Die Kunst des Rollfilms

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Die Kunst des Rollfilms
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DAS FILMMAGAZIN
AUTOR DANIEL BICKERMANN
Die Kunst des Rollfilms
Von Dokus wie Dogtown und Z-Boys über
halb- und vollfiktionale Szeneportraits wie
Lords ofDogtown oder Paranoid Park bis
hin zu inzwischen etablierten Skater-Regis
seuren wie Spike Jonze oder der Jackass
Truppe: Man sollte meinen, über das Skate
board sei filmisch alles erzählt.
Und doch hat man offenbar längst noch
nicht alles gesehen. Zum Beispiel zwei
Jungs in der Nähe von Magdeburg, die in
den frühen Achtzigern ihre selbstgebauten
Boards mit Fahrradschläuchen an ihren
Füßen halten, damit sie bei den ersten un
gelenken Sprüngen nicht wegfliegen. Oder
einen braungebrannten Vokuhila mit Pornoschnurrbart, der Mitte der Achtziger im
Handstand auf seinem Brett hunderte von
Metern weit über den Berliner Alexander
platz rollt und seine mit Hotpants kaum be
kleideten Beine spreizt und schließt, wäh
rend unschuldige Dresdner Mädchen ihn
begeistert angaffen — das ist schon neu.
Oder die DDR-Propaganda, die das Skate
boarden erst als aggressive Marketingstra
tegie der Westsportwirtschaft geißelt und
später als »Rollbrettfahren« institutionali
sieren und zum nationalen Leistungssport
umdeuten wollte — und die ehemaligen Sor
genkinder von der Straße weg als »Übungs
leiter« einzuspannen versuchte.
Eine gelungene Doku über die Skater
Szene in der DDR wäre an sich schon eine
bemerkenswerte Bereicherung der Filmlandschaft, und This Ain‘t CaliJbrnia weiß
die Enge des Systems und den jugend
lichen Übermut beim Ausbruch atmosphä
risch ausgezeichnet darzustellen und hat
zudem eines der beklemmendsten Stasi
Interviews der jüngeren Vergangenheit vor
zuweisen. Aber der Film ist mehr, viel mehr
als das.
Er ist das sehr persönliche Portrait
einer Freundesgruppe, deren frühere Gal
lionsfigur »Panik«-Dennis so schillernd, so
komplex, so beängstigend, so vielsagend
und doch so geheimnisvoll bleibt, daß
er für mehr zu stehen scheint als nur die
desillusionierte Rebellion der Jugend in
der späten DDR. Der Eiwartungsdruck der
Eltern, der in eine vollständige Abwesen
heit umschlägt; die eigene Orientierungs
losigkeit bei FKK-Kultur und Fernweh; die
Schizophrenie zwischen ausgelassenen
Food Fights mit westlichen Skatern in Prag
und einer inoffiziellen »Deutschen Meister
schaft» zwischen dutzenden Stasi-Beobach
tern — das alles geht den sensiblen Figuren
spürbar an die Substanz und wirkt dank der
brillanten Emotionsführung von Regisseur
Marten Persiel so universell, daß man sich
THIS AIN T CALIFORNIA
D 2012. AS: Matten Pers ei. 5: Im Wedel. lt Felix Leiberg. 5: Max ne Gödecka. TonI Fiosohbammer. Bobty Good M: Lars
Damm. P: Wildfremd Produktions.
99 MIn. Farbfilm ab 16.8.12
nicht entziehen kann. Sicher, er hatte das
Glück eines unglaublich reichen Schatzes
an Originalaufnahmen der Protagonisten,
die auch cineastisch dem Experiment nicht
abgeneigt waren — aber erst die Art, wie die
Editoren-Troika aus Toni Froschhammer, Ma
xine Gödicke und Bobby Good dieses Materi
al montieren, verlangsamen oder verschnei
den, sorgt für die wirklich emotionalen
Effekte. Die Eröffnungsmontage gehört
sicherlich zu den bestgeschnittenen fünf
Minuten der jüngeren deutschen Kinojahre;
auf »talking heads‘ wird fast vollständig
verzichtet zugunsten von atmenden, atmos
phärischen Bildern der Freiheit auf dem
Board; und als die Skater-Szene schließlich
zunehmend außer Kontrolle gerät, steigert
sich der Schnitt zur »Fetten Elke‘ von den
Ärzten in einen ungesunden Overdrive aus
Stürzen, Partys und Reißschwenks. Besser
kann man mit vorliegendem Filmmaterial
nicht umgehen.
Auch der unablässig antreibende Sound
track, eine Mischung aus atmosphärischem
Lo-Fi und Skater-Punk, gehört zum besten,
was einem seit langem von der Leinwand
entgegenkam. Am wichtigsten aber ist, daß
Persiel sich weigert, seine Figuren eindi
mensional deuten zu lassen. Das Treffen
der alten Gruppe nach zwanzig Jahren, an
läI~ich der Beerdigung ihres früheren Freun
des, hätte ein schrecklich gestelztes Stück
Dokumentarfilm werden können — aber we
der Kamera noch Erzählung drängen die
gealterten Rebellen in ein Klischee, selbst
bei der Erzählung der Vergangenheit dürfen
sie Widersprüche und Geheimnisse behal
ten, und so gelingen auch diese Momente
vielschichtig, atmosphärisch und nachden
kenswert. Man wird entspannt eingeladen,
in einen fremden, dramatischen, absurden
Kosmos einzutauchen — und wenn das Licht
im Kino angeht, fühlt man sich klüger, ge
reifter und lebendiger als vorher. This Ain‘t
Calsfornia ist ein seltener Glücksgriff: zart
und rebellisch, politisch und historisch, un
terhaltsam und ergreifend — mehr kann Do
kumentarfilm nicht sein.

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