Tuerkei - Amnesty International

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Tuerkei - Amnesty International
AMNESTY INTERNATIONAL
Türkei
Memorandum an die türkische Regierung
Januar 2008
Übersetzung: Türkei-Koordinationsgruppe. Verbindlich ist das englische Original.
Einführung
Nach den Wahlen im Juli vergangenen Jahres hatte die Regierung ihre Entschlossenheit
bekräftigt, weitere Gesetzesreformen und Schritte auf dem Wege zu verbesserten Garantien für
die Menschenrechte und Freiheiten in die Wege zu leiten. Amnesty International begrüßt diese
Absichtserklärung und erkennt die Schritte an, die von der vorherigen Regierung unternommen
worden sind, um die Menschenrechtssituation in der Türkei zu verbessern.
Allerdings hat es 2007 Rückschritte im Bereich der Menschenrechte gegeben. Menschenrechtsverletzungen nahmen zu und Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung waren nicht ausreichend.
Amnesty International hat im Folgenden Themenbereiche und Empfehlungen für Maßnahmen
aufgeführt, die notwendig sind, um dauerhafte und substantielle Verbesserungen bei der
Wahrung der Menschenrechte zu erreichen. Neben der praktischen Umsetzung der gegenwärtigen Gesetzesreformen müssen dringend weitere Gesetzesänderungen vorgenommen
werden und die gegenwärtige Regierung sollte die Chance für die Ausarbeitung einer neuen
Verfassung nutzen, in der die grundlegenden Menschenrechte und Freiheiten geschützt
werden.
Folter, Misshandlung und Straflosigkeit
Amnesty International begrüßt es, dass die gegenwärtige Regierung ihre Politik der “NullToleranz gegenüber Folter” erneut bekräftigt hat. Bereits unter der vorhergehenden Regierung
waren Fortschritte erzielt worden. In der 2005 verabschiedeten Neufassung des türkischen
Strafrechts wurden die Strafen für Folter und Misshandlung erhöht und die Verjährungsfrist
verlängert; Maßnahmen zum Schutz von Festgenommenen wurden eingeführt. Dies führte
ohne Zweifel dazu, dass die Zahl der Fälle von Folter und Misshandlungen an offiziellen
Haftorten gesunken ist.
Einen weiteren Meilenstein in der Rechtsprechung stellte das Urteil des Kassationshofes im Fall
Birtan Alt nbas dar. Nach zahllosen Verzögerungen des Verfahrens in den letzten neun Jahren,
werden vier Polizisten schließlich doch noch zur Rechenschaft gezogen für den Foltertod von
Birtan Alt nbas 1991 in Polizeihaft in Ankara. Die Tatsache, dass die Haftstrafen bestätigt
wurden, ist im Hinblick auf den Kampf gegen Straflosigkeit eine wichtige Entscheidung.
Neben diesen Fortschritten hat es jedoch auch Rückschritte gegeben. In den Verfahren wegen
Folter und Misshandlungen wurden unabhängige medizinische Gutachten selten von Gerichten
akzeptiert und die in der neuen Strafprozessordnung vorgesehene Einrichtung einer
Justizpolizei wurde nicht umgesetzt. Die Neufassung des Anti-Terror-Gesetzes vom Juni 2006
erlaubt es, den Zugang eines Rechtsbestandes zu einem Festgenommenen erst nach 24
Stunden zuzulassen und gibt den Sicherheitskräften bei Operationen gegen “terroristische
Organisationen” das Recht “direkt und ohne zu zögern“ tödliche Gewalt anzuwenden.
Auch das im Juni 2007 geänderte Gesetz über die „Befugnisse und Aufgaben der Polizei“
erweitert die Befugnisse der Polizei, Menschen anzuhalten, zu durchsuchen und tödliche
Waffen einzusetzen. Das Gesetz erlaubt Polizisten, auf flüchtende Verdächtige zu schießen,
wenn ein Befehl zum Halten nicht befolgt wird. Das Gesetzt sieht zwar das Prinzip der
Verhältnismäßigkeit vor, das Gebot der Verhältnismäßigkeit beim Einsatz tödlicher Waffen ist
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Memorandum an die türkische Regierung
aber eher beschreibend und nicht als Vorschrift formuliert. In der aktuellen Form entspricht das
Gesetz nicht internationalen Standards für den Gebrauch von Feuerwaffen durch
Sicherheitskräfte.
