Editorial Präsident OA Dr. Christoph Reisner, MSc
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Editorial Präsident OA Dr. Christoph Reisner, MSc
Foto: Bernhard Noll PRÄSIDENT OA Dr. Christoph Reisner, MSc www.wahlarzt.at Ärztemangel Gerücht? Wahrheit? Katastrophe? Oder „eh alles in Ordnung“? Analyse Studium Ich möchte im Folgenden diesen Begriff einmal definieren und bewerten. Zunächst einmal zu den nackten Zahlen: Wir bilden in Österreich etwa doppelt so viele Ärztinnen und Ärzte aus wie der Schnitt der OECD-Länder. Wir haben auch eineinhalb mal so viele Ärztinnen und Ärzte wie der Schnitt dieser Länder. Und trotzdem gibt es „scheinbar“ einen Ärztemangel? Wie kann es sowas geben? Wir haben viele Studenten aus dem Ausland, die nach dem Medizinstudium wieder Österreich verlassen und in ihre Heimat zurückgehen. Gleichzeitig haben wir Zugangsbeschränkungen, die mit der ärztlichen Tätigkeit nichts zu tun haben. Länder wie Australien lösen das Problem, indem Studenten aus dem Ausland Studiengebühren von 7.000 Euro (siebentausend) pro Semester bezahlen, australische Staatsbürger erhalten diesen Betrag über das Steuersystem wieder refundiert. Das wäre ein positiver Ansatz, um österreichische Studenten zu fördern. Zum einen müssen wir zwischen „Ärztinnen und Ärzten in Österreich“ und „Ärztinnen und Ärzten im öffentlichen Gesundheitssystem“ differenzieren. Aus diesem Blickwinkel haben wir eindeutig einen „Ärztemangel“, nennen wir ihn einmal „strukturellen Ärztemangel“. Immer weniger Ärztinnen und Ärzte sind nämlich bereit, in unserem öffentlichen Gesundheitssystem zu arbeiten. Was machen diese stattdessen? Viele kommen in anderen Berufen unter. Viele davon haben bereits das Land verlassen, um irgendwo auf der Welt als Ärztin oder Arzt zu arbeiten, aber eben nicht in Österreich. Und bereits viele tausend arbeiten in ganz Österreich als Wahlärztinnen und Wahlärzte und füllen immer mehr einen Bereich aus, der von der Bevölkerung nachgefragt wird. Die Wahlärzteschaft ist mittlerweile versorgungsrelevant – ohne sie würde das System in noch kürzerer Zeit kollabieren als das unter den derzeitigen Bedingungen der Fall sein wird. Wie kommt es im Detail zum strukturellen Ärztemangel? Das Problem ist vielschichtig und multifaktoriell. Daher ist auch die Behebung des Problems, das sich in den nächsten zehn Jahren verschärfen wird, sehr schwierig, da nicht eine Person oder ein politisches Ressort dafür zuständig ist. Konkrete Probleme Aktuell sind in Niederösterreich drei Kassenstellen für Allgemeinmedizin nicht besetzbar. Es handelt sich dabei um Gmünd (Stelle seit 1.1.2015 unbesetzt), Puchenstuben (seit 1.1.2014 unbesetzt) und Obergrafendorf oder Weinburg (seit 1.4.2014 unbesetzt, Verträge nur NÖGKK). Facharztstellen sind im Regelfall gut nachbesetzbar, mit Ausnahme der neuen Kassenplanstelle für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Mistelbach, die seit 1.10.2014 nicht besetzt werden kann. Im Bereich der Notfallmedizin gibt es immer wieder Probleme alle Dienste flächendeckend zu besetzen. An einigen Abteilungen in den Landeskliniken denkt man über die Organisation der „turnusarztfreien“ Station nach. Bürokratische Hürden Viele Ärztinnen und Ärzte haben auch Probleme mit der Ausübung ihres Berufes in der gelebten Praxis. Sie fühlen sich in ihrer ärztlichen Tätigkeit behindert: Etwa mit einer Chefarztpflicht, wo der Chefarzt, der den Patienten nie sieht und über Medikamente entscheidet, die eine Fachabteilung verordnet hat. Im Spitalsbereich ist es nicht anders. Ein hoher Anteil der ärztlichen Arbeitszeit betrifft Bürokratie, es wäre wesentlich effizienter mehr Personal zur Dokumentation anzustellen, anstatt Ärztinnen und Ärzte damit zu belasten. Die nachfolgende Ärztegeneration lebt lieber in der Stadt. Die Lebensqualität hat einen höheren Stellenwert als das Einkommen. Auch im