Zwischen Khalil Gibran und Super Nanny
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Zwischen Khalil Gibran und Super Nanny
Zwischen Khalil Gibran und Super Nanny Familien im Spiegel der Sinus-Milieuforschung „Und ein Weib, das sein Kind an der Brust hielt, sagte: Rede uns vor den Kindern. Und er sprach also: Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Es sind die Söhne und Töchter von des Lebens Verlangen nach sich selber. Sie kommen durch euch, doch nicht von euch. Und sind sie auch bei euch, so gehören sie euch doch nicht. Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, doch nicht eure Gedanken. Denn sie haben ihre eigenen Gedanken...“ Für alle jungen Eltern in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in meinem Bekanntenkreis – und viele von ihnen waren MitarbeiterInnen in Kirche oder Caritas – gehörte dieser Text des Propheten Khalil Gibran zu den „Evangelien“. Er drückte wie wenige andere aus das angestrebte Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern, er prägte das Bild einer „guten Familie“. Dieser Text kam mir vor einigen Tagen wieder in Erinnerung, als das Institut Sinus Sociovision erste Ergebnisse einer Studie für die Konrad-Adenauer-Stiftung vorstellte: Was wollen Eltern – was brauchen Eltern? Diese Studie wird Ende 2007 veröffentlicht, und sie wird die großen Differenzen dokumentieren zwischen unterschiedlichen Familienvorstellungen, z. B.: Was ist eine „gute Mutter“? Oder: Welche Bedeutung haben Kindern für ihre Eltern? Übrigens wurde im Rahmen dieser Präsentation deutlich: Die Haltung, die durch den Text von Khalil Gibran skizziert wird, gilt für höchstens 10% der Eltern in Deutschland. Die Sinus-Milieus geben der gesellschaftlichen Pluralität Gesichter Das sozialwissenschaftliche Konzept der Sinus-Milieus bietet seit mehr als 25 Jahren eine wissenschaftlich anerkannte fundierte Beschreibung und Analyse der Lebenswelten der deutschsprachigen Wohnbevölkerung ab 14 Jahren (bis 1990 allein in West-Deutschland, seit 1991 in Gesamtdeutschland.). Auf der Basis von jährlich mehr als 1.000 qualitativen Interviews werden induktiv die sozialen Milieus und ihre Entwicklungen analysiert. Auf der Basis von jährlich mehr als 100.000 quantitativen Befragungen wird die prozentuale Verteilung der Menschen in Deutschland im Raum dieses Milieumodells ermittelt. Die Darstellung der Sinus-Milieus erfolgt durch eine Vielzahl von Lebenswelt-Bausteinen. Aus diesen Lebenswelt-Bausteinen haben für unsere Rezeption des Grundlagenmodells vor allem folgende Bausteine eine besondere Relevanz: Werteorientierungen, Soziale Identität, Lebensstile, Alltagsästhetik, Sehnsüchte und Tagträume. Und nun rückt durch die Studie für die Konrad-Adenauer-Stiftung auch die Bedeutung von Kindern in verschiedenen sozialen Milieus ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dazu einige Beispiele: Die Postmateriellen Ich habe eine Vision vom „guten Leben“ – für mich selbst und für die Gesellschaft: Im Zentrum stehen Selbstverwirklichung und aufgeklärte, gerechte soziale Verhältnisse. Ich bin permanent auf der Suche nach meinem Lebenssinn – und ich bin glücklich, wenn ich mich spirituell und erkenntnismäßig weiterentwickle. Kinder sind ihre eigenen Wesen, die wir auf ihrem individuellen Weg begleiten können. Die Bürgerliche Mitte Ich bin eingebettet in eine glückliche Partnerschaft, in meine Familie und in einen breiten Freundeskreis. Dort finde ich Harmonie und Balance. Wir sind glücklich, wenn wir uns in unseren Kindern wiedererkennen können. Damit sie „gelingen“, investieren wir viel Zeit und Geld in sie. Die Konsum-Materialisten Es ist schwer, einen Sinn im Leben zu finden. Ich mache mir keine Illusionen und habe keine großen Ziele. Das Wichtigste ist: Nicht aufgeben, den Alltag bewältigen, die Kraft zum Durchhalten nicht verlieren. Kinder