommen nicht. Denn Damokles hat´s gut gehabt. Der
Schmeichler am Hof des Tyrannen von Syrakus pries das Leben seines
Herrschers in den höchsten Tönen. Dem war das doch zu dick aufgetragen, und er präsentierte dem Höfling ein üppiges Festmahl. Unerfreulicher Aspekt des Gelages war ein Schwert, das, an einem Pferdehaar über
seinem Kopfe hängend, den Damokles gewaltig den Appetit verdarb. Solchermaßen über das gefährdete Glück einen Tyrannen belehrt, verzichtete der Gute auf die Tafelfreuden.
Leicht einzusehen, worin sein Vorteil besteht: Er konnte aufstehen, „ Tut
mir leid sagen“ oder „ mir ist gerade etwas unwohl“ und hinfort seine
Bemerkungen bleiben lassen. Schlimmstenfalls hat sich der Tyrann samt
den anderen Hofschranzen eins gekichert. Unsereiner dagegen kann
nicht einfach abhauen, und niemand holt dieses blöde Schwert von der
Decke. Geschweig denn, dass irgendjemand lacht - außer einem selbst.
Anfänglich war es Hohngelächter. Selber zwangsweise hochtrainiert in
Geduld, konnte man nur so ertragen, wenn andere wegen einer halben
Stunde Wartezeit schon wutentbrannt an die Tür eines Behandlungszimmers hämmerten und die Beschreibung eines verrenkten Knöchels
zur Einlage „Sterbender Schwan“ verkam. Dann die Phase des blanken
Zynismus. „Hach sind Sie schlank“, sage eine reichlich gepolsterte Damen, die sich in einem Provinzkaufhaus in ein Sonderangebot zwängte.
Ich stand damals mit meinen 45 Kilo hilflos vor den kleinen Größen und
musste mangels Masse in die Kinderabteilung wandern. Mit einer mir
heute kaum verständlichen Härte empfahl ich der korpulenten Ge5
schlechtsgenossin einen mindestens neunwöchigen Aufenthalt im Krankenhaus inklusive nahezu vollständiger Entfernung des Magens. Da bliebe sie schlank, versprach ich kalt. Das mit der nachfolgenden Chemotherapie behielt ich dann doch lieber für mich. Die Zeit des schweren Frostes, der die verletzte und schutzlose Seele vor unschuldigen, aber plumpen Zugriffen von außen bewahren sollte, ist längst vorbei. Das Lachen
gilt inzwischen den ganz und gar gewöhnlichen Späßen, über die viele
andere auch lachen. Zum Glück gibt es solche Übereinstimmungen mit
der Welt. Denn der Vorrat daran ist zumindest am Anfang wirklich nicht
zu groß.
Obgleich kaum jemand den Gedanken in sich zulassen möchte, ein
Fremdling auf Erden geworden zu sein - zeitweise ist es jeder, der das
irdische Fegefeuer durchschreiten musste. Was wohl Lazarus, das beschäftigt eine Theologin natürlich, was hat er nach seiner Auferweckung
so gedacht und getan hat? Im Neuen Testament steht nur, dass er auf
den Zuruf Jesu hin mit Grabtüchern an Füßen und Händen aus seiner
Höhle
herausmarschiert
kam,
das
Gesicht
verhüllt
mit
einem
Schweißtuch. Aber was dann, nachdem er all diesen Tücherkram weggemacht bekam und wieder zu leben hatte … morgens, mittags, abends. Als
er wieder seinen Lebensunterhalt verdienen musste, sich mit neugierigen
Bekannten unterhalten, mit Verwandten herumstreiten – wie hat Lazarus bewältigt, dass die Schonzeit vorüber war? Denn irgendwann ist sie
verstrichen, ob man direkt aus dem Grab kommt.
Oder „nur“ von seinem Rand. Wer überlebt, gelangt unausweichlich aus
der Sphäre des Besonderen in den rauen Alltag, in dem einen der Wind
gewaltig um die Nase pfeift. Vieles des Alten hat, so der einsichtige, wieder ins Leben entlassene Mensch, zum Entstehen der Krankheit beigetragen. Nun braucht es als erstes Kraft – woher bloß nehmen? – die Verhältnisse, vor allem aber sich selbst zu ändern. Was ist Krankheit anderes
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als ein unaufschiebbar gewordener Dialog, ein Zwiegespräch mit sich
selbst, das zu führen man vorher womöglich aus Angst vor den Konsequenzen verweigert hatte. Wer nicht auf sich hören will, der wird es fühlen – das, was im Halse stecken oder unverdaut blieb, auf den Magen
schlug, an die Nieren ging, als Galle bitter hoch kam, aber niemals auf
seine Ursachen hin gedacht wurde. Goethes Zauberlehrling jammerte
über die Geister, die er rief und nicht mehr loswurde.
