In der Provinz werden Ärzte knapp

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In der Provinz werden Ärzte knapp
Schwerpunkt
Lockruf vom Land
In der Provinz werden Ärzte knapp
Von Rainer Woratschka
J
ahr für Jahr steigt die Zahl
der in Deutschland praktizierenden Ärzte. Im vergangenen Jahr erreichte sie mit
einem Zuwachs um weitere
1,5 Prozent die Rekordmarke
von 319.697. Gleichzeitig klagen Kommunen auf dem Land
über leer stehende Arztpraxen,
Krankenhäuser über nicht
mehr zu besetzende Planstellen
und Patienten über immer längere Wartezeiten. Es hört sich
paradox an: Ärztemangel in
einem Meer von Medizinern?
Wie ist das überhaupt möglich
und was hilft dagegen?
Der Hinweis, dass sich mit lautem Alarmgeschrei über fehlende Ärzte trefflich Standespolitik
machen und Honorarforderungen durchsetzen lassen, ist zwar
richtig, hilft aber nicht weiter.
Die Klagen über Medizinermangel kommen schließlich nicht
nur aus dem Lager der Lobbyisten. Und sie gründen auf nachprüfbarer Statistik. Rund 4.000
Stellen in deutschen Kliniken
können derzeit wegen Bewerbermangels nicht besetzt werden.
Gleichzeitig werden die praktizierenden Mediziner immer
älter. Bis 2017 gehen 76.000 in
den Ruhestand. Laut Ärztekammer rücken aber nicht genug
Jüngere nach. Von den jährlich
etwa 7.000 Hochschulabgängern
entscheide sich etwa ein Fünftel
gegen den Arztberuf. Dabei
schreckt kaum einen das Gespenst der Arbeitslosigkeit. Eher
ist es die Aussicht auf beruflichen
Druck, finanzielles Risiko und
hohe Arbeitsbelastung.
Junge Ärzte zieht es nicht
aufs Land
Allerdings, wer Ärztemangel beklagt, sollte schon genauer hinsehen. In Berlin, Hamburg oder
auch dem eher städtisch geprägten Hessen fehlt es keineswegs
an Medizinern. In der Hauptstadt etwa treten sie sich geradezu auf die Füße und lassen sich
auch von dem immer kleiner
werdenden Honorarkuchen
nicht in ländliche Gebiete, wie
die nahe gelegene Uckermark,
vertreiben. Es handle sich „ganz
klar um ein Stadt-Land-Problem“, räumt die Kassenärztliche
Bundesvereinigung ein. Die angehenden Doktores wollen nicht
in strukturschwache Gegenden.
Denn dort gibt es vieles nicht,
MDK-Forum 3/2009
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was große Städte zu bieten haben: Kultur und kurze Wege,
Akademiker-Freunde, einen
qualifizierten Job für den Partner, die Uni für den Nachwuchs.
Und eine stattliche Zahl von
privat Versicherten.
Lücken nicht nur im Osten
Entsprechend ist auch nicht,
wie vielfach dargestellt, bloß
der Osten das Problem. Auch im
ländlichen Niedersachsen oder
in Westfalen-Lippe fehlen Mediziner, selbst in Bayern gibt es
Lücken. Von knapp 5.000 Hausarztsitzen in Niedersachsen
etwa sind nach aktuellen Zahlen
inzwischen 467 verwaist. Vor
zwei Jahren waren es noch 195.
Das ist eine ähnliche Quote wie
im ebenfalls heftig betroffenen
Sachsen-Anhalt, das auf 138
unbesetzte Hausarztbezirke
kommt. Das Durchschnittsalter
praktizierender Ärzte liegt dort
schon jetzt bei knapp 53 Jahren.
14,5 Prozent von ihnen sind
bereits 65 oder älter. Manche
hören nicht auf, weil sie ihre
Patienten nicht unversorgt lassen wollen – andere schlicht,
weil sie ihre Praxis an keinen
Nachfolger verkauft bekommen.
Die Mediziner, das räumen
auch deren Verbände ein, sind
höchst ungleich verteilt in
Deutschland. Das ist kein
Wunder, sondern auch eine
Folge der Verödung vieler Landstriche. Mit den fehlenden
Ärzten sinkt deren Attraktivität
weiter, die Unerschrockenen
und Standhaften müssen mehr
arbeiten, länger fahren und
auch privat mit dem Leben in
halb ausgestorbenen Dörfern
zurechtkommen. Verordnen
lässt sich die Landarzt-Existenz
Schwerpunkt
niemandem. Denn Dirigismus,
wie etwa bei den Lehrern, ist
schwierig in freien Berufen.
Zahl der Praxisbesuche steigt
Offenbar brauchen die Deutschen aber auch besonders viele
Ärzte. Zwar sind sie, statistisch
gesehen, nicht öfter krank als
die Menschen anderer Länder.
Nirgendwo auf der Welt ist
jedoch die Zahl der Arzt-Patienten-Kontakte so hoch wie
hierzulande. Daran hat auch
die Praxisgebühr, die bei den
Patienten fast einen kleinen
Volksaufstand hervorrief und
der Gesundheitsministerin
Morddrohungen einbrachte,
nichts geändert.
Im Schnitt saß 2007 jeder Bundesbürger knapp 18 Mal im
Wartezimmer – Kliniken und
Zahnarztpraxen noch gar nicht
eingerechnet. Macht für die
niedergelassenen Mediziner
1,48 Milliarden Patientenkontakte – und 5,2 Millionen Arztbesuche pro Werktag. Das ist
deutlich mehr als früher. In nur
drei Jahren stieg die Zahl der
Praxisbesuche um zehn Prozent.