können mein Leben sinnvoller machen - aber sie sind eine zeitliche und finanzielle Belastung. Die Hedonisten Mein Leben hat nur dann einen Sinn, wenn ich authentisch, frei und anders bin. Es hat Sinn, wenn ich meine innere Energie ungefiltert und unkontrolliert ausdrücken kann. Dazu brauche ich immer neue Stimulationen von außen. Kinder sind etwas Tolles – aber sie begrenzen meine Freiheit und Unabhängigkeit. In mehr als 30 Veranstaltungen in den vergangenen drei Jahren haben Fachkräfte der Caritas nach einer intensiven Befassung mit dem Sinus-Milieuinstrument ihre eigene Milieulogik reflektiert und die ihrer KlientInnen. 70 – 80 % von ihnen haben sich den Milieus der Bürgerlichen Mitte oder der Postmateriellen zugeordnet und viele ihrer Klientinnen den Milieus der Konsum-Materialisten oder der Hedonisten. Die Spannung, die durch das Modell der Sinus-Milieus entsteht, wird vor allem produziert durch die belegte und immer neu belegbare These von der Eigenlogik der Lebenswelten in Bezug auf ihre Sinn- und Wertehorizonte und ihre Kommunikationsweisen. Für die Kommunikation von MitarbeiterInnen in den Einrichtungen und Diensten der Caritas ergibt sich vor dem Hintergrund dieses Modells die zentrale Frage: Wie erreiche ich mit meiner Botschaft die Menschen, die mir in ihrer Art fremd sind und denen ich in meiner Art fremd bin? Wie kann ich meine Botschaft so kommunizieren, dass diese von ihnen in ihrem Sinnund Wertehorizont positiv eingeordnet werden kann? Wie erreichen wir die Eltern? In einer Pilotstudie für die Katholische Sozialethische Arbeitsstelle (als Download unter obigem Titel unter www.ksa-hamm.de abrufbar) hat das Institut Sinus Sociovision im Jahr 2003 Mütter aus den Milieus der Konsum-Materialisten und Hedonisten nach ihren Erziehungszielen und Erziehungsstilen befragt. Dr. Carsten Wippermann fasst die Befunde wie folgt zusammen: Hedonisten Biographische Zäsuren wie die eigene Elternschaft erzwingen eine Umstellung der Alltagsorganisation und des Lebensstils. Bei Müttern aus dem hedonistischen Milieu erzeugt dies massive Konflikte zwischen der eigenen Grundorientierung und ihrer neuen Lebenslage. Durch den Alltag mit Kindern können sie ihren erlebnisorientierten Lebensstil nicht mehr (aus)leben. Ihre Lebenswelt ist zunehmend auf die eigenen vier Wände beschränkt, nur selten noch können sie „auf die Piste gehen“. Sie empfinden ihre neue Lebenslage als massive Einschränkung elementarer Bedürfnisse und als Angriff auf ihre Identität: Durch den Alltag mit Kindern haben sie – im Vergleich zu früher – kaum noch Zeit für sich selbst, fühlen sich in ihrer Freiheit und Freizeit eingeschränkt, an Haus und Haushalt gefesselt und beklagen den Verlust vieler Freunde. Zugleich schränkt das Leben mit Kindern ihren engen finanziellen Spielraum weiter ein. Sie werden von ihren Eltern wieder sozial und materiell abhängig, und sie sind mitunter auf Unterstützung durch das Sozialamt angewiesen. Vom Alltag mit Kind fühlen sich hedonistische Mütter massiv überfordert. Sie meinen, dass ihr Grundbedürfnis nach einem lustbetonten Leben in ihrem Alltag aber nicht mehr zum Zuge kommt und von ihnen selbst unterdrückt werden muss. Die hermeneutische Analyse zeigt dagegen, dass ihr Umgang mit Kindern durchaus von hedonistischem Pragmatismus geprägt ist. Mütter aus dem hedonistischen Milieu delegieren ihre Verantwortung für das Kind meist latent, zum Teil aber auch bewusst an Ärzte, Pädagogen, die Gesellschaft – oder das Kind selbst. Subjektiv lieben sie ihre Kinder „über alles“ und verorten sie im Zentrum ihres Lebens. Sie spüren diffus, dass ihre Erziehung nicht gesellschaftlichen Erwartungen entspricht und sie mehr für ihre Kinder tun könnten oder sollten. Doch an diesem Punkt endet ihre Reflexion mit den Diagnosen der eigenen Überforderung, der Verweigerung gesellschaftlicher