Lebensstile und Milieus als Dimension sozialer - Phil.-So.

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Lebensstile und Milieus als Dimension sozialer - Phil.-So.
Universität Augsburg
Lehrstuhl zur Soziologie
PS: Einführung in die Soziologie sozialer Ungleichheit
Dozent: Sasa Bosancic
Referenten: Markus Denk, Martin Munk, Alexander Möllmanns
04.06.2007
SS 2007
Lebensstile und Milieus als Dimension sozialer Ungleichheit
1. Lebensstile
1.1. Früher
Begriff „Stil“ bis 17. Jahrhundert auf Sprache und Schrift bezogen, danach auch für bildende Kunst
18. Jahrhundert: „Stilistischer Pluralismus“ (Annäherung an heutige Bedeutung von Lebensstil)
Weber (1922): „Lebensführung“ (charakteristisches Merkmal eines Standes)
Simmel (1900): Einzelner versucht durch Lebensstil Identität zu finden
Veblen (1899): Spezifischer Stil der „feinen Leute“
1.2. Heute
Hillmann (1994): „Ausdrucksformen der alltäglichen Daseinsgestaltung in ganzheitlich-umfassender Weise“
Hradil (1992): „Der Lebensstilbegriff … konzentriert sich auf die Prinzipien, Ziele und Routinen, nach denen die
Einzelnen ihr Leben relativ beständig ausrichten“
Müller (1992): „Raum-zeitlich strukturierte Muster der Lebensführung, die von materiellen und kulturellen Ressourcen,
der Familien- und Haushaltsform und Werthaltungen abhängen“
1.3. Funktionen
Sichert Verhaltensroutine (Handlungsorientierung im Alltag)
Zugehörigkeit zu, bzw. Abgrenzung von sozialen Gruppen
Fördert soziale und persönliche Identität
1.4. Vorteile von Lebensstilmodellen gegenüber den früheren Klassen- und Schichtungsansätzen
Weniger objektive Betrachtung (Einkommen, Beruf)
Schwerpunkt bildet die symbolische Komponente (Verhalten, Freizeitgestaltung, etc.)
Nicht mehr ausschließlich vertikale Strukturierung
1.5. Unterscheidung zweier Richtungen innerhalb der Lebensstilforschung nach Konietzka
Strukturierungsmodelle:
Entstrukturierungsmodelle:
Geprägt durch strukturelle Kriterien
(Alter, Geschlecht, usw.)
Vernachlässigung struktureller Kriterien
Vertikale Merkmale
Lebensstile selbst werden zum Einflussfaktor
(Bildungsniveau, usw.)
für Handlungen oder empfundene Lebens Liefern differenziertere Darstellung
qualität
1.6. Lebensstilanalyse nach W. Georg
Zuordnung der Thematik ungleicher Ressourcen zu Klassen- und Schichtungsforschung
Lebensstile als „relativ stabile, ganzheitliche und routinisierte Muster der Organisation von expressiv-ästhetischen
Wahlprozessen“
Grundvoraussetzung für Wahlprozesse: Vorhandensein von Wahloptionen und Gestaltungsspielräumen der Akteure
(Anstieg im Lauf der letzten Jahrzehnte)
Im Vordergrund stehen Geschmack und Verhalten als Dimension eines Lebensstils
„wahrnehmbare, klassifizierbare Stilisierungspraxis“ macht im Alltag den Lebensstil aus, mit dieser möchten Menschen
„gewisse repräsentative Auswirkungen“ erzielen
(Stilisierungspraxis: Freizeitaktivitäten, Musikgeschmack, Wohnungseinrichtung, usw.)
1.6.1.
Einflussfaktoren, die zu einem Lebensstil führen
Soziale Lage:
Mentale Ebene:
Vertikale Handlungsressourcen
Gemeinsame Wertorientierungen,
(z.B. Einkommen, Bildung, …)
Einstellungen und Lebensziele
Horizontal differenzierte
Lebensbedingungen
Zusammenhang muss
(z.B. Alter, Region, …)
empirisch geprüft werden
Lebensstil:
Ästhetisch expressives Verhalten
1.6.2.