Während die Zahl der Berichte über Folter und Misshandlungen in Polizeihaft generell
abgenommen hat, gibt es weiterhin Berichte über Folter und Misshandlung außerhalb offizieller
Haftorte, z.B. bei Demonstrationen, in Gefängnissen und bei Gefangenentransporten. Es gab
kaum unabhängige und effektive Untersuchungen nach derartigen Beschwerden und in zu
vielen Fällen wurden die Verantwortlichen nicht gerichtlich verfolgt.
Muammer Öz berichtete Amnesty International, er sei am 29. Juli 2007 von Polizisten
misshandelt wurde. Muammar Öz, ein Anwalt, hielt sich mit Familienangehörigen im Bezirk
Moda in Istanbul auf, als sich ihm Polizisten näherten und nach seinen Identitätspapieren
fragten. Er wurde von zwei Polizisten zunächst auf der Straße und anschließend im
Polizeifahrzeug auf dem Weg er zur Polizeistation geschlagen. Eine ärztliche Untersuchung
wurde in Gegenwart der Polizisten durchgeführt. In einem später erstellten unabhängigen Attest
wurde festgestellt, das seine Nase gebrochen war, was in den ersten Arztbericht nicht erwähnt
wurde. Muammer Öz reichte mit Unterstützung der Anwaltskammer Istanbul Klage ein.
Zunächst verweigerte der Gouverneur von Istanbul die Genehmigung sowohl für interne als
auch für strafrechtliche Ermittlungen zu dem Vorgehen der Polizisten. In einer vom
Polizeipräsidium herausgegebenen Erklärung wurde behauptet, Muammer Öz habe sich die
Verletzungen selbst zugezogen, als er beim Versuch vor der Polizei zu fliehen gefallen sei.
Inzwischen wurde jedoch gegen die beiden beteiligten Polizisten ein Verfahren eingeleitet.
Der nigerianische Asylsuchende Festus Okey starb im August 2007, nachdem in Polizeihaft mit
einer Polizeipistole auf ihn geschossen worden war. Obwohl ein Polizist wegen vorsätzlicher
Tötung angeklagt worden ist, bleiben viele Fragen offen. Offensichtlich wurden während des
Verhörs keine Aufzeichnungen gemacht und wichtige Beweismittel, insbesondere das Hemd,
das Festus Okey zur Zeit der Schüsse getragen hatte, haben die Polizisten angeblich verloren.
Im Verlauf von gewaltsamen Demonstrationen, die sich besonders auf Diyarbakir
konzentrierten, kamen zehn Personen ums Leben und es wurden zahlreiche Vorwürfe über
Folter und Misshandlungen erhoben. Ein Ermittler von Amnesty International, der Kinder
interviewt hatte, die festgenommen worden waren, kam zu dem Ergebnis, dass diese
Behauptungen widerspruchsfrei und glaubwürdig seien. 21 Monate nach den Vorfällen wurde
zwar ein Verfahren gegen 463 Personen wegen durch die Demonstrationen verursachter
Sachbeschädigungen eingeleitet, jedoch kein einziges gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte
eingeleitet.
Amnesty International fordert die türkische Regierung dringend auf, konkrete Schritte
einzuleiten, um die Straflosigkeit von Staatsbediensteten bei schweren Menschenrechtsverletzungen zu bekämpfen.
Die folgenden Maßnahmen könnten ein wirksamer Beitrag dazu sein:
Zentralisierung und Verbesserung der Sammlung von Daten zu schweren
Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte, um ein klares Bild von der
Rechtspraxis zu erhalten.
Präventive Mechanismen:
- Ratifizierung des Optionalen Protokolls der Anti-Folter-Konvention und praktische
Umsetzung durch die Schaffung eines unabhängigen nationalen
Kontrollgremiums, das regelmäßig und unangemeldet Besuche an allen Arten
von Haftorten durchführt;
- Einführung von Video- und Tonaufzeichnungen aller Verhöre durch Polizei und
Gendarmerie.
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Sicherstellung von unverzüglichen, unabhängigen, unparteiischen und sorgfältigen
Untersuchung aller Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte:
- Entwicklung eines effektiven Beschwerdesystems;
- Untersuchung der Verantwortlichkeit von befehlshabenden Beamten durch die
Staatanwaltschaft;
- Suspendierung von Beamten, gegen die Ermittlungen eingeleitet wurde, vom
aktiven Dienst und Entlassung im Fall der Verurteilung;
- Entschädigung und Rehabilitierung der Opfer von Menschenrechtsverletzungen.
