1 Albert Ostermaier `Und mein Erstaunen ist noch nicht vorüber

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1 Albert Ostermaier `Und mein Erstaunen ist noch nicht vorüber
Albert Ostermaier
'Und mein Erstaunen ist noch nicht vorüber'
Rede zur Verleihung des Brecht-Preises 2010 am 10.2.2010
Liebe Damen und Herren..
'Laßt eure Träume fahren, daß man mit euch/ Eine Ausnahme machen wird', rät
Brecht in seinem 'Lesebuch für Städtebewohner', 'laßt nur eure Hoffnungen
fahren/ Daß ihr (...) auserwählt seid./ Aber legt euch ordentlich ins Zeug.'
Ich muss Ihnen gleich zu Beginn gestehen: Eher hätte ich damit gerechnet, der
Regen fließe nach oben und der Himmel werde für mich für einen Augenblick
eine Ausnahme zulassen, als dass ein längst abgetaner Traum zurückkehrt und
Sie mich auserwählen, diesen Preis in Händen halten zu dürfen, der den Namen
eines Autors trägt, für den ich mich nicht nur ordentlich ins Zeug gelegt habe,
sondern der für mich darüber hinaus auch ein lebendiger und virulenter
Bewohner meiner Buchstabenstädte war und ist.
Ein Dichter, dessen Bücher mich lehrten, das Leben zu lesen, wie ein Boxer
seinen Gegner liest, und mich gleichzeitig verführten, den Himmel und seine
Wolkenschriften im Wind wie ein Liebender zu lesen: Ich badete zwischen
seinen Zeilen wie in Flüssen, sie rissen mich fort und ermutigten mich, gegen
den Strom zu schwimmen. Sie trugen mich und brachten mich in Gefahr, sie
kühlten die erhitzten Glieder, die Stirn, aber sie waren auch Grenzflüsse, die es
zu überwinden galt.
Brecht schreibt: 'Ihr müsst das ABC noch lernen./ Das ABC heißt: /Man wird
mit euch fertig werden'. Ich dachte, in der Art von Trappatoni, Sie hätten 'fertig'
mit mir: Was erlaube 'Ostermaier'! Ich hätte genauer lesen sollen. Denn in den
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letzten beiden Strophen, gibt Brecht den Traumlosen einen neuen Traum, der
Hoffnung macht: 'Aber das soll euch/ Nicht entmutigen!'
Ja, ich ließ mich nicht entmutigen. Auch nicht von seinem Diktum, ein paar
Zeilen weiter oben-, geradezu ungeheuer oben: 'Denkt nur nicht nach, was ihr zu
sagen habt:/ Ihr werdet nicht gefragt'.
Ich habe auch gegen diesen Ratschlag für einen- nicht mehr ganz so jungenDichter verstoßen und nachgedacht, was ich Ihnen heute sagen mag und soll.
Also habe ich mich befragt und gefragt, warum gerade ich als Sohn eines
Architekten immer wieder auf den gebaut habe und baue, der von sich schreibt:
'In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen'.
Brechts Statik ist das Fließende, sein Fundament die Bewegung, sein Dachstuhl
der Himmel, sein Grundriss das Verwischen der Spuren, seine Sicherheit: dass
alles anders sein kann und alle bleibt anders. Brechts Baustoff ist die Ungeduld
des Wartenden. Er will sich die Hände nicht binden lassen. Er ist er ein Nomade:
Er kennt die besten Weideplätze der Hoffnung, den Wechsel der Jahreszeiten,
die Gewitter am Horizont, den kürzen werdenden Abstand zwischen Donner und
Blitz.
Sein Zuhause ist die Schiffschaukel mit ihren wilden Herzausschlägen, das Sichim-nackten-Himmel-Überschlagen: den Wind zuerst im Gesicht und dann im
Rücken. Das fliegende Haar, die Gefahr. Zugleich das Vertrauen, fest verankert
zu sein. Fest verankert auf dem Boden der Tatsachen und Träume, auf der
Gewissheit, dass der Mensch schweben will, ihm aber auch schwindlig wird
über den Abgründen. Angst kennt Brecht keine, er treibt die Schaukel immer
weiter, immer höher in die Wolken. Sich so im Himmel überschlagend wollte
und hat er einen Boden bereit für die, die mit ihm waren, wie für jene, die nach
ihm kamen und die wie wir keine Nachsicht ob seiner Vor- und Voraussicht
üben müssen.
