„ Die perfekte Mutter existiert nicht“

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„ Die perfekte Mutter existiert nicht“
Leben, lieben, arbeiten
„Die perfekte
Mutter
existiert nicht“
Die französische Philosophin und Feministin
Elisabeth Badinter, 70, die bereits in
den 80er-Jahren mit ihren Zweifeln an der
angeborenen Mutterliebe provozierte,
hat ein neues Thema: die neue Mütterlichkeit in
Frankreich – die sie offenbar sehr
an das Verhalten deutscher Mütter erinnert.
ELTERN-Redakteurin Nina Berendonk
Frau Badinter, was ist los mit den
französischen Müttern?
In Frankreich gibt es eine kleine soziale
und kulturelle Elite, die sehr empfänglich ist für ökologische Themen. Die
Rückkehr zur Natur, ja, ihre Verherrlichung, ist extrem angesagt. Gleichzeitig
hören junge Mütter in Krankenhäusern,
Hebammenpraxen und anderswo ständig, was sie als gute Mütter zu tun haben: mindestens anderthalb Jahre nach
Bedarf stillen, Tag und Nacht, das Kind
im Elternbett schlafen lassen und so weiter. Da wird ein massiver moralischer
Druck aufgebaut.
Und dann ist da noch die heftige Wirtschaftskrise, die die Jobsituation für
französische Frauen nicht besser gemacht hat. Die Folge: Manche Französinnen beschließen, dass es viel sinnvoller ist, ihre gesamte Zeit und Energie
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in ihr Kind zu investieren anstatt in einen unsicheren Arbeitsplatz. Anstatt
schnell wieder in den Job zurückzukehren, bleiben sie ein, zwei Jahre zu Hause
und trachten danach, die perfekten Mütter für perfekte Kinder zu sein. Ich weiß:
Deutsche Frauen machen das schon länger. In Frankreich aber ist das eine völlig
neue Entwicklung.
Sie halten es für einen massiven
Rückschritt.
Nicht ganz. Ich finde, dass Mütter das
machen sollen, was sie wollen. Wenn sie
Lust haben, zu Hause zu bleiben, dann
ist das gut für sie und damit auch für das
Baby. Viel schlimmer finde ich, wenn
Mütter so handeln, weil man sie unter
moralischen Druck setzt, obwohl sie es
eigentlich nicht wollen.
Die Absicht, die ich mit meinem letz-
ten Buch („Der Konflikt“, C.H. Beck,
7,95 Euro) verfolge, ist, dass man ihnen
die Wahl lässt. Keine Frau ist wie die
andere; jede hat eine andere Geschichte,
andere Ziele im Leben. Besonders deutlich wird das beim Thema Stillen: Überall hören werdende Mütter, dass man
stillen muss, um eine gute Mutter zu
sein. Die Säuglingsschwester sagt: „Aber
natürlich stillen Sie, Madame!“ Und
wenn die Wöchnerin signalisiert, dass
sie nicht besonders scharf darauf ist,
heißt es: „Aber wollen Sie denn nicht das
Beste für Ihr Kind, Madame?“ Da werden
bewusst Schuldgefühle geweckt, und das
finde ich unsäglich.
Ist Stillen für Sie ein antifeministischer Akt?
Keineswegs. Aber wenn eine Frau gegen
ihren Willen und ihr Gefühl stillt, dann
FOTOS: Getty Images, Helene Bamberger/ Opale
hat mit Elisabeth Badinter gesprochen
„
Auf junge Mütter
wird massiver
moralischer Druck
ausgeübt. Ich
finde das unsäglich“
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„
Wir halten deutsche
Mütter für aufopfernd: Sie
haben ihre Bedürfnisse
und Ambitionen
als Frauen aufgegeben“
wir mehr Kinder bekommen, weil wir das
Recht auf staatliche Unterstützung bei der
Betreuung haben: So lastet das weniger
auf den Schultern der Mütter.
spürt das das Baby. Es ist doch viel klüger, mit Vergnügen ein Fläschchen zu
geben statt mit Widerwillen die Brust!
Wo ich tatsächlich einen Rückschritt
sehe, ist, wenn gut ausgebildete Mütter
für zwei Jahre aus dem Job aussteigen.
Anwältinnen, Ärztinnen, Redakteurinnen
erscheint diese Möglichkeit offenbar besonders verlockend – und sie schadet in
diesen Berufen ganz besonders. Ich bin
mehr denn je davon überzeugt, dass eine
Frau niemals ihre finanzielle Unabhängigkeit aufgeben sollte. So kann sie jederzeit
gehen, wenn sie ihren Partner nicht mehr
liebt oder er sie schlecht behandelt.
