Pädiatrix Heft 4 / 2007 Skoliose

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Pädiatrix Heft 4 / 2007 Skoliose
Pädiatrix Heft
4 / 2007
Skoliose
Quelle: Leo/bmp
von
Angelika Bauer-Delto
Eine physiologische
Schwingung der Wirbelsäule ist für die
Haltungsleistung der
Muskulatur optimal.
„Halt dich doch gerade!“ – Diese Aufforderung
bekommt so mancher Jugendliche zu hören,
der mit Rundbuckel am Schreibtisch lümmelt
oder mit Hohlkreuz in der Kinoschlange ansteht. Doch was eine „schlechte Haltung“ ist
und ob sie zu bleibenden Schäden führt, sei gar
nicht so einfach festzustellen, erklärte Prof. Dr.
Claus Carstens, Leiter der Sektion Kinderorthopädie und Wirbelsäulenchirurgie der Universitätsklinik Heidelberg auf dem 13. Kongress für Jugendmedizin im März dieses Jahres
in Weimar.
Für die Körperhaltung spielen viele Faktoren eine Rolle: „Haltung ist Ausdruck der seelisch-körperlichen Ganzheit, der Persönlichkeit, ist ein Maßstab ihrer Kraft“, formulierte
schon 1928 der Orthopäde Franz Schede. Nach
einem Misserfolg ist man manchmal ganz „geknickt“ oder Sorgen können „niederdrücken“.
Einer der wesentlichen Faktoren für die
Körperhaltung ist die Form der Wirbelsäule, die sich im Verlauf der körperlichen Entwicklung verändert. Die gesunde Wirbelsäule weist im sagittalen Profil eine Halslordose,
eine Brustkyphose, eine Lendenlordose sowie
eine Kreuz- und Steißbeinkyphose auf. Von der
„normalen“ Schwingung der Wirbelsäule gibt
es jedoch erhebliche Varianten, betonte Carstens. Als Normalwerte im Bereich der Brust-
wirbel gelten Krümmungen von 20 bis 40 Grad
und im Bereich der Lendenwirbel von 20 bis
55 Grad.
Solche Varianten in der physiologischen
Schwingung der Wirbelsäule können in der
Regel von der Rücken- und Bauchmuskulatur kompensiert werden. Bei einer untrainierten oder beispielsweise durch Übergewicht
überlasteten Muskulatur kann es jedoch zu
Haltungsstörungen und Fehlbelastungen kommen.
„Heranwachsende sollten motiviert werden, den Haltungs- und Bewegungsapparat
Haltungstest nach Matthiass
In aufrechter Körperhaltung die Arme horizontal nach vorn ausstrecken.
• Keine Haltungsschwäche liegt vor, wenn der
Patient diese Haltung ohne Ausweichbewegungen länger als 30 Sekunden einnehmen kann.
• Eine Haltungsschwäche liegt vor, wenn der Patient diese Haltung weniger als 30 Sekunden beibehalten kann und der Schwerpunkt des Oberkörpers nach hinten sowie das Becken nach vorn
verlagert.
• Ein Haltungsverfall liegt vor, wenn der Patient
sofort bei Erhebung der Arme die Haltung verlagert.
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Haltungsschwäche oder
Wirbelsäulendeformation?
Um eine eventuelle Haltungsschwäche zu beurteilen, hat sich in der Praxis der Haltungstest
nach Matthiass (siehe Kasten links) etabliert, der
im Alter zwischen sechs und 16 Jahren eingesetzt
werden kann. Der Test ermöglicht allerdings lediglich eine Beurteilung der Bauchmuskelfunktion, nicht jedoch der Rückenmuskulatur. Auch
zur Langzeitprognose erlaubt der Test keine
Aussage. Aus einer vermeintlichen Haltungsschwäche müsse zudem nicht zwangsläufig
eine strukturelle Schädigung der Wirbelsäule
resultieren, räumte Carstens ein.
Von physiologischen Varianten der Wirbelsäulenkrümmung und einer Haltungsschwäche
diagnostisch abzugrenzen sind fixierte, strukturelle Deformitäten der Wirbelsäule. Eine orthopädische Basisuntersuchung (siehe Checkliste)
trägt dazu bei, dass der Kinder- und Jugendarzt Störungen am Halte- und Bewegungsap-
parat frühzeitig erkennen und gegebenenfalls
eine weitere Abklärung und Behandlung in die
Wege leiten kann.