Die Deutschen leiden demnach
auch unter fehlenden Ärzten,
weil sie besonders viele benötigen. Ist es also nur das hohe Anspruchsdenken gut zahlender
Krankenversicherter? Womöglich befinden wir uns ja auch in
einem circulus vitiosus. Weil so
viele kommen, werden sie nur
flüchtig behandelt. Weil sie flüchtig behandelt werden, kommen
sie häufiger.
Eine wichtige Rolle für den
hohen Bedarf spielt natürlich
die demografische Entwicklung.
Viele alte Menschen suchen
schon allein, weil sie einsam
sind, verstärkt den Kontakt zu
Ärzten. Alte Menschen sind aber
auch häufiger krank – und sie
leiden an schwieriger zu behandelnden Krankheiten, oft an
mehreren gleichzeitig. Viele
Patienten benötigten die aufwändige Behandlung von
Krankheiten, die sie früher gar
nicht erlebt hätten, sagt Bundesärztekammer-Vize Frank Ulrich
Montgomery. Auch die „Expansion des Möglichen“ in der
Medizin – vormals unbekannte
Eingriffe, Untersuchungen und
Therapiemethoden – verschlinge
immer mehr Personal.
Junge Ärzte wollen mehr
Freizeit und Familienleben
Außerdem ist für eine wachsende Zahl von Medizinern der
Beruf nicht mehr alles. Sie sehen
nicht ein, in der Woche 60 bis
70 Stunden zu arbeiten, suchen
sich Kompagnons für die Praxis
oder sogar Teilzeitstellen. Besonders Frauen haben den Anspruch, auch noch für ihre
Familien da zu sein – und sie
stellen inzwischen einen immer
größeren Anteil der Mediziner.
Seit 1991 stieg er von 33,6 auf
41,5 Prozent.
Mehr Freizeit und Familienleben
haben zu wollen, bedeutet aber
auch: Dort sein zu wollen, wo es
familienfreundliche Strukturen
und gute Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung gibt. Kommunen,
die hieran nicht arbeiteten,
bräuchten sich über Medizinermangel nicht zu wundern, meint
der Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen, Detlev Haffke.
Lösungsansätze
Haffke hat Erfahrung mit dem
Anwerben von Medizinern. Es
gebe ja kaum etwas, was sie nicht
schon versucht hätten, in Niedersachsen und anderswo. Niederlassungsberatung, Praxisbörsen,
Anzeigenkampagnen im Ärzteblatt, Weiterbildungsförderung,
Umsatzgarantien, die Überlassung günstiger Praxisräume.
Als nächstes kommt nun das
Pilotprojekt „Moni“. Die Abkürzung für „Modell Niedersachsen“ ist in etwa das, was in
Nordrhein-Westfalen als „Eva“
(entlastende Versorgungsassis-
3
tentin) oder im Osten als
„Schwester Agnes“ firmiert:
Arzthelferinnen übernehmen
in unterversorgten Gebieten
für ihren Arzt Hausbesuche,
Impfungen oder die Betreuung
chronisch Kranker. In Ostdeutschland sind die mobilen
Praxisassistentinnen über den
Modellversuch längst hinaus
und bereits Bestandteil der
Regelversorgung.
Hilfe holen sich ostdeutsche
Kommunen oft auch aus dem
Ausland. Besonders beliebt:
Ärzte aus Österreich, wo es
eigenartigerweise keinen Medizinermangel zu geben scheint.
Nach Expertenmeinung müsste
das Fach Allgemeinmedizin beim
Studium an deutschen Universitäten eine viel stärkere Rolle
spielen. Und statt Interessenten
mit rigorosem Numerus Clausus
abzuschrecken, könnten Studienplätze auch nach regionalen Aspekten vergeben werden. Wer
sich verpflichtet, später in einer
unterversorgten Region zu praktizieren, könnte zudem ein
Stipendium erhalten oder von
Studiengebühren befreit werden.
Finanzielle Anreize allein
locken niemanden
Ideen gibt es viele, das ist auch
ein Ausdruck von Hilflosigkeit.
Allein auf finanzielle Anreize zu
setzen, bringe jedenfalls wenig,
weiß Haffke. Weit wichtiger sei
es, jungen Ärzten Perspektiven
zu eröffnen und ihnen auch etwas in Aussicht zu stellen, was
neudeutsch mit „Life-WorkBalance“ umschrieben wird.
Hier allerdings stoßen die Lockangebote spätestens an ihre
Grenze. So einladend sich
manche ländliche Kommune
den Medizinern aus Ballungsgebieten präsentieren möchte – die
Garantie für einen entspannten
Job kann sie kaum übernehmen.
Rainer Woratschka
ist Redakteur im
Parlamentsbüro
des Berliner Tagesspiegel
MDK-Forum 3/2009
Schwerpunkt
Hausärzte auf dem Land
„Wir leisten Sozialarbeit“
Von Friederike Geisler
V
iele Sonderschichten, Hausbesuche nach Dienstschluss,
das Leben auf dem Land und
ein möglicherweise attraktiverer Job in der Klinik: Das sind
die Hauptgründe, warum viele
Praxen in ländlichen Regionen
Schwierigkeiten haben, einen
Nachfolger zu finden. Der Allgemeinmediziner Dr. Gernot
Hoffheinz aus dem niedersächsischen Uelzen muss sich darüber keine Sorgen machen – im
kommenden Jahr wird ein Kollege seine Praxis übernehmen.
Auch Maren Fritzsche aus Sachsen plant, sich nach ihrem
Studium in einer unterdurchschnittlich versorgten Region
niederzulassen. Im Gegenzug
wird sie dafür unter anderem
von der Kassenärztlichen Vereinigung während ihres Studiums
unterstützt.
Der Poststapel liegt schon bereit
auf dem Wohnzimmertisch –
gleich neben der Lesebrille und
der aktuellen Fernsehzeitung.
Irmgard Hövermann ist vorbereitet auf den Besuch vom „Doktor“.