Maßnahmen gegen fehlerhafte Gerichtsverfahren:
- Es muss sichergestellt werden, dass Prozesse unparteiisch und fair geführt
werden;
- Verzögerungen bei Gerichtsverfahren müssen verhindert werden.
Gesetzesänderungen:
- Aufhebung von Artikel 10b des revidierten Anti-Terror-Gesetzes um eine
- Rückkehr zur Incommunicado-Haft zu verhindern
- Änderung von Artikel 2 des Anhangs zum Anti-Terror-Gesetz von Artikel 4 des
Änderungsgesetzes zu dem Gesetz über die „Befugnisse und Aufgaben der Polizei“
um sicherzustellen, dass die Bestimmungen zum tödlichen Schusswaffengebrauch
durch die Sicherheitskräfte mit internationalen Standards übereinstimmen;
- Aufhebung der Verjährungsmöglichkeit für den Straftatbestand der Folter
Verbesserungen im Bereich ärztliche Atteste und Gerichtsmedizin:
- Unabhängigkeit der Gerichtsmedizin vom Justizministerium;
- Förderung der Akzeptanz von ärztlichen und psychiatrischen Gutachten
unabhängiger Experten als Beweismittel an Gerichten;
- Sicherstellung, dass die medizinischen Untersuchungen aller Festgenommenen
sorgfältig, unabhängig und unparteiisch durchgeführt werden.
Besorgnisse hinsichtlich der Fairness von Gerichtsverfahren
Amnesty International hat seit langem Besorgnisse hinsichtlich der Verletzung des Rechts auf
ein faires Gerichtsverfahren, insbesondere für diejenigen, die nach dem Anti-Terror-Gesetz
angeklagt sind. In sich lange hinziehenden und unfairen Gerichtsverfahren werden immer noch
Aussagen als Beweismittel benutzt, von denen die Angeklagten behaupten, sie seien unter
Folter erpresst worden.
Im Juni 2007 wurden Mehmet Desde und sieben andere Personen auf der Grundlage nicht
bewiesener Behauptungen über Beziehungen zur Bolschewistischen Partei (NordKurdistan/Türkei) verurteilt. Die Partei hat weder Gewalt angewendet noch befürwortet. Die
Verurteilung von Mehmet Desde beruht hauptsächlich auf Aussagen, die mit der Begründung
zurückgezogen wurden, sie seien unter Folter erpresst worden.
Seit Dezember 2006 ist Selahattin Ökten in Untersuchungshaft. Der Haftbefehl beruht auf
einem einzigen Beweismittels, das mit dem Vorwurf der Folter zurückgezogen wurde. Er wird
angeklagt, bewaffnete Aktionen für die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) durchgeführt zu haben.
Amnesty International fordert die Regierung auf, folgende Schritte zu unternehmen:
Beendigung der Verwendung von Beweismitteln vor Gericht , die unter Folter oder
Misshandlung erlangt wurden:
- Es muss sichergestellt werden dass alle Beweismittel, die durch Folter oder
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Misshandlungen erpresst wurden, in Übereinstimmung mit Artikel 148 (1) der
Türkischen Strafprozessordnung und der UN Konvention gegen Folter bei
Gerichtsverfahren ausgeschlossen werden;
Alle anhängigen Gerichtsverfahren sollten überprüft werden, um die Verfahren zu
ermitteln, in denen der Vorwurf erhoben wird, dass Aussagen von Angeklagten
oder Zeugen gesetzeswidrig durch Folter oder Misshandlung erlangt wurden;
Strafverfahren, in denen wesentliche Beweismittel gegen den Angeklagten auf
Aussagen beruhen, die unter Folter erpresst worden sein sollen.
Verbot der Incommunicado-Haft
- Incommunicado-Haft sollte unter keinen Umständen gestattet werden, da sie die
Anwendung von Folter oder Misshandlungen erleichtert.
Sicherstellung des Prinzips der “Waffengleichheit” und des Rechts auf eine effektive
Verteidigung: Es muss garantiert werden, dass Anklage und Verteidigung vor Gericht
so behandelt werden, dass sie während des gesamten Gerichtsverfahrens
verfahrensrechtlich eine gleichwertige Position haben und die gleichen Chancen haben,
ihre Position zu vertreten („Waffengleichheit“). Dies schließt das Recht auf
angemessene Zeit und Möglichkeiten für die Vorbereitung der Verteidigung ein.
