U. von Hirschhausen: Riga 2007-2-110 Hirschhausen, Ulrike von

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U. von Hirschhausen: Riga 2007-2-110 Hirschhausen, Ulrike von
U. von Hirschhausen: Riga
Hirschhausen, Ulrike von: Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden
in Riga 1860-1914. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht 2006. ISBN: 3-525-35153-4; 448 S.
Rezensiert von: Anja Wilhelmi, Institut für
Kultur und Geschichte der Deutschen in
Nordosteuropa
Mit „Die Grenzen der Gemeinsamkeit“ geht
die Osteuropahistorikerin Ulrike von Hirschhausen der Frage nach Multiethnizität in der
größten städtischen Metropole der Ostseeprovinzen des Russischen Reichs nach. Die Stadt
Riga mit ihren lettischen, deutschen, russischen und jüdischen Bewohnern bildet für
die Untersuchung einer Beziehungsgeschichte ihrer Bevölkerungsteile den idealen Forschungsboden, dem sich gleichwohl bislang
kein Wissenschaftler annahm.
Der durch lokale Grenzen beschränkte Untersuchungsraum täuscht den ersten Blick einer abgeschirmten Bevölkerungsstruktur vor.
Gerade die Wahl des Untersuchungszeitraums von 1860 bis 1914 verweist hingegen
auf eine Phase intensivster städtischer Entwicklung, ausgelöst vor allem durch massive
demografische Migrationsschübe.
Dies berücksichtigend, leitet von Hirschhausen ihre Untersuchung mit einer umfangreichen Darstellung des demografischen, sozioökonomischen, ethnischen und dem sich
spiegelnden städtebaulichen Wandels ein. Er
brachte der Stadt Riga ein neues Gesicht –
weg von ihrer dominierenden Bedeutung als
deutsche Handelsstadt, hin zur ethnisch segmentierten Industriemetropole. Damit ging
eine Umkehrung der städtischen Sozialstruktur einher, die die einstige ständische Ordnung zerbrechen und eine bürgerliche Klassengesellschaft aufzubauen half.
Mit ihrem auf Multiethnizität gerichteten
Fokus hebt sich von Hirschhausen bewusst
von „nationalzentrierten Modernisierungsparadigmen“ (S. 12) ab. Dabei geht sie von Multiethnizität als einen „europäischen Normalfall“ (S. 15) aus, der in den meisten europäischen Gesellschaften zum Tragen gekommen
sei. Für die lokale Vergleichsebene zieht von
Hirschhausen Odessa und Prag heran und arbeitet insbesondere im resümierenden Kapitel ihrer Arbeit die Unterschiede dieser drei
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durch Multiethnizität geprägten Städte heraus.
Dieser Metaebene nähert sich von Hirschhausen in kleinen Schritten, indem sie erstens jede einzelne Bevölkerungsgruppe in Riga für sich betrachtet und ihre in Anspruch
genommenen und bestehenden Identitätsmodelle und zivilgesellschaftlichen Muster
analysiert. Die Ergebnisse werden in einem zweiten Schritt gegenübergestellt, um
Überschneidungen und Differenzen in den
Identitätsmustern herauszufiltern. Mit ihrem
Anspruch, „Austausch- und Transferprozesse“ zwischen nationalen Kulturen und Gesellschaften zu untersuchen, bezweckt von
Hirschhausen eine Distanzierung von bisherigen Forschungsleistungen, die Beziehungsgeschichte als reine Hierarchiegeschichte verstehen. Von Hirschhausens Perspektive richtet
sich im Kontrast dazu gerade auf das Spannungsfeld der Wechselseitigkeit innerhalb der
ethnischen Verflechtungen.
Mit der analytischen Kategorie des „ethnischen Milieus“ (S. 27) definiert von Hirschhausen ihre Untersuchungsgruppen. Sie bedient sich damit einer wenig verbreiteten
Herangehensweise, in der die Ethnizität als
Abgrenzung zu anderen „Ethnien“ und zur
Formierung des eigen „Milieus“ vorgegeben
wird. Zugleich erleichtert die gewählte Kategorisierungsgröße den Zugang zu einer Vergleichsebene zwischen den ethnischen Bevölkerungsgruppen, wenngleich ihre Heranziehung auf den ersten Blick die Homogenität innerhalb des einzelnen ethnischen Milieus vortäuscht.