Neben der Blutdruckmessung
und der allgemeinen Kontrolle
des Gesundheitszustandes, gehört
es hin und wieder auch zu den
„Aufgaben“ des Allgemeinmediziners Daniel Hagelstein, seinen
Patienten mit Formularen und
Anträgen zu helfen. Wenn noch
etwas Zeit bleibt, kommen beim
Hausbesuch auch Themen wie
die Reise der Schwiegertochter
oder die anstehende Geburtstagsfeier auf den Tisch. „Ich versuche
mir immer etwas Zeit zu nehmen
für die Hausbesuche. Gerade die
älteren Patienten freuen sich,
wenn jemand kommt und sie
nicht einfach nur abfertigt“, sagt
Hagelstein. Demnächst wird er
MDK-Forum 3/2009
„On the road again“: Als Landarzt tingelt Daniel Hagelstein durch die
Dörfer im Kreis Uelzen.
die „Landarztpraxis“ von Dr.
Gernot Hoffheinz in Uelzen übernehmen. Mit seinen 35 Jahren
zieht Hagelstein den Altersdurchschnitt der Hausärzte auf dem
Land und auch in der Region
Uelzen deutlich herunter.
Klinik versus Praxis
Nach dem Studium war für ihn –
entgegen dem Trend – die Arbeit
in einer Klinik nicht so reizvoll
wie die Niederlassung als Allgemeinmediziner in einer ländlichen Region: „Gerade mit Familie ist man als Arzt in der Praxis
besser aufgehoben als im Krankenhaus. Zwar muss man auch
schon mal die eine oder andere
Sonderschicht einlegen, aber
man hat weniger Wochenendund Nachtdienste.“ Auch die
Hausbesuche stellen für Daniel
Hagelstein keine große Belastung
dar. „Jetzt, da wir in der Praxis
noch zu zweit sind, können wir
viele Hausbesuche machen.
Allein wird es schon etwas
schwieriger. Die Patienten sind
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jedoch sehr dankbar, dass wir sie
zu Hause aufsuchen. Viele hätten
ja gar keine Möglichkeit, in die
Praxis zu kommen.“
Zum Jahreswechsel wird Hagelstein dann die Praxis von seinem Kollegen übernehmen. In
vielen anderen Uelzener Praxen
sieht das anders aus. „Auch diese Region wird vom Ärztemangel nicht verschont bleiben, zurzeit sieht es noch einigermaßen
gut aus, aber lange wird es nicht
mehr dauern, bis die Versorgung
in der einen oder anderen Region gefährdet ist.“
Warum es so wenige Jungmediziner in eine ländliche Hausarztpraxis zieht, kann sich der
Uelzener denken. „Was wir hier
leisten ist auch ein Stück weit
Sozialarbeit. Hinzu kommt,
dass das Fach Allgemeinmedizin im Studium lange nicht so
intensiv behandelt wurde wie
andere Fachrichtungen. Es wurde den Studenten auch nicht
schmackhaft gemacht.“
Schwerpunkt
Prämie für Niederlassung
Besonders vom drohenden
Ärztemangel betroffen sind die
neuen Bundesländer. So sind in
Sachsen mittlerweile mehr als
ein Viertel der Allgemeinmediziner über 60 Jahre alt. In absehbarer Zeit werden sie sich zur
Ruhe setzen – doch wer will ihre
Arbeit fortführen? Viele Praxen
in ländlichen Regionen haben
Probleme, einen Nachfolger
zu finden. Deshalb startete das
Land Sachsen eine Initiative, um
Medizinstudenten die Niederlassung in dieser Region schmackhaft zu machen. Ins Leben gerufen wurde das Programm
„Studienbeihilfe“ von Krankenkassen, der Kassenärztlichen
Vereinigung (KV) Sachsen und
dem Sächsischen Staatsministerium für Soziales zum 1. Oktober
2008. Teilnehmen können Medizinstudenten aus ganz Deutschland ab dem dritten Studienjahr.
Sie erhalten während ihres Studiums eine finanzielle Unterstützung von 300 Euro pro Monat
im ersten Jahr, die sich auf bis zu
600 Euro erhöht. Begrenzt ist die
Förderung auf maximal 48 Monate. Im Gegenzug verpflichten
sich die so Geförderten, im Anschluss an ihr Studium vier Jahre
in einer unterdurchschnittlich
versorgten Region Sachsens als
Hausarzt zu arbeiten. Schon
während des Studiums erhalten
die angehenden Mediziner Einblick in die Arbeit eines Landarztes, in dem sie erste Erfahrungen in einer sogenannten Patenpraxis sammeln. „Wenn man
gegen eine ambulante medizinische Unterversorgung in ländlichen Gebieten vorgehen will,
muss man eine langfristige Lösung finden, deshalb setzt das
Programm schon bei den Studenten an“, sagt Dr. Ingo Mohn
von der KV Sachsen.
„Der Patient wird nicht als
‚Organ‘ angesehen“
50 Studierende werden maximal
in das Förderprogramm aufgenommen. 18 Studenten haben
inzwischen den Vertrag bei der
KV unterschrieben. Eine von
Was die Bundesländer gegen den Ärztemangel tun
Nicht nur in Sachsen, auch in anderen Bundesländern, wird überlegt, wie
man die medizinische Versorgung auf dem Land sichern könnte. So plant
zum Beispiel die KV Niedersachsen eine Studienförderung für Medizinstudenten, die sich nach ihrer Ausbildung in einer unterversorgten Region
niederlassen wollen.