Konkrete Forderungen:
- Aufhebung der Änderungen des Anti-Terror-Gesetzes (Artikel 9(d) und 9(e) des
Gesetzes 5532), die das Recht auf eine effektive Verteidigung und das Recht auf
vertrauliche Treffen zwischen Anwalt und Mandanten beschränken;
- Maßnahmen, die sicherstellen, dass – wenn nötig – Angeklagte
das Recht in Anspruch nehmen können, während aller Stufen der Ermittlungen
und während der Gerichtsverhandlungen einen qualifizierten Dolmetscher
hinzuzuziehen;
- Sicherstellung des Rechts des Angeklagten, Zeugen zu laden und zu befragen.
Die Praxis der Gerichte, legitime Anträge der Verteidiger, eigene Zeugen oder
Zeugen der Anklage vor Gericht zu laden und sie ins Kreuzverhör zu nehmen,
willkürlich die zurückzuweisen, muss beendet werden;
- Es sollte dafür gesorgt werden, dass Staatsanwälte nicht länger auf der
Richterbank sitzen, sondern auch in der Sitzordnung mit der Verteidigung
gleichgestellt werden.
Beendigung überlanger Untersuchungshaft und verzögerter Strafverfahren
- Das Recht aller Personen, denen eine Straftat vorgeworfen wird, auf ein Verfahren
ohne übermäßige Verzögerung muss respektiert werden.
- Es muss sichergestellt werden, dass gegen Angeklagte, die sich während des
Gerichtsverfahrens in Untersuchungshaft befinden, innerhalb angemessener Zeit
verhandelt wird oder dass sie während des laufenden Verfahrens auf freien Fuß
gesetzt werden, wenn die Dauer der Untersuchungshaft sonst die
Verhältnismäßigkeit überschreiten würde.
Versäumnis der Gerichte, Wiederaufnahmeverfahren nach Urteilen des Europäischen
Gerichtshofes sorgfältig und unparteiisch durchzuführen
- Es muss sichergestellt werden, dass Wiederaufnahmeverfahren sorgfältig und
unparteiisch geführt werden. Dazu gehört eine „de novo“ Untersuchung aller
Beweismittel und ihre gesetzeskonforme Verwendung, sowie die erneute Vorladung
aller Zeugen, damit sie aussagen und von der Staatsanwaltschaft und der
Verteidigung ins Kreuzverhör genommen werden können;
- Gemäß dem Recht auf die Unschuldsvermutung muss sichergestellt werden,
dass Personen, die auf die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens warten, nicht
automatisch inhaftiert werden;
- alle Personen, in deren Verfahren der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
eine Verletzung der Prinzipien eines fairen Gerichtsverfahrens feststellt hat,
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müssen das Recht auf ein Wiederaufnahmeverfahren in der Türkei erhalten. Dazu
muss der Ausschluss von Wiederaufnahmeverfahren für diejenigen, deren
Verfahren am 4. Februar 2003 vor Gericht anhängig waren, aufgehoben werden.
Menschenrechtsverteidiger
Amnesty International ist besorgt darüber, dass Menschenrechtsverteidigern bei ihrer Arbeit
nicht akzeptable Hindernisse in den Weg gestellt werden, darunter Gerichtsverfahren auf der
Grundlage verschiedener Artikel des Strafrechts. Insbesondere einige bekannte Menschenrechtsverteidiger wurden mit einer sehr großen Zahl von Gerichtsverfahren überzogen.
Menschenrechtsverteidiger wurden auch von bestimmten Anwälten, der Polizei und anderen
Sicherheitskräften bedroht und eingeschüchtert. Die Behinderungen reichen von Überwachung,
Einschränkung der Bewegungsfreiheit und der Freiheit, Untersuchungen durchzuführen bis zur
Inhaftierung oder gar Ermordung. Gesprächsforderungen von Nichtregierungsorganisationen
sind von der Regierung ignoriert worden und es hat Versuche gegeben, Organisationen zu
schließen. Zur Verschlechterung der Situation trugen auch Äußerungen offizieller Stellen bei,
die als weitere Unterminierung der Stellung der Menschenrechtsverteidiger empfunden wurden.
