Filmkritik zu „Birds of America“

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Filmkritik zu „Birds of America“
Vorabbemerkung:
Wer völlig unvoreingenommen BoA sehen möchte, sollte jetzt mit dem Lesen aufhören. Wer
meint, nur weil die Lieblingsschauspielerin in einem Film mitspielt, darf man sich keine Kritik
erlauben, der sollte spätestens JETZT mit dem Lesen aufhören. Und wer meint, man könne
einfach nur sagen, daß es „absolut total supiiii klasse ist“, der sollte auch mit dem Lesen
aufhören, denn mit dem Wort „Kritik“ ist eigentlich klar, was den Leser nun erwarten wird.
Wer jetzt bis HIER HER gekommen ist, sollte gerne weiterlesen:
Wer andere Filmeindrücke hat, der soll mir gerne eine Email schreiben, dann können wir einen
„konstruktiven Meinungsaustausch“ vornehmen. Und ja, allein, weil Lauren Schuhe und keine
Flip Flops in dem Film trägt, ist er zu empfehlen.
Filmkritik zu „Birds of America“
„Stillstand ist der Tod,
geh voran,
bleibt alles Anders…“
Herbert Grönemeyer
Morrie wartet! Darauf, dass sich seine hartnäckige Verstopfung löst, er eine
Festanstellung an der Uni bekommt, er die Hypothek des elterlichen Hauses
abbezahlen kann. Dass sein Leben endlich in Fahrt kommt.
Betty, seine Ehefrau, wartet auch, dass Morrie sich bereit erklärt, mit ihr Kinder
haben zu wollen. Doch ohne Festanstellung, ohne finanzielle Sicherheit im Leben,
will Morrie sich auf dieses Unterfangen nicht einlassen.
So lebt Morrie seine Verstopfung in doppeltem Sinne: weder hinten noch vorne will
was rauskommen.
Und Morrie muss sich um seine Geschwister kümmern, die beide nicht in, sondern
neben der Spur des Lebens fahren. A lle warten und der Zuschauer wartet mit!
So kurz Umrissen ist die Situation im Film „BoA“, in dem Matthew Perry die Rolle des
Morrie und Lauren die Rolle der Betty übernommen haben.
BoA ist ein typischer „Independent“ Film, nicht für das große Kinopublikum konzipiert
und gedreht, sondern für die kleinen intellektuellen Fimfestivals. Für ein Publikum,
das die Symbole -Bildsprache eines Filmes schätzt und deuten mag.
Denn von Symbolen lebt der Film: während Morrie täglich auf der Toilette sitzt und
versucht, seiner Darmtätigkeit auf die Sprünge zu helfen, scheißt der kleine Hund
des Nachbarn i hm regelmäßig unverblümt in den Vorgarten. Besagter Nachbar ist
aber für die Beförderung an der Uni notwendig und so wird gekatzbuckelt, was das
Zeug hält.
Morrie wird langsam aus seinem Leben gedrängt. Selbst nachts wird er von Betty an
den Bettrand gezwängt.
BoA beschreibt die Sehnsucht der amerikanischen Mittelklasse nach Stabilität und
Anerkennung. Und er beschwört den Familiesinn herauf. Egal, wie kaputt eine
Familiensituation auch scheint, Blut ist dicker als Wasser und am Ende siegt der
Familienwille.
Matthew Perry spielt Morrie entsprechend „verstopft“: kaum Körpersprache, wenig
Mimik oder Gestik, ängstlich wartend auf das, was kommen mag. Der Schauspieler,
der eigentlich für seinen Charme und seine ausladende Gestik bekannt ist, muss sein
Ego hinter die Fassade dieses unsicheren Mannes stecken, der erst durch einen
Joint und Alkohol aus der Reserve gelockt werden kann.
An dieser „Verstopfung“ leidet aber auch der Film. Obwohl es lobend anzumerken ist,
dass der Film mit langen Einstellungen und entsprechenden Schnitten kein großes
Erzähltempo entwickelt und sich daher von den heutigen Filmen unterscheidet, die
eine rasende Bilderflut über den Zuschauer ausgießen, bleibt die Spannung zuweilen
dadurch auf der Strecke.
Ebendiese Verweildauer in den jeweiligen Situationen lassen keinen rechten
Fortgang zu.