In Nordrhein-Westfalen will man gegen den Hausärztemangel mit Hilfe
des Zulassungsverfahrens beim Medizinstudium angehen. Mit einem
1,5 Millionen teuren Maßnahmenpaket zur Förderung von Niederlassungen
in schlecht versorgten ländlichen Gebieten, will die Landesregierung mehr
Medizinstudenten von der Arbeit als Landarzt überzeugen. Das Zulassungsverfahren soll so geändert werden, dass auch Abiturienten mit weniger
guten Noten eine Chance auf einen Studienplatz haben. Auf diese Weise
könnte neben der Abiturnote auch berücksichtigt werden, ob der Bewerber
plant, sich nach dem Studium als Hausarzt niederzulassen.
Mithilfe einer Stiftung will Thüringen gegen die Mangelversorgung angehen. Dort unterzeichneten Gesundheitsministerium und Kassenärztliche Vereinigung einen Vertrag über 170.000 Euro. Das Geld soll unter anderem für
Absolventen-Stipendien verwendet werden. Studenten, die die Unterstützung erhalten, sollen sich im Gegenzug dazu verpflichten, für einen bestimmten Zeitraum in Thüringen als Allgemeinmediziner zu arbeiten.
5
ihnen ist Maren Fritzsche. Die
25-Jährige studiert im zehnten
Semester an der TU Dresden.
Für sie war nicht nur der finanzielle Vorteil ausschlaggebend,
als sie sich um die Studienförderung beworben hat. „Ich habe
schon während meines Praktikums im Krankenhaus gemerkt,
dass diese Arbeit mir nicht unbedingt zusagt“, berichtet die Medizinstudentin. „Der Umgang mit
den Patienten in der Klinik ist oft
sehr unpersönlich. In der Hausarztpraxis hingegen herrscht eine
ganz andere Atmosphäre: Der
Kontakt zu den Patienten ist viel
intensiver, man erhält ein umfassenderes Bild von den Menschen. Hier spielen besonders die
Hausbesuche eine große Rolle.“
Doch viele ihrer Kollegen befürchten einen hohen Arbeitsaufwand in einer ländlichen Praxis,
da das Einzugsgebiet meist sehr
weitläufig ist. Außerdem kann
man als Mediziner an anderer
Stelle oft mehr Geld verdienen.
Maren Fritzsche bringen solche
Aussichten jedoch nicht von
ihrem Wunsch ab, sich auf dem
Land niederzulassen. „Ich sehe
an den Ärzten in meiner Patenpraxis, dass man mit einer positiven Einstellung das Tagespensum
bewältigen kann. Außerdem
kann man im Krankenhaus auch
einen stressigen Arbeitsalltag
haben.“ Die Entscheidung für die
Allgemeinmedizin, fiel der angehenden Ärztin nicht schwer.
„Man hat so einen Blick auf die
gesamte Person und sieht den
Patienten nicht bloß als ein bestimmtes Organ. Bei der Allgemeinmedizin kommt es darauf
an, sich einen Überblick zu verschaffen, um den Patienten eventuell weiter verweisen zu können.“
Details zur Studienförderung:
www.kvs-sachsen.de
Friederike Geisler ist
Mitarbeiterin der Stabsstelle
Unternehmenskommunikation
beim MDK Niedersachsen
E-Mail:
[email protected]
MDK-Forum 3/2009
Schwerpunkt
„Die Rollenverteilung zwischen den
Berufen muss neu diskutiert werden!“
Interview mit Prof. Dr. Norbert Schmacke, Universität Bremen
Sie für die drohende Versorgungslücke vor allem in strukturschwachen Regionen, die
vielerorts schon Realität ist?
Prof. Dr. Norbert Schmacke leitet die
Arbeits- und Koordinierungsstelle
Gesundheitsversorgungsforschung
der Universität Bremen
?
MDK-Forum: Hinter dem
Schlagwort vom Ärztemangel
verbirgt sich ja die Annahme,
dass die Dichte der Versorgung
mit Ärzten und Krankenhäusern
ein unmittelbarer Gradmesser für
die Qualität der Versorgung sei.
Teilen Sie diese Auffassung?
!
Prof. Norbert Schmacke:
Auf den ersten Blick wirkt das
plausibel, weil die Erreichbarkeit
von Arztpraxen und Krankenhäusern natürlich wichtig ist. Es gibt
aber keine guten Untersuchungen
in Deutschland zu der Frage „kritischer“ Entfernungen. Die Bedarfsplanung im vertragsärztlichen
Bereich ist überwiegend historisch
gewachsen. Dann werden die
bestehenden Planungszahlen fortgeschrieben, und zum Teil resultiert daraus dann eine Zunahme
der Überversorgung in schon gut
versorgten Gebieten, während
man an die wirklichen Versorgungsprobleme nicht herankommt.
?
MDK-Forum: Hier Ärztemangel – dort demografischer
Wandel: Welche Lösung sehen
MDK-Forum 3/2009
! Prof. Norbert Schmacke:
Es geht sicher zum einen darum,
junge Mediziner und Medizinerinnen zu motivieren, sich für die
hausärztliche Tätigkeit zu interessieren. Und zum anderen ist es
nötig, die Rollenverteilung zwischen den Fachberufen neu zu
diskutieren. Und hierfür brauchen
wir über das AGNeS-Modell
hinausgehende gut evaluierte
Versuche vor allem zur Rolle der
ambulanten Pflege. Drittens ist
die Regelung der Notarztdienste
wichtig. Und weiter lässt sich
durch den Einsatz von Telemedizin auch deutlich mehr erreichen
als heute. Man muss aber m. E.
auch sehen, dass es nicht gelingen
wird, die medizinische Versorgung
in strukturschwachen Regionen
isoliert auf ein wie immer definiertes optimales Niveau anzuheben,
wenn sich die wirtschaftliche und
soziale Gesamtsituation nicht
bessert. Es geht also schon um
Grundfragen von sozialer Ungleichheit, die jetzt vielleicht erstmals breiter diskutiert werden.
? MDK-Forum: Apropos
Telemedizin: Welche Rolle spielt
sie in Zukunft für neue Formen
der Zusammenarbeit?