Bereich der Notärzte entstehen Besetzungsprobleme: Ein typischer Stressberuf, Nachtarbeit, enorme Verantwortung, daher gibt es zunehmend Probleme bei der Besetzung der Dienste. Im Bereich der Turnusärzte sind wir von weniger Studienabsolventen betroffen, die Ausbildungsqualität ist sehr unterschiedlich und ganz stark von der lokalen Situation (Pflege, Primarius, Ärzteteam) abhängig. Die Zufriedenheit mit der Ausbildung ist abgesehen von einigen sehr positiven Ausnahmen durchschnittlich bis schlecht. Frauenanteil, Änderung der Prioritäten Der Anteil der Frauen in der Medizin nimmt ständig zu. Aber sowohl Frauen wie Männer haben heute eine andere Auffassung vom Leben als noch vor einigen Jahrzehnten, der Spagat zwischen Beruf und Familie führt zu anderen Familienmodellen. Die Frau in der Ordination widmet sich auch Familie und Kindern, die dazugehörigen Ehemänner arbeiten nicht in den Ordinationen, sondern gehen eigenen Berufen nach. Männer wie Frauen haben vermehrt den Anspruch an eine vernünftige CONSILIUM 01+02/15 5 PRÄSIDENT Work-Life-Balance. Dafür wird auch in Kauf genommen, dass dieses Mehr an Freizeit mit weniger Einkommen verbunden ist. Den noch vor Jahrzehnten typischen Landarzt, der am Ort wohnt und dessen Ehefrau in der Ordination angestellt ist, gibt es kaum noch. Es besteht der eindeutige Wunsch unserer Ärztinnen und Ärzte nach einer klaren zeitlichen und oft auch örtlichen Trennung von Beruf und Freizeit. Alterskohorten 1400 Arbeitszeit für Angestellte/Arbeitsverdichtung Die Zahl der Spitalsärzte ist in den letzten Jahrzehnten massiv angestiegen. Die Arbeitsbedingungen haben sich in dieser Zeit aber auch deutlich verändert. Wir leben heute mit einer Arbeitsverdichtung, die es oft unmöglich macht 24 Stunden im Dienst zu verbringen. Vor allem in den großen Häusern sind rund um die Uhr Operationen angesetzt. Zusammen mit dem Arbeitszeitgesetz waren dies Neuerungen, die auch im Bereich der Planstellen eine Veränderung unumgänglich werden ließ. 1200 609 Wahlärzte im Gesundheitssystem 1000 Das öffentliche Gesundheitssystem ist immer weniger in der Lage die Bedürfnisse der Menschen zu 442 600 536 befriedigen. Das gilt sowohl für den 780 Bereich der Patientinnen und Pati400 346 63 582 enten in Bezug auf die Versorgung 539 427 378 200 als auch für die Ärztinnen und Ärzte 290 12 264 171 6 in Bezug auf die Arbeitsbedingun51 23 0 gen. 30 Prozent der Wahlärzte sind 00-30 31-35 36-40 41-45 46-50 51-55 56-60 61-65 66-70 71-99 mit ihren Arbeitsbedingungen sehr männlich weiblich zufrieden, neun Prozent der Spitalsärzte und nur sechs Prozent der KasDie Grafik zeigt deutlich die Verteilung von Männern und senärzte sind sehr zufrieden. Während nur zehn Prozent der Frauen in den unterschiedlichen Alterskohorten. Während bei Wahlärzte weniger oder gar nicht zufrieden sind, liegt dieser Proden älteren Ärztinnen und Ärzten überwiegend Männer zu fin- zentsatz in den beiden übrigen Gruppen bei 31 bis 41 Prozent. den sind, ist der Nachwuchs deutlich weiblicher. In Summe verschafft das Wahlärztinnen und Wahlärzten einen sehr guten Boden für ihre ärztliche Tätigkeit. Diese Wahlärztinnen und Wahlärzte sind jedoch auch ein Beweis dafür, dass dem Altersstruktur „Ärztemangel“ bisher unzureichend begegnet wird. Die DiskusDie Altersstruktur zeigt aber auch unverkennbar, dass die Anzahl sion wird nämlich häufig über die Themen Geld und Einkomder Ärztinnen und Ärzte, die in etwa acht bis zehn Jahren in men geführt, obwohl Wahlärztinnen und Wahlärzte im Schnitt Pension gehen werden (derzeit liegt das durchschnittliche Pensi- weniger Einkommen aus ihrer freiberuflichen Tätigkeit lukrieonsantrittsalter bei etwa 63 Jahren), durch keinen gleichwertigen ren als Ärztinnen und Ärzte aus dem Kassenbereich. Gut ein Nachschub ersetzt wird. Das heißt, dass die Anzeichen für einen Drittel aller Wahlärzte übt keine