Empirische Erkenntnisse (Lifestyle `90, repräsentativ für die westdeutsche Bevölkerung ab 14 Jahren)
Typ 1: Hedonistisch-expressiver Lebensstil (10,2%)
Typ 2: Familienzentrierter Lebensstil (19,2%)
Typ 3: Kulturbezogen-asketischer Lebensstil (11,3%)
Typ 4: Konservativ-passiver Lebensstil (14,9%)
Typ 5: „Prestigebezogene Selbstdarstellung“ (11,1%)
Typ 6: Zurückhaltend-konventioneller Lebensstil (16,1%)
Typ 7: „Selbstdarstellung, Genuss und Avantgardismus“ (11,6%)
2. Milieus
2.1 Definitionen und Begriffsentwicklung, Differenzierung
2.1.1 Definition
-Hardil: „Milieus sind Gruppen Gleichgesinnter, die gemeinsame Werthaltungen und Mentalitäten aufweisen und auch die Art
gemeinsam haben, ihre Beziehungen zu Menschen einzurichten und ihre Umwelt in ähnlicher Weise zu sehen und zu gestalten.“ (1999:
41)
2.1.2 Differenzierung
-verschiedene Milieus durch verschiedene Werte => materielle Sicherheit: alternativ-Milieu/Beamte; Erfolg:
Aufstiegsorientierte/Hedonisten
-kleinere Milieus: häufig WIR- Gefühl => Stadtviertel
-größere Milieus: kein direkter Bezug (räumlich/persönlich) notwendig => Rotlichtmilieu
2.1.3 Begriffsentwicklung
-Comte, Durkheim und Lepsius: erste Überlegungen zum Begriff Milieu
-1990 Höhepunkt des Begriffs + zunehmende Betonung sozialer, gegenüber natürlicher Umweltfaktoren + Öffnung für subjektive
Aspekte
-nach WK II. => Betonung objektiver Aspekte; Bevorzugung des Schichtmodells
-erst in den 1980er Jahren Renaissance des Begriffs => Untersuchungen des Sinus-Instituts
-heute: Milieumodelle überwiegend in der Markt- und Wahlforschung
2.2 Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Milieu- und des Lebensstilbegriff
2.2.1 Unterschiede:
• Lebensstiele betonen die Wahlfreiheit und Expression /
Milieus haben Milieuspezifische Wahrnehmung im
Vordergrund, sie nutzen die gegebenen Bedingungen und
sind an objektiven Gegebenheiten orientiert
• Lebensstile nutzen Werte manchmal als konstituierendes
Merkmal oder Einflussfaktor / Werte sind in Milieus eine
zentrale Dimension
• Lebensstile bleiben eher in der Mikroebene / Milieus
betrachten die Makroebene
2.2.2 Gemeinsamkeiten:
• Alternative zu Klassen und Schichten
• Modelle sind Mehrdimensional, dadurch wird
Realitätsnähe angestrebt
• Das Handeln, die Lebensweise und die Entscheidungen
der Akteure spielen eine große Rolle
• Modelle ordnen bestimmten Lebensstielen
Personengruppen zu
• keine Loslösung von „objektiven“ Lebensbedingungen
=>Schicht
2.3 Das Sinus-Milieu-Modell
2.3.1 Forschungsansatz und Entwicklung
-Ziel: Lebenswelten über subjektive Lebenslagen und Stile zu erfassen
-Def. „Milieu“ bei Sinus: „Soziale Milieus fassen … Menschen zusammen, die sich in Lebensauffassung und Lebensweise ähneln,
die also subkulturelle Einheiten in der Gesellschaft bilden“ (Novak/Becker 1985: 14)
-Ende 70er Jahre erste qualitative Interviews
-1982 erste quantitative Überprüfung; das Ergebnis schildern U. Becker und H. Novak 1985 in ihrer Studie im Auftrag d. SinusInstituts: Es ergaben sich acht Milieus in einem Koordinatensystem
=> Horizontale: von traditioneller bis postmaterieller Wertorientierung =>Vertikale: Schichteinteilung
(innerhalb von sozialen Schichten Differenzierung durch mehrere Milieus nebeneinander, die sich durch Werte bzw.
Grundorientierung unterscheiden); Grenzen haben hier fließende Übergänge!
-Modell wird fortlaufend an die Gesellschaftsveränderungen angepasst, es werden neue Milieus aufgenommen und Milieus
zeitgemäß umbenannt;
2.3.2 Das aktuelle Sinus-Milieu-Modell 2007 => Folie
2.3.4 Grundstruktur des Modells
-oben: gesellschaftliche Leitmilieus -linker Rand: traditionelle Milieus
-mittig: Mainstream-Milieus
-unten rechts: hedonistische Milieus
2.3.5 Exemplarische Bestimmung eines Milieus =>SINUS C12 (oben rechts)
Lebenslage: junge, unkonventionelle Leistungselite, intensives Leben - beruflich und privat, Multi-Optionalität, Flexibilität und
Multimediabegeisterung, Streben nach materiellem Erfolg und Erprobung eigener Fähigkeiten, Interesse an Sport und Outdooraktivitäten
soziale Lage: jüngstes dt. Milieu (meist unter 30), hohes Bildungsniveau, überwiegend: Schüler, Studenten, „kleine“ Selbstständige,