Unsereiner kann froh sein, dass die nicht gerufenen Geister sich selbst
zu erkennen und damit eine Chance zu ihrer Überwindung geben. Bücher
werden weiter gewälzt über den Zusammenhang von Leib und Seele;
man wird kompetent in Fragen des Immunsystems, weiß sich eloquent
über die Klassifikation maligner Lymphome auszulassen, beantwortet
Fragen nach dem Krankheitsbild fachlateinisch korrekt und mit einer
Spur von Stolz. Die Werte der Blutsenkung sind ebenso geläufig wie der
exakte Gastroskopiebefund. Im vollen Bewusstsein der eigenen Lebensgeschichte und des errungenen Etappensieges trifft die kampfeswillige
Patientin auf Schwestern, die eine notwendige Spritze verweigern, weil
sie einen nicht mehr kennen. Rezept? Arzt anrufen? Bitte? Ich lag hier im
zweiten Stock als dieser kleine Naseweis noch gar nicht wusste, wie man
Schwesternschule schreibt! So was…
Bis dann die Nasenflügel beben und die Mundwinkel sich zu frischen
Grinsefalten nach oben heben: Solange dauert das Wunder schon an!?
Der Krankenstarrsinn weicht heimlich-fideler Lebensfreude. Aber unerwartet tauchen neue Probleme auf. Ahnungslose Mitmenschen halten
einen für zickig, weil man nur „ Vögelchenportionen“ essen kann; für
work-aholic, weil jede Aufgabe als challenge, als Herausforderung und,
sofern gemeistert, als Sieg über die Krankheit erlebt wird. Selbstbescheidung muss gelernt werden, wo man gerade dabei war, Bäume auszureißen, die Welt auf den Schultern zu tragen und, wiewohl gelegentlich ein
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demokratischer Mensch, zu fröhlich-autoritären Aussagen des Charakters „ ego locuta“, „causa finita“ tendierte. Aber eigene Maßstäbe dürfen
nicht absolut gesetzt werden, auch dann nicht, wenn man sich mit dem
Überstandenen schmückt wie ein Kriegsveteran mit Auszeichnungen.
Soll das eigene Leben kompatibel bleiben, heißt es merkwürdigerweise
barmherzig bleiben mit denen, die verschont geblieben sind. Du musst
akzeptieren, sagt die Freundin behutsam, dass andere das nicht erlebt
haben – deine Erfahrungen darfst du nicht zur alleinigen Voraussetzung
jeder Kommunikation machen. Der Fremdling gehorcht mürrisch der
Mahnung, gesprächsfähig zu bleiben. Könnte sich nicht die Welt ab jetzt
um mich drehen, wo ich ihren und meinen Strudeln gerade entkommen
bin? Nein? Dann eben der Versuch, die Balance zu halten zwischen Untergrunderfahrungen und business as usual. Ich führe also einen unglaublich vollgepfropften Terminkalender, sause mit wichtiger Miene zu
Veranstaltungen, rede, auch wenn ich nicht gefragt werde, informiere
mich beständig über Politik und habe eine Meinung zur kulturellen Lage
der Nation.
Von Wirtschaft verstehe ich nach wie vor betrüblich wenig, dafür kenne
ich mich bei Krippen und Krimis aus. Ich lebe mit aller Kraft, die mir gegeben ist. Dazu gehört, mich anderen zuzuwenden, die jetzt krank sind.
Wir brauchen Sympathie und Empathie, um selbst bewegt vom Schicksal
anderer sein und trösten zu können. Wie solches Trösten aussieht? Dem
Gegenüber zuhören, ihn oder sie umfassend wahrnehmen. Persönlich,
individuell anreden, ernst nehmen – nirgendwo auch nur einen Hauch
abwiegeln oder Leiden hierarchisieren. Menschen gleichberechtigt gegenüber treten. Berührung, Anrührendes in Wort und Tat spüren lassen.
Wissen, dass Trösten Prozesscharakter hat und unabhängiges, befreites
Leben Geschenk Gottes ist. Lernen, dass mit unser Macht nichts getan ist
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– wir Gottes Kraft in und für uns nötig haben, um Trost zu empfinden
und zu geben.
Es gibt keine ideale Existenz, kein Leben ohne Wunden und Verletzungen. Was so oft in unserer Gesellschaft als Defizit verachtet wird, ist Leben. Nicht immer leicht, manchmal entsetzlich schwer und nur mit
fremder Hilfe zu tragen, aber es ist bei Gott wertvolles und von ihm angesehenes Leben. Nichts Menschliches ist ihm fremd - das bekennen
Christenmenschen mit den Worten von der Menschwerdung Gottes. Armut, Elend, Qual, Einsamkeit, Folter, Tod ist ihm so vertraut wie die Fülle der Gaben und Fähigkeiten, wie Lebensfreude und Gemeinschaft über
Grenzen hinweg. Wir dürfen nicht fremdeln mit dem, was Gott nahe ist
und was Menschen widerfährt. Sie sollen getröstet werden - das ist Versprechen und Verheißung im Hier und Jetzt, wenn man, gar nicht einmal
von Gott und der Welt verlassen, sich dennoch heillos einsam fühlt. Gott,
das sagt die Theologin, weicht dem Leid nicht aus.