Erst in besagter geschwisterlichen Kiff-Szene entwickelt der Morrie-Charakter
Lebensenergie. Man glaubte schon, Matthew Perry wäre das Lachen gründlich
vergangen.
Betty, die anfänglich noch mit süßer Stimme versucht, den abgedrehten
Geschwistern entsprechend zu begegnen, verliert plötzlich auch ihre Maskenhafte
Statur und wendet sich aus diesem Stillstand heraus.
Laurens Präsenz im Film ist für einen Fan natürlich zu wenig, aber sie setzt ihre
Akzente entsprechend ein. Das überschwänglich-süße an Betty, die fipsige Stimme,
das jeden umgarnende, bricht plötzlich völlig auseinander. Von den beteiligten
Personen ist Betty die erste, die versucht, durch Aktion Veränderung
herbeizuschaffen.
Dass sich unter dieser netten Hülle eine Menge Wut und Frust angestaut hat, bringt
Lauren in einer kurzen, aber heftigen Szene zum Ausdruck.
Natürlich legen wir bei dem Film unser Augenmerk auf die Dynamik zwischen Perry
und Graham, denn wie wir alle wissen, waren die beiden für kurze Zeit ein Paar und
schon hofft man etwas von der vergangenen Liebe zu erhaschen. Blicke, Hände,
Küsse, alles wird mit Argusaugen beäugt.
Doch die beiden spielen ihre Rolle souverän. Die Ehe zwischen Betty und Morrie ist
geplant, läuft in seinen Bahnen, hat seine Ziele, seine Wünsche, nur langsam
verlieren diese beiden das Gefühl füreinander.
Betty will ein Kind, ihre Sorge gilt ihren vielleicht nicht mehr ausreichenden Eiern.
Morrie will Betty und die Sicherheit, dass seine kaputte Jugend, seine vielleicht
defekten Familiengene sich nicht auf sein Kind übertragen werden. Morrie hat
Sorgen und die drücken ihm die Eingeweide ab.
Nach „Little Miss Sunshine“ schien das Konzept einer etwas schrägen Familie mit
Familienmitgliedern, die sich ihre eigene Welt erträumen und mit der Realität ihrer
Umwelt umgehen müssen, als vielversprechendes Filmkonzept. Und seit „Juno“
wissen wir, auch Auße nseiter haben genügend Charme, um ein Kinopublikum zu
begeistern.
BoA ist ein Familienpsychogramm, dem aber in letzter Konsequenz der „gewisse
Pepp“ fehlt. Die Regie bleibt zu sehr im „Jetzt “ stecken, die Gegensätze werden
episch breit ausgearbeitet, damit ein jeder versteht, welche Kräfte in dieser Familie
wirken.
Bruder Jay erschafft sich seine eigene Welt, in der er Menschen berühren will, keine
Tiere isst und nichts ausbeuten möchte. Schwester Ida versucht über wahllose
sexuelle Kontakte dem Leben zu entwischen. Und Betty machten eine neue
Waschmaschine und ein Trockner glücklich. Weil alles frisch duftet und sauber ist.
Das Ensemble spielt schlüssig, Hillary Swank als Star-Aushängeschild mimt die
überzogene Nachbarsfrau, die an Süßheit und Perfektionismus kaum zu überbieten
ist. Aber ehrlich, dafür hätte es keine Hillary Swank gebraucht.
Obwohl es eine Wohltat ist, Lauren endlich in einem Streifen zu sehen, der
schauspielerische Nuancen fordert und fördert, fragt man sich hinterher aber doch,
ob für den Film nicht mehr drin gewesen wäre. Es wundert von daher nicht, dass
man leider keinen Verleiher finden konnte und der Film direkt auf DVD laufen wird.
Der Mut, im Endeffekt etwas wirklich Schräges oder Berührendes zu präsentieren,
fehlt der Regie. Da nützt auch die Schlusseinstellung nicht, dass Morrie endlich seine
Verstopfung überwinden kann.
Trotzdem ist der Film sehenswert und lässt Lauren Fans Augen endlich wieder etwas
funkeln. Das Wort „Fuck“ so ärgerlich aus ihrem Munde zu hören, war die Sache
wert.
© Koile 2008
BoA = Kurzform für „Birds Of America“