! Prof. Norbert Schmacke:
Kommende Generationen werden sich wundern, wie zögerlich
wir – vor allem unter dem Vorwand des Datenschutzes – heute
mit elektronischen Informationsmedien umgehen. Aber es gibt
sicher auch hier noch Entwicklungsbedarf, wenn ich z.B. an
das Wissensmanagement der
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Gesundheitsfachberufe denke:
Es ist klar, dass hier sowohl in
Richtung Evidenzbasierung wie
Erwachsenenpädagogik noch
viel zu tun ist. Die Debatte um
die Gesundheitskarte etwa auf
dem Deutschen Ärztetag ist
trotzdem ein trauriges Spiegelbild des Diskussionsniveaus. Wir
verlieren hier unnötig Zeit; und
der „gläserne Patient“ wird eindeutig als Abwehr-Figur missbraucht. Datenschutzprobleme
muss und kann man lösen; und
es sage keiner, in der Ära der papierenen Dokumentation habe es
keine Probleme hiermit gegeben.
? MDK-Forum: Entstehen
vielleicht auch neue Berufsfelder
zwischen heutiger Ärzteschaft
und den klassischen Pflegeberufen?
!
Prof. Norbert Schmacke:
Das halte ich für sehr wahscheinlich und denke dabei vor allem
an das Case Management und an
die Beratung chronisch Kranker.
Wir müssten die Diskussion ja eigentlich ganz anders aufzäumen,
nämlich von der Frage ausgehend: welche Bedürfnisse haben
Patienten und Patientinnen? Und
dann Überlegungen anschließen,
welche Kompetenzen gefragt
sind, um darauf angemessen
reagieren zu können. Insofern
glaube ich, dass sich sowohl der
Arztberuf wie der Pflegeberuf
weiterentwickeln werden und
„dazwischen“ auch neue Berufsbilder entstehen können. Ich finde z.B., dass wir weit davon entfernt sind, eine Antwort auf die
Frage zu haben, wer multimorbide alte Menschen und ihre Angehörigen angesichts der Polypragmasie und des Riesen„angebots“
von Behandlungsangeboten
Schwerpunkt
seriös beraten kann. Die herkömmliche Arztpraxis oder die
AGNeS-Pflegekraft kann das
sicher nicht leisten. Insofern ist es
besonders wichtig, die Forschung
zum Chronic Care Modell zu
verbreitern und zu vertiefen.
Sonst bleibt es beim Reden vom
demografischen Wandel.
?
MDK-Forum: Was muss
geschehen, um zuverlässige
Rahmenbedingungen für eine
stärkere Autonomisierung von
nicht-ärztlichen Gesundheitsberufen zu schaffen?
! Prof. Norbert Schmacke:
Ich sehe zwei Hauptrichtungen:
zunächst gilt es, rechtliche Sicherheit zu schaffen, wo heute
bereits nicht-ärztliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter quasiärztliche Aufgaben ausüben und
nicht ausreichend geschätzt
sind. Und dann brauchen wir
ein gestuftes Forschungs- und
Entwicklungsprogramm, das uns
aus vielen Spekulationen heraushelfen muss, wie weit welche
Berufsgruppe sinnvollerweise
ärztliche Aufgaben übernehmen
kann und soll. Auf der einen
Seite sehe ich große Ängste in
der Ärzteschaft, dass dem Arztberuf Kernkompetenzen streitig
gemacht werden könnten.Auf
der anderen Seite sehe ich eine
übergroße Erwartung in der
Politik, Versorgungsprobleme
kurzfristig durch Verlagerung
von Zuständigkeiten lösen zu
können. Bei der Pflege kann es
aber z.B. nicht darum gehen,
dass sie den kostengünstigen
Libero für vakante Arztstellen
spielt und im übrigen die Professionalisierung ihrer eigenen
Kernaufgaben auf der Strecke
bleibt. Die Diskussion hat gerade erst begonnen, siehe auch
das ausführliche Gutachten des
Sachverständigenrats.
? MDK-Forum: Ist eine
Akademisierung der Pflege und
anderer Gesundheitsberufe
notwendig?
!
Prof. Norbert Schmacke:
Keine Frage! Die internationale
Forschung zeigt unisono auf, dass
ein Mitbestimmen auf gleicher
Augenhöhe nur funktioniert,
wenn der Status stimmt. Das
klingt platt, ist aber so. Die Ärzte
sollten nicht so ängstlich sein, was
diese Trends anbelangt. Ihr Ansehen sehe ich überhaupt nicht gefährdet. Das wird aber ein weiter
Weg werden, weil wir gerade in
Deutschland mit seiner überdurchschnittlich hohen Arztdichte und einer verfestigten Delegationskultur noch gar nicht die
Fantasie freisetzen können, um
uns unvoreingenommen mit diesen Fragen auseinanderzusetzen.
?
MDK-Forum: In manchen
Regionen ist die medizinischpflegerische Versorgung heute
bereits stark ausgedünnt. Wie
kann das Interesse an einer
Tätigkeit in diesen Regionen
geweckt bzw. gestärkt werden?
! Prof. Norbert Schmacke:
Es gibt leider keine Patentrezepte.
Aber die Privilegierung von
Literaturtipps
Norbert Schmacke,
Ärztemangel: Viele Fragen werden noch nicht diskutiert.