Erst kürzlich wurden von dem Gouverneursamt in Istanbul Schritte eingeleitet, den Verein
„Lambda“, der sich für die Rechte von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transsexuellen
einsetzt, zu schließen. Damit werden die Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Vereinigungsfreiheit bedroht. Das Gouverneursamt begründet die Verfolgung damit, dass die Organisation „Gesetz und Moral verletzt“. Die nächste Gerichtsverhandlung in dem Schließungsprozess ist am 31. Januar 2008.
Es müssen Schritte unternommen werden um sicherzustellen, dass Staatsbedienstete die
Legitimität der Arbeit von Menschenrechtsverteidigern anerkennen. Gegen Staatsbedienstete,
die das Rechtssystem und/oder das Verwaltungssystem der Regierung mit der Absicht missbrauchen, Menschenrechtler zu drangsalieren oder ihre legitime Arbeit zu behindern, sollten
Sanktionen verhängt werden. Die Regierung sollte sicherstellen, dass Menschenrechtsverteidiger nicht für die Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung, Organisations- oder
Versammlungsfreiheit verfolgt werden. Alle anstehenden Verfahren für Handlungen, die nach
internationalen Standards geschützt sind, sollten gestoppt werden. In Zukunft sollten alle Ermittlungen gegen Menschenrechtsverteidiger von der Regierung kontrolliert werden. Der Schutz
der Arbeit von Menschenrechtsverteidigern wird dazu beitragen, dass die Gesetzesreformen
umgesetzt werden können.
Menschenrechtsverteidiger haben ein Recht auf den Schutz des Staates wie jeder andere
Bürger. Ereignisse wie das Versäumnis, den Mord an dem Menschenrechtsverteidiger und
Journalisten Hrant Dink im Januar 2007 zu verhindern und die darauf folgenden Fehler bei den
Ermittlungen dürfen sich nicht wiederholen. Hrant Dink hatte den Staatsanwalt in
li darüber
informiert, dass er Morddrohungen erhielt. In der Anklageschrift im Mordverfahren wird
festgestellt, dass einer der Angeklagten Polizeispitzel war und in den Monaten vor dem Mord
die Polizei mehrfach über die Mordpläne gegen Hrant Dink informiert hatte. Dennoch wurden
keine Maßnahmen zu dessen Schutz ergriffen. Die Äußerung des Istanbuler Polizeichefs nach
dem Mord, der Todesschütze habe allein gehandelt und das Verhalten der Militärpolizisten, die
mit dem mutmaßlichen Täter für Fotos posierten als ob er ein Held sei, zeigen die fehlende
Bereitschaft offizieller Stellen, den gesamten Hintergrund des Verbrechens zu untersuchen und
tragen zu dem Eindruck der Voreingenommenheit von Teilen der Sicherheitskräfte bei. Der
Fokus der Ermittlungen muss erweitert werden, um zu untersuchen, ob sich Polizeistellen und
die Militärpolizei mit ihrem Verhalten strafbar gemacht haben.
Meinungsfreiheit
Es gibt zahlreiche Fälle, in denen Menschen weiterhin wegen der friedlichen Äußerung ihrer
Meinung verfolgt werden. Damit wird das Recht auf freie Meinungsäußerung in der Türkei
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regelmäßig verletzt. Dies liegt teils an Mängeln in der Gesetzgebung, teils an der willkürlichen
Umsetzung der Gesetze durch Richter und Staatsanwälte. Die Regierung muss dringend
Schritte einleiten um beide Probleme zu beheben.
Amnesty International hat wiederholt die Aufhebung von Artikel 301 des Türkischen
Strafgesetzes gefordert, weil er aufgrund seiner weitgefassten und vagen Bestimmungen eine
massive Bedrohung der Meinungsfreiheit darstellt. Amnesty International ist besorgt darüber,
dass die Zahl der eingeleiteten Verfahren nach diesem Artikel offenbar 2007 zugenommen hat.
Außenminister Ali Babacan hat eingeräumt, dass die Einschränkungen der Meinungsfreiheit
weit über Artikel 301 hinausgehen und dass viele weitere Artikel geändert werden müssten 1.