Freiberufler => hohe Haushaltsnettoeinkommen bzw. Einkommen
2.4 Das Milieumodell von Vester et al.
2.4.1 Modellbeschreibung
-Michael Vester u.a.(2001) verknüpfte Sinus-Milieus mit Klassenanalyse und sozialer Fragestellung der Ungleichheitsforschung
-Horizontale: Einstellung zur Autorität (autoritär bis avantgardistisch) =>versch. Werte
-Vertikale: Herrschaftsstellung (Wohlstand, Macht, Einfluss, soziale Chancen)
Ergebnis 2000 in der BRD-West: ¼ d. Bev. in drei „führenden“ Milieus, 60% d. Bev. auf „mittlere Volksmilieus“ verteilt
(=>Arbeiter/Angestellte, Dienstleistende), ca. 10% in den „unterpriviligierten Volksmilieus“ (=>gering qualifizierte)
2.4.2 Milieumodell von Vester et al. => Folie
3. Erlebnisgesellschaft
3.1 Merkmale der Erlebnisgesellschaft
- Individuen auf der Suche nach Glück / Erlebnisorientierung
- Massenphänomen „Schönes Leben“
3.2 Erlebnisrationalität als Basiskategorie
- Voraussetzung für Erlebnisgesellschaft: relative Wohlstandsgesellschaft
• Innenorientiertes Denken (Handlungstyp des Wählers)
• Große individuelle Handlungsspielräume
• Rationalitätstypus = Erlebnisrationalität
- Übergang von außenorientiertem Denken zu Innnenorientiertem
• Gesellschaftliche Armut -> rational = Überleben (Essen um satt zu werden)
• Materieller Überfluss -> rational = Erleben (gemütliches Restaurant)
- typische Begleiterscheinung: Enttäuschung (Erhofftes tritt nicht ein)
3.3 Die Ordnung des Sozialen in der Erlebnisgesellschaft
- drei Schemata der Erlebnisgesellschaft
• Hochkulturschema (ICH gemessen an Ansprüchen)
• Trivialschema (ICH gemessen an Ordnung)
• Spannungsschema(ICH nur mit sich selbst konfrontiert/Selbstverwirklichung)
- keine Zuordnung nach Schemata zu bestimmten Milieus
• Distanz bzw. Nähe eines Individuums zu allen Schemata
• Milieuzeichen: Alter und Bildung
- Alterbildungsgruppen: - Unterhaltungsmilieu
- Selbstverwirklichungsmilieu
- Harmoniemilieu
- Integrationsmilieu
- Niveaumilieu
3.4 Theoretische Affinitäten zu anderen Forschungsrichtungen
- Freizeitsoziologie
• Opaschowskis E-Mensch
• Psychische Kosten der Erlebnisorientierung
• Konstatierung des Endes der Klassengesellschaft
- Theorie des Wertewandels
• Beide Ansätze stützen sich auf die Maslowsche Bedürfnispyramide
• Wertzunahme von postmateriellen Gütern
• Erlebnisgesellschaf (Schulze) = postmaterialistische Gesellschaft (Ingelhart)
- Markt- und Wahlforschung
• Wahl- und Konsumverhalten der Gesellschaft
• Schulzes Erlebnisgesellschaft als Einführung in die Marktforschung
- Narzißmus – ein kulturkritisches Deutungsmuster
• Kultur der Subjektbezogenheit/Narzißtische Persönlichkeit
• Narzißtische Grundorientierung als Erklärung für Verbissenheit in der Erlebnissuche
3.5 „Die feinen Unterschiede“ – die kultursoziologische Perspektive als strukturorientierte Theorie des Subjekts
- Schulze vs. Bordieu
Quellen:
• Burzan, N. (2004): Soziale Ungleichheit. Eine Einführung in zentrale Theorien. VS Verlag, Wiesbaden, S. 98 – 137
• Hradil, S. (1996): Sozialstruktur und Kultur. Fragen und Antworten zu einem schwierigen Verhältnis. In: Schenk, O. (Hrsg.):
Lebensstilanalyse zwischen Sozialstrukturanalyse und Kulturwissenschaft. Opladen, S. 13 – 40
• Funke, H. (1997): Erlebnisgesellschaft. In: Kneer/Nassehi/Schroer (Hrsg.): Klassische Gesellschaftsbegriffe der Soziologie,
S. 305 – 331
• www.bpb.de
• www.sinus-sociovision.de