In: G+G Wissenschaft 3/2006 (Juli), 6. Jg., S. 18-25
Heidi Niehus, Bettina Berger, Maren Stamer, Norbert Schmacke,
Die Sicherung der hausärztlichen Versorgung in der Perspektive des
ärztlichen Nachwuchses und niedergelassener Hausärztinnen und
Hausärzte. Abschlussbericht 2008
http://www.akg.uni-bremen.de/pages/arbeitspapiere.php?SPRACHE=de
7
Bewerbern aus strukturschwachen Regionen und frühzeitiger
Praxisbezug ebenso wie verlässliches Mentoring während der
Aus- und Weiterbildung sind
bewährte Ansätze. Dann muss die
Gesamtstruktur der Weiterbildung in der Allgemeinmedizin
endlich modernisiert werden. Am
schwierigsten ist aber vermutlich
die Erhöhung der Wertschätzung
für die nicht-spezialistische Medizin. Es ist bewundernswert, wie
sich die Deutsche Gesellschaft für
Allgemeinmedizin in den letzten
zehn Jahren aufgemacht hat, den
verloren gegangenen Anschluss
an die internationale Diskussion
wieder herzustellen. Bei den
medizinischen Fakultäten sehe
ich aber – mit rühmlichen Ausnahmen – noch keine große Entschlossenheit, der Allgemeinmedizin zu der notwendigen Aufmerksamkeit zu verhelfen. Und
last but not least geht es um eine
neue Vereinbarkeit von beruflichen und privaten Interessen.
Das Thema ist ganz offenbar auch
in der nachwachsenden Medizinergeneration angekommen.
? MDK-Forum: Manche
Landesregierungen versuchen,
durch besondere Förderprogramme Studierende für die Provinz
zu interessieren. Wie beurteilen
Sie diese politischen Aktivitäten?
! Prof. Norbert Schmacke:
Ich finde es gut, dass überhaupt
etwas passiert und dass die
Politik sich engagiert. Es wäre
wünschenswert, wenn sich
Wissenschaftler, KVen, Ärztekammern, Kassen und Politiker
mehr miteinander darüber unterhalten würden, wie aus den
Einzelaktivitäten ein gut begründetes und nach Möglichkeit
auch evaluierbares Programm
werden könnte. Man sollte auch
noch einmal genau überlegen,
ob die heute getätigten Investitionen in die Förderung der
Allgemeinmedizin effizient
eingesetzt werden.
Die Fragen stellte
Christiane Grote
MDK-Forum 3/2009
Schwerpunkt
Krankenschwestern und Arzthelferinnen
mit Zusatzqualifikation
„Schwester Gundi“ auf Hausbesuch
Von Friederike Geisler
S
ie heißen AGnES, VERAH,
MoPra oder auch HELVER
– Schwestern oder Arzthelferinnen mit Zusatzausbildung
gibt es mittlerweile in allen
möglichen Ausprägungen. Wie
die „Gemeindeschwester“ in
der ehemaligen DDR übernehmen sie im Auftrag des Arztes
medizinische und betreuende
Aufgaben, meist im Rahmen
von Hausbesuchen bei älteren
oder chronisch kranken Patienten. Dabei werden die Fachkräfte schon längst nicht mehr
nur in den neuen Bundesländern, sondern auch zunehmend im Westen eingesetzt.
Der Ärztemangel kann damit
zwar nicht beseitigt werden,
jedoch sind die speziell ausgebildeten Fachkräfte bei Ärzten
und Patienten sehr beliebt und
in vielen Regionen bereits unverzichtbar geworden.
In ihrem kleinen roten Fiat
braust Friedegund Ohlendorf
an der Elbe entlang. Vorbei an
grasenden Kühen und nach
Dünger müffelnden Feldern
geht es zum nächsten Patienten.
Friedegund Ohlendorf alias
„Schwester Gundi“ ist schon
lange keine gewöhnliche Krankenschwester mehr. Nach zahlreichen Zusatzausbildungen, wie
zum Beispiel des Studiums der
Pflegepädagogik, hat sie, zusammen mit der Allgemeinärztin
Christiane Klünder aus Neuhaus
an der Oste und der AOK, das
Pilotprojekt „Betreuungsschwester“ in Niedersachsen initiiert.
Angelehnt an das „AGnES“-Konzept der Universität Greifswald
entlastet Friedegund Ohlendorf
die Ärzte der Region, indem sie
selbst Hausbesuche übernimmt.
Dabei gehen ihre Aufgaben weit
über Blutdruckmessen und Blutentnahme hinaus. „Ich habe den
großen Vorteil, dass ich mir bei
den Besuchen Zeit nehmen und
die Patienten auch psychosozial
betreuen kann. Besonders bei Älteren ist das wichtig, da viele mit
ihren Beschwerden gar nicht zum
Arzt gehen oder keine Hilfe in
Anspruch nehmen.“
Enge Zusammenarbeit
ist wichtig
Im Gegensatz zum Hausarzt kann sich
Friedegund Ohlendorf (li.) Zeit nehmen, um
ihre Patienten besser kennen zu lernen.
MDK-Forum 3/2009
„Schwester Gundi“ spricht auch
mit den Angehörigen über die Betreuung der Patienten, koordiniert
Arztbesuche und kontrolliert, ob
der Patient medizinisch und pflegerisch ausreichend betreut ist.
Die klassische Pflege ist jedoch
weiterhin Aufgabe der Pflegedienste. Damit die Fachkraft
überhaupt tätig sein kann, ist
8
eine enge Zusammenarbeit und
Absprache mit dem jeweiligen
Hausarzt von großer Bedeutung.
Christiane Klünder ist mit der
Arbeit der Betreuungsschwester
sehr zufrieden. „Durch ihre
Hausbesuche können wir die
Patienten auch in den eigenen
vier Wänden optimal betreuen.
So konnten wir zum Beispiel vor
kurzem einen Patienten zwei
Wochen früher aus dem Krankenhaus holen. Zu Hause bei seiner
Frau ist er viel schneller genesen.“
„Schwester AGnES“
aus Greifswald
Vorbild des niedersächsischen Pilotprojektes ist das seit vier Jahren
bestehende Modellprojekt AGnES (Arztentlastende, Gemeindenahe, E-Health-gestützte, Systemische Intervention). Das Projekt
wurde 2005 vom Institut für
Community Medicine der Universität Greifswald entwickelt und
seither wissenschaftlich begleitet.