Die Tragfähigkeit der terminologischen Bestimmung ethnischer Milieus wird in von
Hirschhausens Untersuchung der „Innenwelten“ von ethnischen Milieus sichtbar. (Kap.
2) Auf der Suche nach „spezifischen Leitvorstellungen“ (S. 120) analysiert sie jede Bevölkerungsgruppe bzw. Ethnie für sich und
stellt exemplarisch für „allgemeinverbindliche Denkfiguren“ (S. 102) die Biografien
von Einzelpersonen in den Vordergrund der
Darstellung. Diese überaus plastische und
überzeugende Vorgehensweise wird lediglich überschattet von einer Quellenlage, die
nicht alle Ethnien gleichmäßig berücksichtigt. Die ungleiche Überlieferung von autobiografischen Schriften kommt deutlich bei
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der Darstellung der jüdischen Bevölkerungsteile zum Tragen, wo als einziger Repräsentant eine Frau herangezogen werden musste, was die Vergleichbarkeit der „Denkfiguren“ durch die hinzugewonnene GenderKomponente um einiges erschwert.
Die Politisierung der Milieus, eingebettet
in die rechtlichen Rahmenbedingungen des
städtischen Lebens, bildet eine weitere aufbauende Fragestellung, in deren Vordergrund
die Untersuchung der Multiethnizität und ihr
Einfluss auf die Reformfähigkeit der Stadt
steht. Mit ihr wird erstmals ein Vergleichshorizont mit anderen Städten in und außerhalb des Russischen Reichs aufgebaut. Der
administrativen lokalen Reformpolitik, von
Hirschhausen nennt sie „Rigaer Munizipalsozialismus“ (S. 190), sei es als einziger Stadt
des Russischen Reichs gelungen, Urbanisierung und Industrialisierung erfolgreich zu
begegnen. Diese eindrucksvoll und stringent
dargestellte Erfolgsgeschichte der Ostseestadt
stellt von Hirschhausen in den Kontext der
deutschen Reichs- und Hansestädtegeschichte, wobei sie den Zusammenhang ständischer
Traditionen mit „zivilgesellschaftlichen Ausprägungen“ (S. 194) in diesen Städten hervorhebt und für den Fall Riga Multiethniziät
als wesentliches Element der Zivilgesellschaft
und als Kraft für ein „übernationales Gemeinwohl“ (S. 195) herauskehrt.
Neben dem politischen Forum analysiert
von Hirschhausen als zweite Keimzelle von
Milieubildung die lokale Vereinskultur und
die in ihr zutage tretenden Entwicklungen
von Denkfiguren und Leitvorstellungen, die
aus einer ständisch geprägten Sozialordnung
ethnische Milieus zu formen imstande waren. Die Einbettung des Vereinswesens in die
Analyse drängt sich gerade am Beispiel Rigas auf, da sich hier - wie sonst in keiner
Stadt des Russischen Reichs - ein Vereinsleben in enormer Dichte etablieren konnte, aus
dem sich die Politisierung und Nationalisierung der Bevölkerungsteile erfolgreich herausarbeiten lässt.1
1 Ein Forschungsfeld, für das übrigens eine Grundlagen-
forschung erst im Entstehen begriffen ist. Vgl. hierzu
v.a. die Arbeit von Kristine Wohlfart zum Rigaer Letten Verein: Der Rigaer Letten Verein und die lettische
Nationalbewegung von 1868 bis 1905 (Materialien und
Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung 14), Marburg
2006.