Erziehungsnormen sowie Ratlosigkeit. Fatalismus, Externalisierung von Schuld sowie ein permanent schlechtes Gewissen, das ohne praktische Folgen bleibt, sind normale Befindlichkeiten hedonistischer Mütter. Zu Strukturen und Routinen des Alltags entwickeln sie ein ambivalentes Verhältnis. Früher wurden Zwänge des Alltags nur als Gängelung einer spießbürgerlichen Gesellschaft empfunden. Durch das Kind sind sie nun massiv in die Pflicht genommen und ganz neuen, starken Erwartungen ihrer Umwelt ausgesetzt. Sie erfahren die entlastende Wirkung einer „geregelten“ Alltagsorganisation, die dem eigenen Leben Halt gibt und die Versorgung des Kindes sicherstellt. Doch zugleich spüren sie ihre „instinktive“ Abneigung gegenüber Routinen, äußeren Zwängen und sozialen Erwartungen. So ist ihr Verhältnis zu ihrem eigenen Alltag und zu ihrer Erziehung von Ambivalenz geprägt. Konsum-Materialisten Die Geburt eines Kindes und die Umstellung der Alltagsorganisation erzeugt bei Müttern aus dem konsum-materialistischen Milieu keine Konflikte mit ihrer Grundorientierung und ihrem Lebensstil. Sie hadern nicht mit verpassten Chancen, sondern akzeptieren klaglos die traditionelle Rollenteilung und machen es sich in ihrer Zuständigkeit für Haushalt und Kinder bequem. Subjektiv leiden viele massiv unter ihren (früheren und derzeitigen) Partnern, von denen sie nicht selten betrogen, emotional (und körperlich) misshandelt, mit den Kindern allein gelassen und verlassen sowie finanziell ausgebeutet wurden. Sie sehen sich in der Rolle der „Glucke“, die ihre Kinder umsorgt mit dem Ziel, die Kinder vor den Eskapaden und Verletzungen der Väter und Männer zu schützen. Fürsorge besteht für konsum-materialistische Mütter in überbordendem Konsum: den Kindern all das kaufen, woran sie Spaß haben. Die Mütter haben keine eigenen Ziele und Strategien der Erziehung. Erziehung ist für sie keine Aufgabe, über deren Verantwortung sie sich Gedanken machen. Subjektiv lieben sie ihre Kinder, aber sie setzen sich mit den Entwicklungsstadien von Kindern und den Bedürfnissen, Talenten und Schwächen ihrer eigenen Kinder nicht auseinander. Die Kinder sind einfach da und werden mit Minimalaufwand versorgt. Wenn sie Prinzipien im Umgang mit ihren Kindern nennen, dann sind dies adaptierte Werte einer traditionellen Moral und eines autoritären Erziehungsstils: Ordnung, Fleiß, Disziplin, Höflichkeit. In der Praxis setzen sie ihren Kindern keine Maßstäbe und Grenzen, die sie kontrollieren (Ernährung, Freizeit, soziale Kontakte, Medien, Fernsehen, PC/Internet). Die Mütter kuscheln gern mit ihren Kindern (v.a. mit Mädchen, in denen sie eine Prinzessin sehen), doch das ist primär ein Bedürfnis der Mutter und nicht des Kindes. Diese Augenblicke zärtlicher Zuwendung sind selten und stehen im Gegensatz zur oft groben Art des Umgangs (v.a. mit Jungen). Anfragen ihrer Kinder nach Aufmerksamkeit und gemeinsamer Aktivität sind den Müttern meistens unwillkommen und werden abgewehrt. Nach Erledigung des Pflichtprogramms im Haushalt wollen sie in Ruhe gelassen werden. Eine fachliche und/oder anwaltliche Hilfe der Caritas für Familien kann mit dem Instrument der Sinus-Milieus ihr Wissen über die Lebenswelten und sozialen Identitäten ihrer KlientInnen oder MandantInnen erweitern und vertiefen. Sie wird vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der Lebensweltforschung ihr Methodenrepertoire überprüfen und korrigieren müssen. Vor allem aber führt die Arbeit mit den Sinus-Milieus Akteure der Caritas zu einer Reflektion ihrer Wertschätzung gegenüber Menschen aus anderen Lebenswelten: Bin ich als DienstleisterInnen oder als Anwalt bereit, auch den Eltern meine volle Unterstützung zu geben, die dezidiert andere Vorstellungen über ein gelingendes Leben, über die Rolle von Männern und Frauen oder über eine „gute Erziehung“ haben?