Inspiriert von der Kultfigur der
„Gemeindeschwester Agnes“ aus
den DDR-Filmen geht es bei deren moderner Weiterentwicklung
aber um eine speziell qualifizierte
Mitarbeiterin, die beim Arzt
angestellt ist und im Auftrag des
Arztes beispielsweise Hausbesuche macht. Insgesamt sieben
Praxisprojekte wurden zwischen
2005 und 2008 in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen und
Sachsen-Anhalt durchgeführt.
Um die Qualität der AGnESFachkraft sicherzustellen,
hat die Uni Greifswald ein umfassendes Ausbildungs-Konzept entwickelt. Ursprünglich
beinhaltete das Curriculum 622
Schwerpunkt
Theorie- sowie 200 Praxis-Stunden, in denen sich die Pflegekraft
oder Arzthelferin unter anderem
in den Bereichen Medizin, Pathologie, Medikation und Telemedizin fortbildet. Mittlerweile
beträgt die Qualifizierung nur
noch maximal 270 Stunden.
Ohne Zusatzqualifikation und
eine umfassende Überwachung
durch den Hausarzt darf die
„AGnES“ nicht tätig werden, da
sie sich die meiste Zeit außerhalb
der Praxis auf Hausbesuchen befindet. In den meisten Fällen findet die Kontrolle durch Übergabegespräche mit den Ärzten statt.
In kritischen Fällen verständigt
die Fachkraft den zuständigen
Arzt spontan per Handy oder
Videokonferenz. Eine juristische
Prüfung gab grünes Licht für
AGnES. „Mit dem Modell AGnES ist der Hausarzt auch haftungsrechtlich auf der sicheren
Seite“, sagt Prof. Wolfgang von
der Universität Greifswalde.
Wissenschaftliche Evaluation
Um die Effizienz der Fachkräfte
zu messen, begleitet das Institut
für Community Medicine der
Uni Greifswald die Arbeit der
Teilnehmerinnen. Im Zeitraum
von 2005 bis 2008 machten die
insgesamt 38 AGnES-Fachkräfte
(32 Pflegefachkräfte und 6 Arzthelferinnen) etwa 9.000 Hausbesuche bei über 1.400 Patienten.
Über 90 Prozent der Patienten
sind nicht oder nur eingeschränkt
mobil und nicht in der Lage eine
Hausarztpraxis zu besuchen.
In der Hälfte der Fälle geht es
zum Beispiel darum, den Blutdruck, Blutzucker oder Puls der
Patienten zu messen oder ein
EKG durchzuführen. Ein weiterer Teil der Einsätze besteht darin, den körperlichen und psychischen Gesundheitszustand der
Patienten zu beurteilen. Diagnostische und therapeutische
Entscheidungen sowie die häusliche Grund- und Behandlungspflege gehören nicht zu den Aufgaben der AGnES-Fachkräfte.
Die wissenschaftliche Analyse
belegte den Erfolg der Modellprojekte. Zudem stellten die
Wissenschaftler eine hohe Zufriedenheit der Hausärzte und
Patienten fest. „Natürlich kann
eine ‚AGnES‘ den Hausarzt
nicht ersetzen, aber ohne sie
würden einige Hausbesuche
ganz wegfallen“, sagt Prof. Hoffmann. Aufgrund des Erfolgs
setzt er sich dafür ein, diese
neue Versorgungsform in der
Regelversorgung abzusichern.
„HELVERinnen“ im Norden
Auch die Ärztekammer Schleswig-Holstein (wie auch weitere
Ärztekammern in Deutschland)
will gegen den zunehmenden
Ärztemangel auf dem Land angehen und bietet eine Zusatzqualifikation für Arzthelferinnen
an. Unter dem Titel „HELVER –
ArztHELferinnen in der ambulanten VERsorgung“ unterstützen die Bundesärztekammer
(BÄK) und das Gesundheitsministerium in Schleswig Holstein die erste Ausbildungsrunde
für bisher 47 Teilnehmerinnen.
Die Absolventinnen sollen anschließend die Ärzte in ihren
Praxen entlasten, indem sie Hausbesuche – insbesondere bei älteren und chronisch kranken Patienten – vornehmen.
„Während der Fortbildung haben
wir festgestellt, dass die Teilnehmerinnen auch vorher schon
Hausbesuche übernommen haben. Oft ging die Initiative sogar
vorrangig von den Arzthelferinnen aus“, berichtet Dr. Cordelia
Andreßen, Hauptgeschäftsführerin der Ärztekammer SchleswigHolstein. Evaluiert wird das Projekt vom Wissenschaftlichen
Institut der Ärzte Deutschlands
(WIAD) mit Förderung der BÄK.
Bei der Evaluation soll unter anderem die Effizienz und die Zufriedenheit der Patienten sowie
der Ärzte und Arzthelferinnen
ermittelt werden. Um an der 84
Stunden umfassenden Fortbildung teilnehmen zu können,
muss die Praxisassistentin schon
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mindestens drei Jahre im Beruf
sein. Themen der Seminare sind
„Patientenbegleitung und Koordination“ und „Ambulante Versorgung älterer Menschen“. Bei den
Hausbesuchen übernehmen die
„HELVERinnen“ unter anderem
die Medi-kamentenkontrolle, die
Durchführung einfacher RoutineDiagnostikmaßnahmen, soziale
Beratungen oder die Brückenfunktion zur häuslichen Krankenpflege.
VERAH: Bundesweite
Fortbildung
Ähnlich wie AGnES und
HELVER bietet auch das Institut für hausärztliche Fortbildung im Deutschen Hausärzteverband (IhF) eine Fortbildung
für Praxismitarbeiterinnen an.