Einzelne kulturelle Praktiken, Artikulationen ethnischer Zugehörigkeit in der städtischen Öffentlichkeit, Inszenierungen und
symbolische Zurschaustellungen ergänzen im
letzten Kapitel der Monografie die Charakterisierungen der ethnischen Milieus um
weitere Selbstentwürfe, Identitätsdiskurse sowie Exklusions- und Inklusionspraktiken. Die
Herausarbeitung von mental maps stellt in
diesem Abschnitt einen überragenden, bislang in der Forschung gänzlich ausgesparten
und überaus interessanten Ansatz dar. In ihm
wird der jeweils spezifische Entwurf der ethnischen Milieus zum ‚Baltischen Raum’ bzw.
zu ‚Latvija’ als kollektive Raumvorstellungen beleuchtet. Von Hirschhausen belegt anhand der Genese beider Begriffe, einschließlich ihrer poetischen, politischen und geografischen Komponenten, wie „historisches Erleben“ (S. 366) im sprachlichen Niederschlag
auch in Raumbegriffen zu finden war.
Insgesamt betrachtet, überzeugt von
Hirschhausen durch eine gut strukturierte, äußerst fundierte und überdies gut
lesbare Darstellung der Mechanismen
multiethnischer Koexistenz am Beispiel
einer Lokalstudie. Die von ihr aufgezeigte
Nationalisierung oder - wie sie es nennt - „Politisierung von Ethnizität und Ethnisierung
von Kultur“ (S. 370), die sich in Konflikten
der Sprachpolitik hervorholen lässt, weist
sie als Charakteristikum von durch Multiethnizität geprägten Räumen nach. Am
Beispiel Riga kann sie belegen, das gerade
die Multiethnizität als Konkurrenz zwischen
den einzelnen Ethnien eine enorme Triebkraft
für administrative Reformbestrebungen darstellte. Wenngleich dieser Faktor in den zum
Vergleich herangezogenen osteuropäischen
Metropolen allein nicht ausreichte (denn
einzig für Riga weist von Hirschhausen eine
weitestgehend erfolgreiche Reformpolitik
nach), begründet sie diesen ‚Rigaer Sonderfall’ mit der ausgesprochenen Orientierung
nach Westen, mit einem Wissenstransfer, der
von Riga aus bewusst zur Modernisierung
der Kommunalpolitik betrieben wurde.
Von Hirschhausens Arbeit beeindruckt
durch den Umfang der herangezogenen
Quellen und die Bearbeitung verschiedenster Quellengattungen. Städtische Akten und
Statistiken ermöglichten die detaillierte Dar-
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U. von Hirschhausen: Riga
stellung der demografischen Entwicklung Rigas und seiner Bevölkerungsgruppen. Vereinsliteratur gab Aufschluss über die Organisationsstruktur und -dichte, Presseerzeugnisse verdichteten aktuelle Geschehnisse und
Wahlen. Persönliche Quellen erlaubten die
Skizzierung von Einzelpersonen und ihren
Lebenswelten. In diesem Kontext erschwert
eine - redaktionelle - Schwäche der Monografie den Zugang zum Text und oftmals auch
zum Verständnis einzelner Zitate: Es fehlt in
vielen Fällen die genaue Seitennennung in
den Anmerkungen. Bei Zitierungen aus zeitgenössischen Pressezeugnissen wäre überdies
die Angabe des Verfassers hilfreich, da auch
in ein und derselben Zeitung unterschiedliche Redakteure mit differierenden Meinungen vertreten waren. Nicht nur die Recherche
des interessierten Lesers wird mit diesen Kürzungen stark beeinträchtigt, auch die Kontextualisierung des Zitats wird unnützerweise erschwert.
Ein kleiner Wermutstropfen für die Lesenden des Bandes stellen - dies sei am Rande ergänzt - die Register dar. Ein Ortsregister, in
dem Einträge wie ‚Estländer’ und ‚Estland’
gleich indiziert werden, bleibt in seinem Aufbau unklar. Und ein Quellen- und Literaturverzeichnis, das in einem Unterabschnitt unter zeitgenössischer Literatur, Literaturangaben bis 1945 vorsieht, in dem zudem vereinzelt Werke aus den endenden 1950er Jahren
als zeitgenössisch betrachtet werden (S. Pantenius), verkompliziert die Literatursuche.
HistLit 2007-2-110 / Anja Wilhelmi über
Hirschhausen, Ulrike von: Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden
in Riga 1860-1914. Göttingen 2006, in: H-Sozu-Kult 23.05.2007.
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2007-2-110