Kyphose:
Verdacht auf Morbus Scheuermann
Eine im Jugendalter bedeutsame Differenzialdiagnose und die häufigste Ursache einer fixierten
thorakalen Kyphose ist der Morbus Scheuermann, berichtete Carstens. Dabei handelt es sich
um eine Aufbaustörung der Wirbelgrund- und
-deckplatten, die meist schon präpubertär beginnt. Klinisch sichtbar wird
der Rundrücken meist ab dem zwölften Lebensjahr. Ein Verdacht lässt sich
röntgenologisch bestätigen, wenn sich
an mindestens drei Wirbeln eine keilförmige Deformation findet. Der Patient
ist peripher neurologisch unauffällig,
die ischiokrurale Muskulatur ist jedoch
häufig verkürzt. Knapp die Hälfte der
Kinder hat Schmerzen. Bei einer Kyphose von über 100 Grad kann es zu einer
Beeinträchtigung der Lungenfunktion
kommen.
„Meist sind es kosmetische Beeinträchtigungen und psychische Belastungen, die zu einem Behandlungswunsch
führen“, berichtete Carstens. Eine konservative Therapie sei nur im frühen Stadium
Erfolg versprechend. Die Physiotherapie legt
den Schwerpunkt auf die Dehnung der ischio-
Checkliste
Basisuntersuchung der Wirbelsäule
Anamnese:
Beschwerden, motorische Entwicklung, familiäre Vorbelastung,
Freizeitverhalten, Sportaktivitäten?
Inspektion:
Biologisches Alter, Gewicht, Konstitution? Funktionelle Leistungsfähigkeit des Stütz- und Bewegungsapparates beim Ausziehen?
Körperliche Untersuchung unbekleidet, im aufrechten Stand von
vorn, von hinten und von der Seite:
Kopfhaltung, Schulterstand, Fuß- und Beinachsen, Beckenstellung,
Beinlängendifferenz, Form und Mobilität der Wirbelsäule?
Untersuchung der Wirbelsäule
von hinten:
in Rumpfvorneigung:
von der Seite:
im Vierfüßlerstand:
Neurologische Untersuchung:
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Skoliose
tatsächlich als solchen zu benutzen“, empfahl
Carstens. Körperliche Bewegung sei allerdings
primär nicht „auf Krankenschein und Rezept“
zu verordnen. Kinder und Jugendliche sollten
sich vielmehr im Alltag und im Verein sportlich
betätigen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass
auch Über- oder Fehlbelastungen beispielsweise durch Hochleistungssport einen signifikanten Einfluss auf Körperhaltung und Form der
Wirbelsäule haben können.
Lot, Abweichungen der Dornfortsätze von der Mittellinie?
Rippenbuckel oder Lendenwulst?
vermehrte Kyphose, vermehrte Lordose, Sprungschanzenphänomen
(von außen sicht- und tastbare Stufenbildung der Dornfortsatzreihe)?
Bewegungsspiel der Wirbelsäule zwischen Kyphosierung und
Lordosierung?
Sensorik, Motorik, Reflexe?
Abbildung 1:
Skoliose
Quelle:
Dr. Birger Gleiche
Skoliose
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Eine frühe Diagnosestellung ist entscheidend, um das Wachstum der Wirbelsäule
noch positiv beeinflussen zu können.
kruralen Muskulatur und die Stärkung der
Rückenstrecker sowie auf die Prophylaxe einer Hüftbeugekontraktur. Das Ausmaß einer
bereits vorhandenen Kyphose lässt sich nur
unwesentlich beeinflussen, allerdings die Progression verlangsamen, bis die Erkrankung mit
abgeschlossenem Wachstum zum Stillstand
kommt.
Bei einem Patienten, der sich noch in der
Wachstumsphase befindet, kann bei einer Kyphose unter 60 Grad eine Korsettbehandlung
versucht werden. Die Tragedauer muss allerdings 23 Stunden pro Tag betragen. Entsprechend unzureichend ist oft die Compliance.
Bei therapieresistenten Schmerzen und erheblicher Deformität gilt laut Carstens eine
Operation als einzige zuverlässige Behandlungsoption. Ein operativer Eingriff, bei dem
die Wirbelsäule aufgerichtet wird, ist aufwendig, hat jedoch ein Korrekturpotenzial bis zum
Normalen.