Besonders dringlich ist eine Änderung der folgenden Artikel:
Artikel 216 des türkischen Strafgesetzbuches stellt die Aufstachelung der Bevölkerung zu
Feindschaft und Hass und Verunglimpfung unter Strafe. Amnesty International stellt nicht in
Abrede, dass Staaten das Recht haben, die Propagierung von national, rassistisch oder religiös
motiviertem Hass, mit dem zu Diskriminierung, Feindschaft und Gewalt aufstachelt wird, zu
verbieten. Dieser Artikel ist jedoch weiter gefasst als die entsprechenden Vorschriften in der
internationalen Menschenrechtsgesetzgebung und er ist extensiv angewandt worden, um
abweichende Meinungen zu verfolgen und oppositionelle Stimmen zum Schweigen zu bringen.
Artikel 7 des Anti-Terror-Gesetzes stellt Propaganda für eine terroristische Organisation oder für
deren Ziele unter Strafe. Nach internationalen Standards ist die Einschränkung des Rechts auf
freie Meinungsäußerung, z.B. zur Wahrung der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen
Ordnung, prinzipiell zulässig, es muss jedoch in jedem Einzelfall nachgewiesen werden, dass
dies Einschränkung notwendig und angemessen ist. Das in Rede stehende Gesetz wurde
jedoch auch dazu verwendet, die friedliche Äußerung von Meinungen, mit denen keine Gewalt
propagiert wurde, unter Strafe zu stellen.
Flüchtlinge und Asylsuchende
Amnesty International ist besorgt darüber, dass Flüchtlinge und Asylsuchende zwangsweise in
Länder abgeschoben werden, in denen für sie möglicherweise die Gefahr von schweren
Menschenrechtsverletzungen besteht. Dies ist ein Bruch des internationalen Rechtsprinzips des
non-refoulement und steht im Widerspruch zu den Verpflichtungen der Türkei aus
verschiedenen internationalen Übereinkommen, einschließlich der Anti-Folter-Konvention und
der Europäischen Menschenrechts-Konvention. Amnesty International ist auch besorgt darüber,
dass Asylsuchende keinen Zugang zu einem fairen Verfahren haben, in dem sie einen
Flüchtlingsstatus erlangen könnten.
Der iranische Staatsbürger Ayoub Parniyani, seine Frau Aysha Khaeirzade und ihr Sohn Komas
Parniyani wurden Berichten zufolge im Oktober 2007 zwangsweise in den Irak abgeschoben,
wo aufgrund der dortigen Menschenrechtssituation möglicherweise Gefahr für ihr Leben
bestand. Die Abschiebung erfolgte, obwohl die Familienmitglieder von dem Büro des Hohen
Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) in Ankara 2003 als Flüchtlinge
anerkannt worden waren und das Recht auf internationalen Schutz hatten. Nach diesem Vorfall
wurden im August fünf weitere anerkannte iranische Flüchtlinge zwangsweise in den Irak
abgeschoben. Nach Angaben des UNHCR wurden die fünf nach ihrer Rückkehr einen Monat
lang inhaftiert. Die Vorfälle sind Beispiele für ein allgemeines Verfahrensmuster, Flüchtlinge, die
nach dem Mandat des UNHCR anerkannt wurden, zwangsweise aus der Türkei abzuschieben.
Im Juli wurden 135 Iraker in den Irak abgeschoben, nachdem ihnen das Recht auf Asyl
verweigert wurde. Amnesty International wendet sich wegen der extremen Gewalt und
1
“'TCK 301, 404 gibi yap
”, Radikal, 7.11. 2007
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instabilen Lage und wegen der weitverbreiteten Verstöße gegen die Menschenrechte in dem
Land gegen alle Abschiebungen in den Irak2. Viele irakische Zivilisten sind von bewaffneten
Gruppen, Koalitionstruppen oder bewaffnete kriminelle Banden in verschiedenen Teilen des
Landes einschließlich des Nordens getötet worden.
Derartige Abschiebungen, die das Leben, die Freiheit oder die körperliche Unversehrtheit der
Betroffenen bedrohen, stellen eine offensichtliche Verletzung der Verpflichtungen der Türkei
nach dem Prinzip des non-refoulement dar. Die Türkei darf keine Flüchtlinge abschieben, über
deren Flüchtlingsstatus noch nicht in einem fairen Verfahren entschieden wurde. Die Regierung
sollte konkrete Schritte unternehmen, um ein faires und effektives nationales Asylverfahren
einzuführen und Flüchtlingen in Übereinstimmung mit internationalen Standards die Möglichkeit
geben, in der Türkei integriert zu werden. Auch bis zur Verabschiedung und praktischen
Umsetzung eines solchen Gesetzes muss die Türkei die Rechte von Asylbewerbern und
Flüchtlingen in vollem Umfang achten, dazu gehört es, die Verfahren des UNHCR zur
Feststellung des Flüchtlingseigenschaften einer Person zu respektieren, die Ansiedlung von
Flüchtlingen in Drittländern zu ermöglichen und das Prinzip des non-refoulement einzuhalten.