Er konfrontiert mich, uns mit der Frage nach dem Leid im eigenen Leben. Und mit der Frage, was einen und eine tröstet und trägt und öffnet
für die Kraft der Hoffnung. Wir sollen und dürfen alle miteinander unserer Aufgabe gerecht werden - Leben zu schützen bis zuletzt, behutsam
damit umzugehen, zart und liebevoll, dieses kostbare, zerbrechliche Leben in seinen Stärken und Schwächen zu achten bis zum letzten Atemzug. Sterben gehört wie das Geborenwerden zum Leben. Beides ist
schmerzhaft. Bei beidem sind wir mit unserer ganzen Menschlichkeit gefordert. Diese Gesellschaft profitiert in ihrer Humanität davon, wenn sie
sich sorgfältig den Abschieden zuwendet. Es ist Lebensqualität, wenn wir
eine humane Sterbekultur, damit eine menschliche Kultur des Lebens
pflegen. Loslassen – anerkennen, dass wir niemals ein schmerz-, ein verlustfreies Leben werden führen können.
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Wir leben. Und da ist es wichtig, genau auch auf sich selbst zu hören, uns
selber Aufmerksamkeit zu schenken, um zu spüren, was mit uns los ist.
Und wir, Sie sollten, ob wir nun Patienten, Genesende oder Helfende
sind, kleine Gelegenheiten nutzen, das kurze Gespräch dazwischen, beim
Kaffee oder Tee, bei der Begegnung auf der Straße. Oft verbergen wir selber oder jemand anderes Not hinter Worten, weil wir nicht wagen, uns
einander zuzumuten. Oder wir erzählen durch Mimik und den Ausdruck
des Gesichtes ganz offensichtlich von uns. Tun wir das weiter – drücken
wir unsere eigene Sehnsucht nach wirklichem Mitgefühl endlich einmal
aus – und schenken wir selber anderen etwas Kostbares: Wärme und
Nähe. Das ist das Beste, was wir einander zu geben vermögen in den
schönen Tagen des Lebens und in denen, die so elend schwer zu ertragen
sind. Es ist auch das, was einen heil macht.
Entweder im Sinne von gesund oder doch so, dass wir annehmen können, was geschieht. Zur Nähe gehört übrigens auch die „Traute“ renitent
zu sein. Die persönliche Anarchie, der begeisterte Widerspruch setzt ein,
wenn etwas „immer schon so war“, „noch nie anders“ gemacht wurde,
weil „das ja noch schöner wäre“. Eben. Manches wäre anders, tatsächlich
schöner und besser, privat und öffentlich. Warum sollte es nicht so werden? Wir haben gelernt, uns anders zu verhalten, als uns eigentlich zumute ist. Von Kindesbeinen an hat man uns beigebracht, unser Herz
nicht auf der Zunge zu tragen und gute Miene auch zum manchmal bösen
Spiel zu machen. Wir haben gelernt, Ängste zu unterdrücken, Sehnsucht
in Watte zu packen und zu verstecken, unsere Sprache anzupassen. Natürlich: Rücksicht auf andere erfordert Besonnenheit in der Wahl der
Worte und ein Gespür für die Wirkung unserer Äußerungen.
Aber wenn solche Rücksicht dazu führt, dass wir eigentliche Gedanken
und Gefühle ständig verbergen, dann bleibt das nicht ohne Folgen für die
eigene Identität. Wer seinem Herzen nie Luft macht, wer nicht zugibt,
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was ihm am Herzen liegt, der nimmt Schaden an Leib und Seele. Es trifft
aber auch der Umkehrschluss zu: Die Worte, die wir verwenden, lassen
uns nicht unberührt. Unsere Sprache prägt uns. Was wir sagen und wer
wir sind – das ist eine unaufhörliche Wechselwirkung. Der gute Schatz
des Herzens oder der böse Schatz des Herzens, von denen Jesus in der
Bibel spricht, sind nicht naturgegeben. Sie werden im Laufe des Lebens
angesammelt aus der Liebe oder Lieblosigkeit, die uns entgegengebracht
wird, aus dem Klima der Freiheit, die man uns zutraut und in der wir unsere Entscheidungen selbst treffen können, oder aus der Unfreiheit, die
wir verinnerlichen.