Skoliose: Ursache oft unbekannt
Eine Skoliose ist gekennzeichnet durch eine
seitliche Verkrümmung der Wirbelsäule in der
Frontalebene, verbunden mit einer Torsion der
Wirbelkörper, berichtete Dr. Birger Gleiche,
niedergelassener Orthopäde in Warendorf. Die
Beweglichkeit der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte ist eingeschränkt. In Rumpfvorneigung werden Rippenbuckel und Lendenwulst
sichtbar, die schon früh auf eine beginnende
Skoliose hinweisen können. Von dieser strukturellen Skoliose ist eine funktionelle Wirbelsäulenverkrümmung abzugrenzen, die aufgrund
Abbildung 2 und Abbildung 3:
Operative Korrektur durch ventro-dorsale Spondylodese
Quelle: Prof. Claus Carstens
von Beinlängendifferenzen oder Fehlhaltungen
bei Schmerzen entstehen kann und in der Regel
durch eine Behandlung der Grunderkrankung
behoben wird. Unter den Skoliosen können
neuropathische oder myopathische Formen auftreten, aber auch eine Neurofibromatose (Morbus Recklinghausen) kann zugrunde liegen. Der
überwiegende Teil der Skoliosen gilt als idiopathisch. Während eines Wachstumsschubs kann
sich die Deformität drastisch verschlechtern,
warnte Gleiche. Extreme Verkrümmungen können zu Schmerzen in der Muskulatur bis hin zu
Funktionseinschränkungen der inneren Organe
führen.
Eine idiopathische Skoliose wird meist zwischen dem zehnten und zwölften Lebensjahr
auffällig und aufgrund der Schmerzlosigkeit
häufig zufällig entdeckt. Im Röntgenbild lässt
sich das Ausmaß der Verkrümmung, der sogenannte Cobb-Winkel, bestimmen, der für das
weitere therapeutische Vorgehen wegweisend
ist. Bei einem Cobb-Winkel zwischen 10 und
20 Grad wird eine spezielle Krankengymnastik
empfohlen, um die Muskulatur zu kräftigen und
die Wirbelkörper zu entlasten und so weiteren
strukturellen Veränderungen vorzubeugen.
Ab einem Cobb-Winkel von 20 Grad ist die
Wahrscheinlichkeit einer Progredienz erhöht,
vor allem bei jüngeren Kindern. Befindet sich
das Kind noch in der Wachstumsphase, wird bei
einem Cobb-Winkel zwischen 20 und 50 Grad
zusätzlich zur Physiotherapie eine orthetische
Behandlung verordnet. Das Korsett muss konsequent 23 Stunden am Tag getragen werden. Mit
diesen konservativen Maßnahmen lässt sich die
Progression aufhalten oder verlangsamen, nicht
jedoch eine komplette Rückbildung bewirken.
„Die Kinder sollten durchaus ermuntert
werden, Sport zu treiben“, betonte Gleiche.
Schwimmen ist besonders günstig, Sportarten
mit übermäßiger Stoßbelastung der Wirbelsäule
sollten gemieden werden. Eine Teilnahme am
Schulsport ist in der Regel kein Problem. Bei
operierten Kindern sollte allerdings die individuelle Sporttauglichkeit überprüft werden.
Bei einem Cobb-Winkel ab 50 Grad und einem ungünstigen Verlauf kann eine operative
Aufrichtung und teilweise Versteifung der Wirbelsäule erwogen werden. An der Universitätsklinik Heidelberg wird ein neues Operationsverfahren angewendet, das für Kinder ab acht
Jahren geeignet ist, die sich noch mindestens ein
Jahr in der Wachstumsphase befinden. Dabei
werden die Wirbelzwischenräume stabilisiert,
ohne das Wirbelsäulensegment versteifen zu
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Kontakt zu anderen Betroffenen
Bundesverband Skoliose-Selbsthilfe e.V., Mühlweg 12, 74838 Limbach, Tel.: +49 (0)177/732 33
34, Fax: +49 (0)6287/ 92 59 96, www.bundesver
band-skoliose.de
Forum zu Skoliose, Morbus Scheuermann, Kyphose und anderen Wirbelsäulendeformitäten:
www.skoliose-info-forum.de
Skoliose
müssen. Dazu werden krallenförmige Klammern aus einer Nickel-Titan-Legierung, sogenannte Shape Memory Alloy Staples (SMA),
schonend in die betroffenen Wirbelkörper
implantiert. „Dadurch wird nicht nur ein Voranschreiten der Skoliose verhindert, sondern
gleichzeitig der Wachstumsprozess ausgenutzt,
damit sich die Krümmung der Wirbelsäule korrigiert“, erklärte Carstens.