Brecht war ein Liebender. Manchmal ist die Liebe grausam, manchmal ist sie
kälter als der Tod, manchmal kennt sie keine andere Erlösung als ihn. Aber die
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Liebe ist die schönste Möglichkeitsform des Lebens und sie allein erlaubt ein
Zusammenleben im Anderssein auf Augenhöhe.
Die Liebe kennt keinen Konjunktiv, sie lässt sich nicht beugen oder
geradebiegen, sie ist die Hälfte der Landkarte, die unter unsere Haut liegt und
auf die gemeinsamen Wege ins Glück wartet. Die Liebe verrückt das
Unverrückbare, sie wirft eine Topographie der Träume auf unsere Hirnbahnen,
sie lockt den Stachel. Wenn wir uns ihr verschreiben, dann ganz und gar, mit
Haut und Haar, mit Hirn und Hoffnung, mit Herz und Händen. Brecht schenkte
uns eine Sprache der Liebe, die sich nicht auf Fragmenten beschränkt, dennoch
nichts verwischt oder vertüncht, vielmehr seismographisch die Haarrisse und
Sollbruchstellen aufzeichnet.
Ein Gedicht, das ich oft lese, um mich meiner zu vergewissern oder mich zu
verunsichern, ist 'Vergnügungen'.
Es ist eine Litanei des Glücks, ein Merkzettel für den letzten Weg, es sind
gezählte Atemzüge. Ich lese es immer wieder wie ein Kind, das mit seinen
kleinen Fingern bis zehn zählt und entdeckt: es reicht nicht, es gibt mehr, die
Finger reichen nicht für das, was kommt und zählt. Und selbst wenn ich von
vorne beginne, ist es etwas Neues, Unbekanntes, obwohl mir doch scheinbar
alles so vertraut ist.
Ich will hier ein paar der Zeilen aufnehmen, manche verbinden, andere
auslassen. Und mich fragen: was 'vergnügt' mich an Brecht und mit ihm?
Da ist schon diese erste Zeile, so selbstverständlich und gleichzeitig
atemberaubend wie ein Sonnenaufgang: 'Der erste Blick aus dem Fenster am
Morgen'. Die Zeile steht für das langsame Erwachen der Sinne. Der Blick, der
zunächst verschwommen in die Himmelsflüsse, wird von Augenaufschlag zu
Augenblick deutlicher. Der zweite Blick, der die Konturen des beginnenden
Tages nachzeichnet, das Bewusstsein schärft, die Knoten der Netzhaut fester
knüpft und dann nach innen fällt in die Erinnerung, die nah und näher kommt:
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'Und erinnere mich plötzlich', heißt es bei Brecht in einem anderen Gedicht, 'und
erinnere mich plötzlich des Holders/ Meiner Kindheit in Augsburg.' Denn das
wissen und spüren wir: die Wege der Kindheit laufen durch die eigenen
Blutbahnen dem Herzen zu wie die Flüsse zum Meer.
Meine Großmutter trug mich vom Ammersee nach Augsburg und nahm mich
mit zu ihrem Arzt. Ihr über alles geschätzter Professor gab ihr den für mich, wie
sich herausstellte, lebensweisenden Ratschlag: Geben Sie ihm Schokolade, aber
nur gute! Seitdem bedeutete Augsburg die Schokoladenseite meiner Kindheit.
Natürlich war es am Anfang nur süßeste Vollmilch. Später wandelte es sich in
Zartbitter. Schließlich und schlussendlich wurde es Bitter.
Als Schüler saß ich im alten Kaffee Drexl auf den roten Ledersesseln und
träumte mich als kommender Dichter in ein Literaturcafé. Ich schloss die
Augen, da saß Brecht plötzlich neben mir, und ich hoffte in meinem
jugendlichen Übermut, er nähme mich bei der Hand wie einst Vergil den armen
Dante, als er ihn durch das Inferno führte.
Brecht, der schon als Schüler zur Gitarre sang und so die Mädchenherzen
bezwang, die sich meinen Gitarrenkünsten verschlossen bzw., während ich sang,
Kuchen mit Sahne aßen wie meine große Schulliebe. Sie kaute, aber ich hatte
noch lange daran zu schlucken. Und so sagte ich mir: Lass es sein mit der
Gitarre, verwisch die Spuren. Aber da hatte ich schon einen neuen Traum: Ich
wollte Gedichte schreiben und kein Kind von Traurigkeit bleiben.