Freiheit sollten wir uns auf die Fahnen schreiben – mindestens die innere, die es uns ermöglicht, Abstand zu halten von allem, was uns krankmachend knechtet. Die sorgenvolle Betrachtung des Mosaiks und der darauf festgelegten Fußstapfen konnte von mir bislang jedes Jahr durch
den erleichterten Marsch ins Freie beendet werden - auf eigenen zwei
Beinen. Inzwischen sind es neue Flure, auf denen ich warte. Einer Prognose zu trotzen und der Statistik ein Schnippchen zu schlagen, weckt die
ungebändigte Lust an Freiheit und Utopie. „We are the champions, my
friend, we keep on fighting to the end“ heißt die Hymne der Rockgruppe
Queen, deren Leadsänger Freddy Mercury jung gestorben ist. Kämpfen
bis zum Ende, weil es immerhin die Möglichkeit eines Sieges gibt, das
geht in der Konfrontation mit Krankheit in Fleisch und Blut über. Ein
anderer Kampf als solche, die Mitmenschen das Leben nehmen.
Wer dem Verhängnis jeden Atemzug abgerungen hat, wird anderen vielleicht was husten, ihnen aber niemals die Luft abdrehen. Lust an der
Freiheit trägt unauslöschlich Erinnerungen an würgende Unfreiheit in
sich, im Klinikbett gesammelt, gefesselt an ein System von Schläuchen
und Flaschen, die dem Überleben dienen. Wie nicht bloß über- sondern
weiterleben, ohne zu verdrängen, aber auch, ohne im vorläufig Vergan11
genen unterzugehen, es stattdessen konstruktiv für einen Existenz „danach“ nutzen? Der Philosoph Hegel, als Seelsorger eher selten strapaziert, schreibt dennoch weise und empathisch für uns: „Aber nicht das
Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das in erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des
Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet.
Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen
wegsieht …, sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins
Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft,
die es in das Sein umkehrt.“ Die Spuren der Verwüstung bleiben, als
Narben und physische Einschränkungen, geistig und seelisch in der dauernden Präsenz der Vergänglichkeit. Aber das Abrakadabra Hegels wirkt,
die Zauberkraft, die darin steckt, das Negative als wesentliches Element
der eigenen Geschichte, als Bestandteil der Biographie zu integrieren.
Nicht beschönigend, denn Leiden besitzt hässliche Züge; nicht mystifizierend, denn Krankheit hat reale Ursachen und strapaziöse Folgen. Aber
die einstige Qual macht den Augenblick zur Sensation der Unendlichkeit.
Nebel, ein nasser Dackel, der sich schüttelt, Eisblumen auf der Windschutzscheibe, ein Kuss auf die Nasenspitze.
Das Gelächter der Freunde – ach, die Liste passt nicht in diesen Vortrag.
In meinen Charts steht der alte Schlager „Himbeereis zum Frühstück,
Rock´n´Roll im Fahrstuhl“ ziemlich weit oben. Ich denke, ich habe einen
verrückten Glücksvorsprung. Anspruch auf gelungenes Leben gibt es
nicht; einmal irdisches Fegefeuer ist keine Garantie auf paradiesische
Zustände. Der nicht zu verhindernde Verlust derer, die man liebt, holt
das Reich der Schatten schnell und grausam zurück. Was, wenn es bei
mir selbst wieder soweit sein sollte? Ich weiß nicht, wie Mut und Würde
aufbringen, die ich mir für diesen Fall wünsche. Ich eigne mich nicht zur
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Heldin, kann auch nicht spielen wie der Brandner Kaspar, der dem Tod
ein paar Jahre abgetrotzt hat. Gelegentlich packt mich Angst, so zwischendurch bei Unerklärlichem und dann jedes Jahr, wenn ich das Mosaik anschauen gehen muss.
Wenn mich die versteinerten Füße oder inzwischen eben andere Flure
und Krankenhauskunstwerke festhalten. Wenn es soweit wäre, dass sie
es für immer tun, dann will ich mich daran erinnern. Will mich erinnern,
wie viele Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre ich
nach dem vermeintlichen Todesurteil gnadenhalber bekommen habe - in
manch seelischer und körperlicher Gefangenschaft, mit bleibenden,
manchmal lästigen Einschränkungen, aber auch als "Freigelassene der
Schöpfung", wie Herder sagt, in zeitweise völliger Unbekümmertheit.
„We keep on fighting to the end“ – wir kämpfen bis zum Ende. Bis dahin,
bis zum Ende, wie es auch immer aussieht, gibt es nicht nur Kampf. Bis
dahin bin ich glücklich und traurig, ernsthaft und albern, leidenschaftlich
und schlapp, energisch und wurschtig, freundlich und wütend …. Leben
eben. Danke.
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