Absatzwirtschaft
Transcription
Absatzwirtschaft
Marketing Life → Marktforschungsstudio Aus dem Alltag einer Familie: Die Probanden vergessen sehr schnell, dass sie in einem Studio sind. Hinter dem Spiegel sitzen die Marktforscher (Bild unten). 86 absatzwirtschaft 1–2/2011 Voll im Leben Autor: Christian Thunig Wann sind Menschen offen? Wenn sie sich wohlfühlen. Wann fühlen sie sich wohl? Meistens, wenn sie in den eigenen vier Wänden sind. Gut, hat ConceptM gedacht, dann bauen wir ein Zuhause für die Befragungen. Kinder toben im Kinderzimmer, die Eltern schieben gerade in der Küche eine Pizza in den Ofen. Das gemeinsame Mittagessen steht an. Eine typische Familienidylle sollte man meinen. In gewisser Weise schon. Allerdings ist die Familie in dieser Wohnung eigentlich nicht zu Hause. Und sie wird später auch noch Fragen beantworten müssen. Aber zunächst werden die vier durch zwei verspiegelte Fenster beobachtet: wie sie Verpackungen aufreißen, wie sie das Essen zubereiten und wie sie zusammen am Küchentisch oder vor dem Fernseher essen. Hinter den Scheiben im „Kontrollraum“ sitzen Projektleiter Pascale Villain und Geschäftsführer Dirk Ziems vom Marktforschungsunternehmen ConceptM. Letzterer hatte eine verwegene Idee: zu Marktforschungszwecken gleich eine ganze Wohnung einzurichten, mit Wohnzimmer, Küche, Kinderzimmer und Badezimmer. Die Vision: Probanden sollen sich „wie zu Hause fühlen“ und schnell ins Thema kommen. Dirk Ziems betont: „Die Probanden müssen nicht erst die Studioatmosphäre überwinden. Unsere Befragten sind direkt relaxt und entwickeln Alltagsfeeling, wenn sie die Wohnung betreten.“ Die Wohnung ist ganz normal eingerichtet: Einbauküche, Flachbildschirm, Ecksofa, und überhaupt viele Möbel, die man von Ikea kennt. Allerdings haben sich die imaginären Bewohner immerhin einen Esszimmertisch von Habitat geleistet. Im Kinderzimmer dominieren das typische Hochbett und ein kleiner Fernseher. Die Einbauküche ist eher schlicht, aber mit allen elektronischen Geräten, die ein Haushalt heute hat. Damit ist die Wohnung voll alltagstauglich, und auch die Marktforscher selbst schieben sich, wenn kein Proband in Sicht ist, schon mal eine Pizza in den Ofen. Allerdings ist das eher selten der Fall. Bald täglich lassen die Forscher Probanden im Auftrag von Kunden, die vor allen Dingen aus den Branchen Medien und Fast Moving Consumer Goods kommen, Formel 1 oder Soaps schauen, Bier trinken, Würstchen verkosten, Kaffee brühen, Snacks naschen oder einfach nur putzen. Dabei können sich die Auftraggeber auch bestimmte Settings, also Einrichtungsanordnungen und Zimmerausstattungen, wünschen. Pascale Villain erläutert: „In zehn Minuten ist die Couchgarnitur aus dem Raum geschafft, und wir können den ausgezogenen Esstisch mitten im Raum platzieren und eine lange Tafel simulieren.“ Eine Gästesituation. „Wir haben hier die seltene Chance, natürliche soziale Einheiten in fast realen Situationen zu beobachten“, ist Ziems überzeugt. Das ist das, was die Forscher brauchen, denn sie haben eine Erfahrung gemacht: Probanden erinnern sich häufig falsch, antworten sozial erwünscht und agieren unbewusst. Von außen eine normale Wohnung: Das Studio in der Rosa-Luxemburg-Straße 16. Das ist nicht neu, aber der Ansatz, wie dem methodischen Mangel begegnet wird, ist revolutionär. Ziems führt aus: „Die meisten Konsummotive sind den Verbrauchern unbewusst oder laufen automatisch mit. Man kommt an die Motive nur ran, wenn man die Verbraucher ihre alltäglichen Handlungen noch mal nacherleben und selbst beobachten lässt. Deshalb schauen wir uns mit den Probanden absatzwirtschaft 1–2/2011 87 Marketing Life → Marktforschungsstudio Der Blick aus dem Kontrollraum: Die Probanden können in Ruhe im Alltag beobachtet werden. Nach einiger Zeit vergessen die Befragten meistens, dass sie in einem Marktforschungsstudio sind. auch die Videoaufzeichnungen ihrer Koch-, Fernseh- oder Putzaktionen an und interviewen sie dazu eingehend.