Die Kindheit, das ist das Jod auf den blutenden Knien, aber auch der Stein, der
geworfen werden will. Gedichte, Lyrik ist Innen- und Außensicht, also: Einsicht.
Lyrik ist ein Fenster. Es kann beschlagen sein, zerkratzt, voller Eisblumen, es
kann Sprünge aufweisen von Geschossen, es kann beworfen sein mit Dreck, es
kann die Sonne spiegeln oder die verschmierten Buchstaben von Kinderhand.
Sicher ist: Dahinter liegt immer die Welt.
Brecht begeisterte mich von der ersten Zeile an.
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Dieser junge Brecht, der sich als Marke inszeniert: der zu große Ledermantel,
der geschorene Kopf, die lässige Beiläufigkeit, die provokanten Augen, die
Verse wie präkordiale Faustschläge auf die Stillstandsseligkeit der Gesellschaft.
Diese gespannten Sehnen kurz vor dem Sprung. Die Kälte aus den
Gefrierkammern zwischen seinen Herzwänden. Der Sound seiner Zeilen, wie
auf Stahlsaiten geschrieben, die Gitarre, die knurrige Stimme. Die schnellen
Autos, die wechselnden Verträge, die Frauen und Lieben. Die Furchtlosigkeit
gegenüber
dem
Trivialen,
der
Hass
auf
das
Bestehende
und
die
Stehengebliebenen. Wenn man ihn so sieht und hört, den jungen Brecht, dann
vergisst man, wie lange das her ist. Seine Person, sein Werk sind mir
gegenwärtiger als meine eigene Kindheit. Er ist jung geblieben. Man möchte ihn
anrufen. Er schriebe eine SMS zurück.
Brecht war Pop avant la lettre, ein Beatle vor den Beatles, ein Punk vor den
Punks, ein Gangsterrapper vor allen Gangsterrappern, er hatte von Anfang an
Streetcredibility, und seine Hauspostille ist immer noch das beste Songbook.
Unzählige junge Dichter haben und werden nach diesem Buch das Schreiben
lernen, die Musikalität der Sprache erfahren. Die Kraft, zu benennen und die
Welt als veränderbar zu erfinden.
Oft ist die Lyrik Brechts geradezu prophetisch für unsere Zeit, ihre Perversionen
und ihre Migrationsströme, ihre Megastädte und monolithischen Blöcke. In dem
Gedicht „Exil“ etwa: „Ihr seid wie die Leute, die an den Meerstrand kommen/
Wollen hinüber und haben nur einen Löffel/ Das Meer auszuschöpfen. Oder wie
Leute/ Die aus einem Turmhaus fallen und im Sturze nachdenken/ Wie sei höher
zu bauen wären“. Könnte man es treffender auf den Schmerzpunkt bringen?
Brechts Literatur verfremdet zur Kenntlichkeit und macht das Gekannte fremd.
Wie im Lesebuch für Städtebewohner eingefordert, redet wie die Wirklichkeit
selber. '(Die nüchterne, durch deine besondere Artung unbestechliche/ Deiner
Schwierigkeit überdrüssige)/ Die du mir zu erkennen scheinst.' Die Aufgabe ist,
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sie zu erkennen und das Unbekannte kenntlich zu machen, das Unsichtbare
offensichtlich.
Wer als Autor Haltung bezieht, das wusste er nur zu gut, dem sitzt immer „als
letzter Gesellschafter“ das Nichts gegenüber. Wer Haltung zeigt, riskiert das
Gelächter der Nachgeborenen, wenn er für das Lachen der in eine gefährdete
Welt Geborenen kämpft: indem er die Zustände angreift, macht er sich und seine
Standpunkte angreifbar und grenzt sich ab von denen, die sich zwischen den
Zeilen verstecken.
Brecht hatte nicht nur Kopf, er hielt ihn auch hin. Das kostete Kraft, das ließ und
hieß ihn manchmal, die ihm Nahesten zu vernachlässigen oder zu enttäuschen,
weil ihm Ungerechtigkeit unerträglich war. Seine größte Nähe war somit oft die
Abwesenheit.