„Das verwächst sich nicht mehr!“
Fragen an Dr. Susanne Berger, Kinder- und Jugendärztin in Celle und Mitglied der
Tagungsleitung des diesjährigen Kongresses für Jugendmedizin in Weimar
Sind orthopädische Probleme schon im Jugendalter ein Thema?
Dr. Susanne Berger: Die Daten sind alarmierend. Um einige Beispiele zu nennen: Mehr
als die Hälfte aller Schüler klagten in einer Repräsentativbefragung des BKK-Bundesverbandes über Rückenbeschwerden. Bei flächendeckenden Schulentlassungsuntersuchungen des
Landes Brandenburg hatte jeder zehnte Jugendliche eine behandlungspflichtige Erkrankung
des Skelettsystems. In einer Untersuchung bei Schulkindern in Thüringen wiesen rund 37
Prozent einen behandlungs- oder kontrollbedürftigen Befund am Halte- und Bewegungsapparat auf. Der bundesweiten KIGGS-Studie zufolge ist bereits jeder fünfte Jugendliche übergewichtig – Adipositas zählt neben Bewegungsmangel zu den wichtigsten Risikofaktoren für
Haltungs- und Gelenkprobleme.
Shape Memory
Alloy Staples – ein
neues Operationsverfahren für Kinder
ab acht Jahren.
Sind diese Jugendlichen ausreichend versorgt?
Dr. Susanne Berger: So manche Störungen des Skelettsystems führen anfangs noch nicht
zu gravierenden Beschwerden. Betroffene Jugendliche suchen daher nur selten frühzeitig
ärztliche Hilfe. „Das verwächst sich nicht mehr!“, ist dann oft das bittere Ergebnis zu spät
erkannter Störungen des Skelettsystems.
Was also tun?
Dr. Susanne Berger: Der Kinder- und Jugendarzt kann durch regelmäßige, standardisierte Vorsorgeuntersuchungen einen wichtigen Beitrag zur Früherkennung von Störungen
des Halte- und Bewegungsapparates leisten. Bislang klafft jedoch zwischen der U 9 und der
J 1 eine gewaltige Lücke. Der BVKJ plädiert daher für eine U 10 im siebten bis achten Lebensjahr und eine U 11 für Neun- bis Zehnjährige sowie darüber hinaus für eine J 2 im Alter von
16 bis 17 Jahren.
Wie „bewegt“ man Jugendliche zu so unpopulären Maßnahmen wie Krankengymnastik
oder gar Korsett?
Dr. Susanne Berger: Der Kinder- und Jugendarzt sollte sein besonderes Vertrauensverhältnis zu seinem jungen Patienten nutzen. Er sollte ausführlich über die Prognose informieren und im Team mit Orthopäden und Physiotherapeuten eine adäquate Behandlung
koordinieren.
Einsicht und Bereitschaft zum Mitmachen sind, insbesondere bei weniger schlimmen
Fällen, allerdings oft gering ausgeprägt. Die Jugendlichen lassen sich am ehesten dadurch
motivieren, dass der Arzt in Kenntnis der Neigungen, Ziele und Wünsche seiner Patienten
den individuellen Vorteil durch die Behandlung herausarbeitet. Im Vordergrund sollte nicht
die Mühe für den jungen Patienten stehen, sondern der persönliche Gewinn: „Ist dieser Sport
nicht cool?“ oder „Um den neuen Schreibtischstuhl werden die anderen mich beneiden ...“
Den abstrakten Begriff „Gesundheit“ sollte der Arzt vermeiden.
Quelle: Pressekonferenz anlässlich des 13. Kongresses für Jugendmedizin, Weimar, März 2007
Pädiatrix 4/2007
„Jugendliche sind
die vergessene
Generation.“
Dr. Susanne Berger