weitere medizinische Neben-/ Ärztemangel, die wir als Insider derzeit nur an einigen Stellen Hauptbeschäftigung aus. erkennen und für die Bevölkerung bislang nicht spürbar sind, in den nächsten Jahren erst schlagend werden. Wir befinden am Warum entscheidet man sich für die Tätigkeit als Wahlärztin Anfang einer Entwicklung, an deren Ende der spürbare Mangel oder Wahlarzt? Aus unseren Umfragen wissen wir, dass die mit stehen wird. Abstand meisten diese Entscheidung bewusst und freiwillig getroffen haben und auch keinerlei Interesse an Kassenverträgen haben. Der Schlüssel liegt in den Arbeitsbedingungen, die 800 6 CONSILIUM 01+02/15 572 609 293 PRÄSIDENT Mit der eigenen Lebenssituation ... 100% 4% 7% 90% 80% 4% 6% 27% 34% zum Wohl der Bevölkerung zu führen. Ein System sollte danach ausgerichtet sein eine wohnortnahe, preiswerte, patientenfreundliche Basisversorgung zu stärken. 70% Die Auswirkungen der Trennung der Finanzierung von extra- und intramuralem Bereich sind uns allen bekannt. 50% Wir Ärztinnen und Ärzte beobachten 40% 61% die derzeitige Gesundheitspolitik mit 53% 30% großer Sorge. Statt sinnvolle Reformen einzuläuten geschieht genau das 20% 29% Gegenteil. Bürokratie wird aufgebaut 10% statt reduziert. Öffentliche Diskussio9% 6% 0% nen über Wartelisten und Wartezeiten Spitalsärzte Kassenärzte Wahlärzte auf Operationen haben offensichtlich … sehr zufrieden … zufrieden … weniger zufrieden … gar nicht zufrieden das Ziel vom eigentlichen Kernthema abzulenken: Warum gibt es überhaupt mit den Lebensbedingungen eng verknüpft sind. Die Liste der monatelange Wartezeiten auf Standardoperationen in einem Verbesserungsvorschläge für das öffentliche Gesundheitssystem hochentwickelten Land wie Österreich? Es ist für eine Ärztin diesbezüglich ist nahezu unendlich. Einkommen, speziell im nie- oder einen Arzt ja generell schwierig, immer mehr als Mangelverdergelassenen Bereich ist hier nur ein Teil des Problems. walter eingesetzt zu werden anstatt Medizin machen zu dürfen. Und zusätzlich noch den Sprung in die Selbständigkeit zu wagen Planstellen im öffentlichen Gesundheitssystem - mit mehreren hunderttausend Euro Investition – kommt für immer weniger in Frage. Die bisherigen Ausführungen gehen davon aus, dass sich ein Ärztemangel auf die Anzahl der bestehenden Planstellen im Die Lösung öffentlichen Gesundheitssystem bezieht. Die Anzahl dieser Planstellen ist in den vergangenen Jahren nahezu explodiert. Es müssen Anreize geschaffen werden, um die Studienabgänger Geht man der Sache auf den Grund, stellt man nur eine ganz in Österreich zu halten. Wir brauchen Arbeits- und Lebensbemoderate Steigerung der Kassenstellen in Niederösterreich fest, dingungen sowohl im niedergelassenen Bereich wie im angestellobwohl die Bevölkerung stärker gewachsen ist. Die massive Stei- ten Bereich – egal in welchen Vertragsverhältnis - die uns Ärzgerung fand im Spitalsbereich statt, die Gründe dafür liegen auf tinnen und Ärzten nicht das Gefühl geben, dass wir in unserer der Hand und wurden bereits erwähnt. Wirft man hier einen Kerntätigkeit – der Arbeit mit dem kranken Menschen – behinBlick auf die Statistik, stellt man fest dass unser Spitalswesen im dert werden. internationalen Vergleich sehr zum Nachteil der Bevölkerung und der Finanzen überentwickelt ist, während der niedergelassene Bereich verkümmert. 60% Im Rahmen eines Besuchs in der Schweiz vor etwa einem Jahr wurde dieses Thema auch kurz angeschnitten. Nach einer kurzen Erläuterung, wie das in Österreich funktioniert, fragten mich die Schweizer Kollegen: „Wie könnt ihr so ein System finanzieren?“ Aus deren Sicht ist die finanzielle Trennung zwischen intramural und extramural nicht geeignet ein effizientes Gesundheitssystem 61% OA DR. CHRISTOPH REISNER, MSC Präsident der Ärztekammer für Niederösterreich facebook.com/christoph.reisner CONSILIUM 01+02/15 7