“ In der typischen Berliner Wohnung in der Rosa-LuxemburgStraße 16, unweit vom Alexanderplatz, leben die Probanden den ConceptM-Leuten erst einmal was vor, bevor sie befragt werden beispielsweise für Packaging-Tests. Können sie sich noch an die Verpackung erinnern? Welche Farbe, welche Bilder, welche Informationen waren auf der Verpackung? Ziems und Villain haben alles genau beobachtet und sich bereits einige Fragen zurechtgelegt. Später gehen sie dann zur Familie in den Wohnraum und führen ein breit angelegtes Interview. Da überall kleine Kameras und Mikrofone stehen, müssen sie keine Aufzeichnungen machen, die die Befragten eher ablenken. Die Forscher können ganz relaxt mit der Familie in der Couchgarnitur sitzen und ihre Fragen stellen. Inspirieren ließ sich ConceptM von den Recruiters Home die Marktforscher demnächst noch eine Single-Wohnung mit 36 Quadratmeter einrichten werden, die auch Studenten oder untere Einkommensgruppen repräsentieren soll, sowie eine 60plus-Wohneinheit. Und das alles, um die Alltagssituationen von Menschen besser verstehen und deuten zu können. „Normalerweise braucht man eine halbe Stunde, um zu bestimmten Punkten zu kommen“, sagt Ziems. Damit macht die Wohnung Befragungen eigentlich auch effizienter, was auf den ersten Blick fast anachronistisch anmutet, denn der Aufwand, für Befragungen Wohneinheiten zu unterhalten, ist nicht gering. Dennoch ist die Inszenierung von Alltag ideal, um später Fragen präziser stellen zu können, denn auch Produkte sind immer in sozialen Kontexten zu verstehen. Und: Befragungen in den eigenen vier Wänden werden zuweilen als Eindringen in die Privatsphäre empfunden. Vor Ort aber in der Rosa-Luxemburg-Straße fühlen sich »Die meisten Konsummotive sind den Verbrauchern unbewusst oder laufen automatisch mit.« in England. Aufgrund horrender Studiomieten in London und um lange Wege zu ersparen, sprechen englische Marktforschungsunternehmen Probanden an, ob sie ihr Haus als Studio zur Verfügung stellen. Dieses im Kopf, starteten sie damit, eine Wohnung in Berlin anzumieten und einzurichten. Natürlich nicht, ohne die Einrichtung selbst auch zu beforschen. Villain betont: „Wir haben so manches Möbelstück wieder zurückgehen lassen. Die Wohnung sollte wirklich absolut durchschnittlich sein, die Probanden dürfen also auf keinen Fall von der Ausstattung beeindruckt sein.“ So kam es zu einer unscheinbaren Wohnung in Berlin-Mitte. Allerdings ist der Bedarf, Menschen in freier Wildbahn zu interviewen so groß, dass 88 absatzwirtschaft 1–2/2011 Probanden einfach nur zu Hause und sehen es als selbstverständlich an, dass es auch noch einen „Gastgeber“ gibt, der aus einem Kontrollraum Einblick hat, sowohl ins Wohn- und Esszimmer als auch in die Küche. So werden die Fragen auch als „Teil des Spiels“ gerne beantwortet: Was haben Sie auf der Verpackung gelesen? Welche Bilder und Farben hatte die Verpackung? Warum wurde im Wohnzimmer am Couchtisch vor dem laufenden Fernseher gegessen? Auf welchen Websites haben Sie, während das Essen kochte, gesurft? Ja, sogar einen Laptop gibt es in der Wohnung. An alles haben die Initiatoren gedacht, um das tägliche Leben zu simulieren – nur nicht an eine Eieruhr. Die hatte die Mutter der Familie nicht in der Küche finden können. Aber auch das gehört zum Alltag. ←