Auch wenn er kühl bis unterkühlt wirkte, eher kalt als heissblütig: Brecht
brannte wie seine Lyrik. Er konnte Feuer schlucken – nur am Ende, so scheint es
durch manche Zeilen, verbrannte er von innen an diesem grauen Schwelbrand
der Desillusionierung. Doch selbst dann noch, in den 'Buckower Elegien' - the
best sound next to silence- sind seine Verszeilen Sinnstränge: sie sprechen all
unsere Sinne gleichermaßen an, sie stiften in ihrer Sinnlichkeit Sinn und mit
ihrem Sinn Sinnlichkeit. Sie sind politisch, weil es politisch ist, zu lieben und
eine Lust. Sie machen Lust, politisch zu denken, wenn Politik heißt, den
Menschen zu lieben ohne Erklärung.
Aus meiner persönlichen Sicht wird Brecht leider oft falsch gelesen und deshalb
auch falsch verstanden. Gerade seine Stücke.
Wir begeistern uns an der zeitlosen Gültigkeit und Verlorenheit der Figuren
Tschechows, an ihrer sympathischen Ohnmacht, ihrem Ge- und Verworfenheit
in eine Welt, deren Haltegriffe sich aus dem Himmel gelöst haben. Aber all das
finden wir auch bei Brecht: Wenn müssen nur den 'Radwechsel' lesen, den er
mit Ungeduld betrachtet. Lässt sich denn treffender beschreiben, woran wir
heute leiden?
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Es ließe sich aus den Gedichten ein sehr zeitgenössisches Stück bauen, das uns
näher käme, als manche es aushalten könnten. Diese Gegenwart findet sich
genauso in den Stücken, sogar den späten und ist dort präzise verortet: wenn
man sie gegen den Strich und mit Strichen ließt. Wenn man sie als episch
begreift. Wenn wir in ihnen so neben der Rollen stehen dürfen, wie wir es im
Leben gezwungenermaßen oft und freiwillig viel zu selten tun.
Brechts Stücke brillieren durch Präzision, Position und Poesie. In ihnen schlägt
das Herz wie eine geballte Faust. Sie mobilisieren gegen eine Wirklichkeit, die
als veränderbar zurück gewonnen werden will, sie untersuchen die Kältegrade
der Formstrenge, verfremden das Vertraute und machen uns vertraut mit der
Anarchie des Wünschens und Werdens.
Politisches Theater muss nicht langweilen, vereinfachen, es muss aufregend sein
in seiner vitalen Komplexität, in seinen erlebbar gemachten Widersprüchen, in
seinen Fragen, die keine Antwort wissen, vielmehr sie suchen im Spiel. Mich
fasziniert dieser Brecht, der unergründliche, der aber Gründe hat und Gründe
gibt, sich mit ihm und der Welt auseinanderzusetzen.
Brecht ist niemandes Eigentum. Aber er verpflichtet. Er verpflichtet uns, ihn
immer wieder neu zu entdecken und mit ihm das Abenteuer zu suchen.
Ich fürchte, ich habe den Faden der 'Vergnügungen' verloren. Vielleicht weil es
mir solch ein Vergnügen bereitet, über Brecht und dieses Gedicht
nachzudenken, ihn zu lesen, mit ihm zu streiten, von ihm zu lernen. Mir von ihm
etwas sagen oder gar nichts sagen zu lassen.
Aber vielleicht habe ich doch schon über all die Begriffe gesprochen, wenn auch
nicht direkt. Vielleicht fürchten einige von Ihnen sogar, dass ich immer noch bei
der ersten Zeile sei, der im Gedicht noch zahlreiche folgen...
Bücher, begeisterte Gesichter, Dialektik, Schwimmen, Begreifen, Schreiben,
Reisen. Das hatte ich alles, glaube ich.
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'Pflanzen': dazu fällt mir nichts ein. Außer, dass bei mir nur ein Kaktus
überlebte, der mir beweisen wollte, dass er auch gegen meine Widerstand
blühte.
'Bequeme Schuhe': das hat für mich, wen wird es wundern, mit Fußball zu tun.
Das ist der Stiefel, den ich mir am liebsten anziehe. Fußball ist wie Brecht, man
weiß nie aus welcher Richtung der Ball kommt. Fußball ist politisch. Und das
möchte ich hier einmal sagen: niemand weiß so aufrichtig, so mutig und
entschieden, so geballten Herzens mit dem Fußball für das zu kämpfen, für das
auch Brecht kämpfte, wie Theo Zwanziger. Sein Einsatz, seine Haltungsstärke
gegen Diskriminierung und Rassismus, seine fordernden Freundlichkeit, das
finde ich sehr brechtisch. Und er hätte es auch geschafft, dass sich Brecht für
Fußball begeistert und uns in der Autorennationalmannschaft die Stammplätze
streitig macht mit seinen Übersteigern und Traumpässen in die Tiefe des Raums.
