Fallada Perceval Kleiner Mann Was nun

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Fallada Perceval Kleiner Mann Was nun
Fallada / Perceval
Kleiner Mann: Was nun?
Der Regisseur setzt auf die Kraft des Originaltexts – in einer Zeit, in der wieder
viel von Arbeitslosigkeit die Rede ist.
Dabei betont er die komischen oder grotesken Aspekte der traurigen Geschichte
eines Arbeitslosen, den die Liebe (und vor allem die lebenskluge Tüchtigkeit)
seiner Frau immer wieder retten. Dadurch wird das Publikum ebenso wenig wie
bei Chaplin-Filmen auf den Gedanken kommen, es sehe gerade Sozialkitsch.
Perceval lässt die beiden Hauptdarsteller, Pinneberg und Lämmchen,
abwechselnd spielen (bei Fallada gibt es bereits zahlreiche voll bühnentaugliche
Dialoge) und erzählen, was sie mit sich und den anderen erleben.
Überraschenderweise ergibt sich daraus ein durchaus bewegtes und lebhaftes
Spiel. Es ist vor allem Pinneberg, die das Bühnengeschehen optisch dominiert
und für ständige Bewegung sorgt. Lämmchen setzt den Gefühlswirbeln des
Mannes einen Pol der Ruhe und Konzentration entgegen. Die weitaus größere
Textmenge Pinnebergs wird so von Lämmchens klarer und eindeutiger Sprache
aufgefangen.
Dabei kommt es gelegentlich zu Redundanzen, z. B. wenn ein Gefühl einer
dritten Person beschrieben wird, die gleichzeitig auf der Bühne anwesend ist und
mit ihrem Gesicht oder ihrer Haltung dies bereits ausdrückt.
Die Konzentration auf die beiden zentralen Rollen bewirkt leider auch, dass bei
den sich notwendig wiederholenden Szenen (der Angst, der Hoffnung, des
Streits, der Versöhnung) zwischen beiden stereotype Mimik und Gestik
aufkommen (z.B. Blickwechsel, Streichelritus).
Die beiden Hauptdarsteller dominieren die Bühne auch deswegen, weil es
nahezu keine Requisiten gibt und die Kostüme aus effektvollen Details bestehen
(was auch dem häufigem Umziehen der Nebenfiguren bei Rollenwechseln
geschuldet ist).
Diese Nebenfiguren (die das Leben von Pinneberg und Lämmchen entscheidend
beeinflussen und prägen) stehen häufig frontal zum Zuschauer, unbeweglich,
aber durchaus bedrohlich, zu mehreren wie eine Phalanx. Der Zuschauer soll
sich gemeint fühlen von dem, was sie sagen oder tun. Er soll sie auch ausgiebig
betrachten können und die von ihnen ausgehende Gemeinheit oder Dummheit in
sich aufnehmen.
Nur gelegentlich gibt es Sympathieträger unter den Nebenfiguren; diese zeigen
dann manchmal ihr Profil – wie die Hauptdarsteller.
Warum einige Frauenrollen von Männern gespielt werden, habe ich nicht
begreifen mögen. Natürlich ergibt das mit Sicherheit Lacher – aber wird da
textkonform gelacht?
Ich vermute, es ist Rationalisierung: man spart Schauspielerinnen.
An entscheidenden Stellen der Handlung wird im Chor gesungen, es sind Lieder
im Stil der Comedian Harmonists, die stets Gefühle beschwören (Optimismus,
Selbstvertrauen, Freiheit des Individuums ...), die gerade von Bühnengeschehen
ad absurdum geführt werden.
Ein riesiges Orchestrion teilt die Bühne in einen vorderen und einen hinteren
Raum und ermöglicht fließende Auftritte und Abgänge. Dieses Orchestrion kann
verstanden werden als Musik- oder sogar Gefühlsmaschine und erinnert an die
Maschinenmonster expressionistischer Filme wie Modern Times oder
Metropolis.
Ausschnitte aus dem legendären Film Berlin - Sinfonie einer Großstadt werden
in den Bühnenraum hinein projiziert, sind aber wegen des Orchestrions nur
fragmentarisch zu erfassen. Sie hätten sonst möglicherweise zu stark abgelenkt
und schon das bloß schemenhafte Flimmern schafft Atmosphäre.
Gegen Ende der Darbietung kommt es zu zwei atemberaubenden Szenen.
Zuerst geht der arbeitslose Pinneberg mit seinem Kind spazieren, setzt sich ans
Ufer eines Flusses und redet auf das Kind ein, sagt aber nichts anderes, als dass
da das Wasser sei. Dann ist es still. Minutenlang. Nichts geschieht. Und der
Zuschauer kann kaum umhin sich vorzustellen: Jetzt wird dieser völlig
perspektivenlose Vater sich umbringen und das Kind (für dessen Leben er
ebenfalls keine Perspektive sieht) mit in den Tod nehmen.
Wenig später flieht Pinneberg in Panik vor einem Schupo, der ihn von der
Scheibe eines bereits geschlossenen Lebensmittelgeschäfts wegjagt, andere
Leute aber, die, wie er, sich begehrlich oder neugierig an die Scheiben drücken,
nicht behelligt. Nach ein paar Schritten bis zum vorderen Bühnenrand läuft er
auf der Stelle, in atemberaubenden Tempo, minutenlang. Der Rest der Bühne ist
im Dunkel versunken.
(Man könnte auch von Ausbeutung der Kräfte des Schauspielers sprechen)
Was lernt Pinneberg?
Er hat alles, alles versucht, um seine jeweilige Arbeit zu behalten.
Anpassung ist nicht immer von Vorteil. Die Regeln der Evolution gelten für uns
Menschen nur sehr bedingt.
(Münchner Kammerspiele)

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