Wehrdienstverweigerung
Amnesty International ist besorgt darüber, dass die Türkei das Recht auf Wehrdienstweigerung nicht anerkennt und dass es keine zivile Alternative als Ersatz für den Militärdienst
gibt. Gegen Wehrdienstverweigerer werden weiterhin immer wieder Verfahren eingeleitet. Oft
werden sie jedes Mal inhaftiert, wenn sie sich weigern, den Militärdienst anzutreten und
erhalten bei ihrer Entlassung gleich einen neuen Einberufungsbescheid.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte im
April 2006 im Fall des
Wehrdienstverweigerers Ülke fest, dass diese Praxis der wiederholten Gerichtsverfahren und
Verurteilungen gegen das Verbot der erniedrigenden Behandlung in Artikel 3 der Europäischen
Menschenrechtskonvention verstößt. Dieses Urteil wurde jedoch von der türkischen Regierung
nicht umgesetzt. Osman Murat Ülke wurde aufgefordert sich zu stellen, um die Reststrafe aus
einer vorherigen Verurteilung aufgrund seiner Verweigerung des Militärdienstes aus
Gewissensgründen abzusitzen.
Am 4. Oktober wurde Enver Aydemir wegen Wehrdienstverweigerung vor ein Militärgericht
gestellt. Er wurde freigelassen mit der Auflage, sich bei den Militärbehörden zu melden um den
Militärdienst abzuleisten. Er beharrt jedoch auf seiner Verweigerung des Wehrdienstes.
Die Türkei sollte ihre Bereitschaft zeigen, das Recht auf Wehrdienstverweigerung
anzuerkennen und auf weitere Anklagen gegen Enver Aydemir verzichten. Außerdem muss die
Türkei das Ülke Urteil umsetzen, wie es auch von dem EU-Ministerrat in seiner jüngsten
Interims-Resolution gefordert wurde3. Bei einem vorherigen Treffen des Ministerrats im Juni
2006 hatte die türkische Delegation die Erarbeitung eines Gesetzentwurfes zugesagt, der der
im Fall Ülke festgestellten Verletzung ein Ende machen würde. Die Regierung sollte bestätigen,
dass dieses Gesetz tatsächlich in Arbeit ist und es schnellstmöglich einer öffentlichen Beratung
zugänglich machen.
Zur grundlegenden Lösung der Problematik müssen Gesetze verabschiedet werden, die das
Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkennen und garantieren und
2
Siehe den Bericht von amnesty international: Millions in flight: the Iraqi refugee crisis (AI Index: MDE 14/041/2007, 24
September 2007).
3
Resolution CM/ResDH(2007)109, verabschiedet vom Ministerrat auf dem 1007. Treffen der stellvertretenden Minister am 17.10.
2007.
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eine echte zivile Alternative zum Militärdienst eröffnen, die nicht durch ihre Länge eine
Bestrafung impliziert.
“F-Typ”-Gefängnisse
In den 2000 eingeführten “F-Typ” – Gefängnissen wird für Gefangene, von denen eine Gefährdung der Sicherheit befürchtet wird, die Haft in kleineren Zellen vollzogen, die das alte System
der großen Haftsäle ersetzt haben. Amnesty International ist seit langem besorgt über das
System der „F-Typ“ – Gefängnisse, insbesondere über die dort praktizierten harten und
willkürlichen Disziplinarmaßnahmen und die Isolation der Gefangenen.
In Reaktion auf Beschwerden, dass Gefangene in Isolationshaft gehalten werden und ihnen der
Umgang mit anderen Gefangenen verweigert wird, hat die Regierung im Januar 2007 den
Erlass 45/1 herausgegeben. Darin wird angeordnet, dass Gefangene die Gelegenheit erhalten
sollen, bis zu 10 Stunden in der Woche mit anderen Gefangenen gemeinsam zu verbringen.