Die „Versorgungsassistentin in
der Hausarztpraxis“, kurz VERAH ist eine 200 Stunden umfassende Zusatzqualifikation. Die
Teilnehmerinnen werden unter
anderem auf den Gebieten des
Case-, Präventions-, Gesundheits-, Praxis- und WundManagements fortgebildet.
„Das Curriculum wurde von
Hausärzten und Arzthelferinnen entwickelt und ist deshalb
für die Praxis besonders geeignet“, erklärt Dipl.-Päd. Jana
Gorge vom IhF. Zwar sind die
VERAHs nicht speziell in unterversorgten Gebieten eingesetzt,
jedoch bieten auch sie eine Entlastung der Ärzte, indem sie,
vorrangig bei chronisch kranken
oder multimorbiden Patienten,
Hausbesuche vornehmen.
Bis Ende September werden
insgesamt 424 abgeschlossene
VERAHs in Hausarztpraxen in
ganz Deutschland tätig sein. Bei
den Kosten für die Fortbildung
springen in einigen Fällen die
Bundesländer ein.
Friederike Geisler ist
Mitarbeiterin der Stabsstelle
Unternehmenskommunikation
beim MDK Niedersachsen
E-Mail:
[email protected]
MDK-Forum 3/2009
Schwerpunkt
„Die Tätigkeit als Landarzt muss
im Studium erlebbar werden!“
Interview mit Patrick Weinmann, dem Vorsitzenden
des Sprecherrats der Medizinstudenten im Marburger Bund
? MDK-Forum: Herr Weinmann, nach Zahlen der Bundesärztekammer entscheidet sich
etwa ein Fünftel der Medizinabsolventen für eine nicht-kurative Tätigkeit. Wie ist die Stimmung unter den Studierenden?
! Patrick Weinmann: Die
Stimmung unter den Studierenden ist sehr gut. Die Kommilitonen beginnen ihr Studium motiviert und mit sehr viel Idealismus.
Beides hält über viele Semester
an. Im Studienverlauf, vor allem
im „Praktischen Jahr“, gibt es allerdings einen sehr deutlichen
Knick. Viele machen die Erfahrung, dass sie von Universitätskliniken und akademischen Lehrkrankenhäusern in praktischen
Ausbildungsphasen als billige
Arbeitskräfte für Routinetätigkeiten ausgenutzt werden. Zudem
wird in dieser Studienphase
deutlich, dass sich der Arztberuf
in den vergangenen Jahren vom
Patientenbett an den Schreibtisch verlagert hat. Der Dokumentationsaufwand ist einfach
schlichter Wahnsinn. Diese
Umstände frustrieren und führen
maßgeblich dazu, dass sich ca. 20
Prozent für eine nicht-kurative
Tätigkeit entscheiden. Ein nicht
unerheblicher Teil tritt die Flucht
ins Ausland an.
? MDK-Forum: Was hält junge Ärztinnen und Ärzte ab, sich
in strukturschwachen Regionen
niederzulassen?
! Patrick Weinmann: Im
Studium wird über zwölf Semester lang universitäre Hochleistungsmedizin gelernt. Die findet
in der Regel nicht auf dem Land
statt, sondern in Ballungsgebieten.
MDK-Forum 3/2009
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Wer mehr als sechs Jahre in einer Universitätsstadt mit
großen kulturellen und sozialen
Angeboten gelebt hat, dem sind
die Reize des ländlichen Lebens
fremd geworden. Bei den heutigen Qualitätsstandards spricht
überhaupt nichts dagegen, Teile
der Ausbildung an Kliniken in
ländlichen Regionen stattfinden
zu lassen. Wegen wegfallender
Fördermittel haben die Universitäten daran aber kein Interesse.
Vordergründig wir immer mit
der Einheit von Forschung und
Lehre argumentiert. Ein Spitzenforscher ist allerdings noch lange
kein guter Lehrer sowie ein guter Lehrer kein Spitzenforscher
sein muss. Im Kern geht es vor
allem ums Geld.
?
MDK-Forum: In Sachsen
gibt es für Medizinstudierende,
die sich für eine hausärztliche
Tätigkeit in ländlichen Regionen
interessieren, ein spezielles Förderprogramm. Sind solche Instrumente geeignet, mehr Mediziner in die Provinz zu bringen?
! Patrick Weinmann: Im
Studienverlauf, in dem das Förderprogramm finanziell interessant für die Kommilitonen ist,
kann der persönliche und berufliche Lebensweg nur schwer
geplant werden. Aus der finanziellen Bedürftigkeit heraus werden Kommilitonen da in eine Abhängigkeit getrieben, die sie nur
bedingt planen können. Ich fände
Programme besser, welche die Attraktivität der landärztlichen Tätigkeit so klar herausstellen, dass
Kommilitonen sich aus voller
Überzeugung später freiwillig
dazu entscheiden. Dazu muss
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Patrick Weinmann
diese Tätigkeit im Studium erlebbar gemacht werden und mit positiven Eindrücken verknüpft sein.
? MDK-Forum: Was muss sich
ändern, damit sich wieder mehr
Medizinabsolventen in ländlichen Regionen niederlassen?
! Patrick Weinmann: Es
muss die Einbeziehung ländlicher Kliniken und Praxen in
die ärztliche Ausbildung forciert
werden. Förderprogramme für
die vorlesungsfreie Zeit wären
sinnvoll wie beispielsweise geförderte Landarztfamulaturen
und Summerschools. Eine
transparente und flexible Facharztweiterbildung zum Allgemeinmediziner ohne finanzielle
Einbußen während der zweijährigen Weiterbildung im
niedergelassenen Bereich wären
wünschenswert sowie eine
Unterstützung und Beratung
bei der Praxisgründung. Nicht
zuletzt sollte Bürokratie abgebaut und die Aufmerksamkeit
wieder den Patienten gehören.
Die Fragen stellte
Christiane Grote