Was fehlt noch an Begriffen? Ja: Singen, Alte Musik, Neue Musik. Wobei ja
alles bei Brecht Musik ist. Selbst die Lehrgedichte. Ja, selbst die: Mit erhobenen
Zeigefinger lässt sich nämlich schlecht Gitarre spielen. Es sei denn, man drückt
den Zeigefinger der linken Hand über alle Saiten, bis er auf keinen mehr zeigt,
sondern auf die restlichen Finger wartet und den Akkord, der so entsteht. Will
sagen: Man muss nicht immer Brecht gegen Brecht ausspielen. Seine Musik:
Manches Lied ist ein Hit, manches ist Shit. Manches lässt uns kalt, anderes treibt
uns die Hitze in den Kopf und alle Glieder.
Brecht hat die deutsche Sprache revolutioniert, denn er hat sie zu einem
Instrument gemacht. Zu einer Sprachmusik, die einfach, also singbar ist. Die
zugleich atemberaubend komplex, also denkbar ist.
Brecht hat erkannt, dass Musik nicht nur verführt, vielmehr die Sinne dorthin
führt, wo Kopf und Herz kein Gegensatzpaar mehr sind, sondern zwei Lippen.
Dorthin, wo der Bauch denkt und das Hirn fühlt. Wo es vielsaitig zu- und zur
Sache geht. Brecht wusste, dass die Musik uns für die Sprache öffnet und eine
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Sehnsucht in uns anspricht nach Mitsingen und Mitdenken. Musik ist polyphon,
mehrstimmig, wie Brechts Literatur.
Musik sucht den Adressaten. Musik lädt ein mitzumachen, statt auszuschließen.
Musik ist verstehbar, selbst wenn man kein Wort versteht. Musik kann politisch
sein und werden, weil sie Slogans und Inhalte zu Ohrwürmern dreht oder alle in
einen Chor zwingt. Musik ist Manipulation, kann Rausch sein, Weltflucht,
Droge, Folter. Brecht hat sie für sich zu nutzen verstanden: als Verführer der
Herztöne, als Sänger der Wahrheit, als Drehorgelmann und Politeinpeitscher.
Er hat Musik verwendet als Verfremdung und Desillusionierungsmaßnahme, als
Erfolgsgarantie, als Kontrafraktur, als Waffe der Stimmlosen und als Stimme
der Wehrhaften, er hat sie mit seiner Sprache geformt zu Schlagern,
Kirchenliedern, Volksliedern, Kinderhymnen, Chorälen, Gesängen, Liturgien,
Protest- und Wiegenliedern. Er wusste, durch die Musik kommen seine Gedichte
weiter als nur von Lippen zu Lippen. Musik, das sind die Flügel am
Zeilenanfang und -ende. Musik kennt- wie gesagt keine Angst vor Trivialem,
keine Grenzen und hebt so auch die Grenzen der Sprache und die Grenzen der
Gedichte auf. Brecht zu lesen ist deshalb fast so, als machte man Musik mit ihm.
Ich hätte nie meine Stimmen finden und erheben können ohne die, die
mich dazu ermutigten, im Stillen wie im Lauten: die ohne Worte Wort und mich
hielten. Es ist dieses einzigartige verborgene Orchester aus Familie und
Freunden, Feinden und Fühlenden, das die Musik erst hörbar werden lässt. Es ist
das Zusammenspiel und zusammen spiel, das die Musik und die Sprache macht.
Jetzt fehlt nur noch eine Zeile, die letzte Zeile des Gedichts, wobei ich auch die
schon gestreift habe: 'Freundlich sein'.
Vielleicht wäre das Freundlichste, jetzt zu schweigen.... Denn ich habe Ihre
Zeitkonten schon zu deutlich überzogen. Aber: Sie waren so freundlich, mir
diesen Preis zu geben, und dafür möchte ich mich bedanken.
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Nichts ist so erfreulich und herzerfrischend wie eine unerwartete Freundlichkeit.
'Und nimm dir sein Geld', schreibt Brecht, 'Du darfst es.'
Freundlichkeit ist unbezahlbar: Sie ist der Gewinn des Herzens. Und deshalb
freue ich mich aufrichtig aus ganzem Herzen über diesen Preis! Danke! Danke
Ihnen. Danke, Bert!
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