Dieser Erlass wird jedoch in den einzelnen Gefängnisses unterschiedlich umgesetzt und vielen
Gefangenen wurden die in dem Erlass geforderten Zusammenkünfte verweigert.
Amnesty International fordert die Regierung auf, die Einzelhaft und Kleingruppen-Isolation als
Strafmaßnahme für Gefangene abzuschaffen und die Zeiten für Zusammenkünfte entsprechend
den internationalen Standards zu erhöhen. Als ersten Schritt sollte die Regierung Maßnahmen
ergreifen, um die volle Umsetzung des genannten Erlasses sicherzustellen, die Gründe
untersuchen, warum er in einigen Gefängnissen nicht befolgt wird und diese Ursachen, die z. B.
in logistischen Problemen oder fehlenden Ressourcen liegen können, zu beheben.
Tötungen unter zweifelhaften Umständen
Amnesty International ist besorgt über die Berichte über Tötungen von Zivilisten durch Sicherheitskräfte, die oft auf einen unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt zurückzuführen sind und
in manchen Fällen sogar den Tatbestand des staatlichen Mordes erfüllen könnten. Untersuchungen waren von zweifelhaftem Wert, da sie heimlich und ohne Benachrichtigung der
Familien durchgeführt wurden, in einigen Fällen hatten die Sicherheitskräfte Beweismittel
„verloren“. Besonders besorgniserregend ist der Tod von Bülent Karaka , der am 27. September 2007 in Hozat in der Provinz Tunceli von einem Militärpolizisten erschossen wurde, weil
er angeblich eine Stopp-Aufforderung nicht befolgt hatte. R za Çiçek, der bei diesem Vorfall
schwer verletzt wurde, gab eine Schilderung der Umstände zu Protokoll, die von der der
beteiligten Soldaten erheblich abwich. Nach seinem Bericht wurden die beiden Männer von der
Militärpolizei aufgefordert, ihre Kleidung abzulegen, bevor auf sie geschossen wurde.
Ebenfalls höchst besorgniserregend ist die Erschießung von Ejder Demir am 13. September
2007 in Özalp in der Provinz Van. Untersuchungen von Mazlum-Der und dem Menschenrechtsverein (IHD), ergaben, dass Ejder Demir in den Tagen vor seiner Erschießung Morddrohungen von der Militärpolizei erhalten hatte. Nach Aussagen von Dorfbewohnern kam am
13. September eine Gruppe von Militärpolizisten in Zivilkleidung und mit einem zivilen Fahrzeug
in das Dorf Yukar Koçk ran und suchte nach Ejder Demir. Es wurde der Vorwurf erhoben, Ejder
Demir sei in den Rücken geschossen wurde – was auch durch den Autopsiebericht bestätigt
wurde. Dorfbewohner berichteten, die Militärpolizisten hätten sie daran gehindert Ejder Demir
zu helfen, indem die sie wahllos in die Luft schossen.
Amnesty International fordert die Regierung auf sicherzustellen dass jegliche Anwendung
tödlicher Gewalt unter Beachtung des Prinzips von Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit und
der Vorgaben von internationalen Standards, einschließlich der Grundprinzipien der Vereinten
Nationen zum Einsatz von Gewalt und Feuerwaffen durch Sicherheitskräfte erfolgt. Alle
Berichte über Erschießungen durch Sicherheitskräfte müssen vollständig, unverzüglich,
unabhängig und unparteiisch untersucht werden.
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Gewalt gegen Frauen
Amnesty International ist besorgt, dass nur unzureichende Maßnahmen ergriffen wurden um
Gewalt gegen Frauen zu verhüten. Zwar gab es Bemühungen die Zahl der Frauenhäuser für
Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt wurden, die Quote von Frauenhäusern pro
Einwohner, die den Gemeinden in einem Gesetz aus dem Jahre 2004 vorgegeben wurde, ist
jedoch bei weitem nicht erreicht. Darüber hinaus sind weitere Bemühungen erforderlich. Auch
der telefonischen Notruf für Frauen, dessen Einrichtung der Ministerpräsident mit Juli 2006 mit
einem Erlass angeordnet hatte, wurde nicht eingerichtet. Amnesty International fordert die
Regierung auf, verlässliche zentrale Statistiken über Fälle von Gewalt gegenüber Frauen
vorzulegen und die Anordnungen des Erlasses des Ministerpräsidenten und des
Gemeindegesetzes von 2004 in der Praxis umzusetzen.
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