Man hält sie für aufopfernd: Sie haben
ihre Bedürfnisse und Ambitionen als
Frauen aufgegeben. Und viele von ihnen
betrachten uns Französinnen als „Rabenmütter“ – dieses Wort kenne ich sogar auf Deutsch.
In Frankreich herrscht aber die Meinung vor, dass man als Mutter nicht sein
ganzes Leben aufgeben kann, sondern
dass es darum geht, die Bedürfnisse des
Kindes und die eigenen zu vereinbaren.
Das ist natürlich auch für Französinnen
nicht immer einfach. Aber es wird deutlich erleichtert dadurch, dass es gesellschaftlich anerkannt ist, Kinder mit sechs
Monaten in eine Krippe zu geben.
Eine französische Tradition ...
Ja, richtig. Seit den Anfängen der Familienpolitik ist die Auffassung in unseren
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Köpfen verankert, dass der Staat dazu
verpflichtet ist, uns unter die Arme zu
greifen: Wenn wir ihm Kinder schenken
sollen, dann muss er Betreuungsmöglichkeiten für sie schaffen.
Französische Mütter haben schon im
18. Jahrhundert ihre Babys zu Ammen
aufs Land gegeben, um wieder Frau sein
zu können anstatt nur Mutter. Wenn man
sich das anschaut, begreift man, wie sehr
sich unsere Wahrnehmung der Mutterschaft von der deutschen unterscheidet.
Natürlich ist das Druck, aber er kommt
bei uns von innen heraus statt von außen.
Die meisten Französinnen wollen das aus
tiefstem Herzen: eine Laufbahn verfolgen
und ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen. Und das war schon immer so. Sie
betrachten es als eine Bedingung ihrer
Freiheit, die sehr wertvoll ist für sie.
Es stimmt schon, dass es sich bei uns
nicht gut macht, in der Schwangerschaft
zu sehr zuzunehmen und diese Pfunde
lange mit sich herumzuschleppen. Aber
es ist für die Mehrheit der Französinnen
auch keine Option, ein, zwei Jahre alleine
mit einem Baby zu Hause zu sitzen. Das
ist doch unglaublich langweilig und auch
für die Psyche nicht gut. Da ist es doch
völlig klar, dass viele Frauen mehr Lust
auf ihr Sozialleben in der Arbeit haben!
Aber die Mehrfachbelastung ist
offenbar auch nicht wirklich
gesund für die Französinnen: Man
hört von vielen Burn-out-Fällen.
Böse Zungen sagen, die Franzosen
hätten eine hohe Geburtenrate,
weil sie sich nicht selbst um ihre
Kinder kümmern müssen.
Ja, die gibt es sicher. Aber ich glaube
nicht, dass das ein spezielles Problem
junger französischer Mütter ist.
Na ja, man muss sich ja trotzdem um sie
kümmern! Wir vernachlässigen sie ja
nicht völlig, das halte ich für übertrieben.
Aber es ist wahrscheinlich richtig, dass
Zumindest nehmen die
Franzosen die meisten Psychopharmaka in Europa.
Das ist richtig und ohne Zweifel eine un-
FOTO: Corbis
Die französischen Mütter
wollten jetzt wie die deutschen
werden, haben Sie in einem
Vortrag ironisch gesagt. Wie werden deutsche Mütter von
den Franzosen wahrgenommen?
Aber ist das nicht auch ein
enormer Druck? Das Kind früh
abgeben, schnell wieder Vollzeit
arbeiten und dabei auch
noch schick und schlank zu sein?
„
Mein Rat an Mütter?
Tut das, was ihr wollt,
und macht euch nicht
zu Sklavinnen eines
vorgegebenen Modells“
schöne Entwicklung. Aber es sind nicht
nur Frauen, die sie nehmen, sondern
genauso viele Männer. Meine persönliche Erklärung ist, dass Franzosen nicht
gerne leiden. Bei Stress, angegriffenen
Nerven oder Schlafproblemen greifen sie
schnell zu Beruhigungsmitteln.
Um die Geburt ihrer Kinder haben
Französinnen vier Monate Mutterschaftsurlaub. Aber es ist überhaupt keine
große Sache, zwei oder drei Monate
mehr zu bekommen – jeder Arzt wird
einem ein entsprechendes Attest schreiben. Gut, manche Frauen wollen das aus
Angst um ihren Arbeitsplatz nicht. Aber
wer es wirklich will, der kann zu Hause
bleiben. Wahrscheinlich ist das der
Grund, warum unsere Sozialversicherung pleite ist! (lacht)
Die Deutschen beschäftigen sich
viel mit Bindungsforschung.
Sie dagegen bezeichnen Bonding
als „eine Mär“. Was glauben Sie,
was Kinder brauchen, um
glückliche Erwachsene zu werden?
Ich habe drei Kinder, Enkel und viele
Freunde. Und ich kann Ihnen sagen, dass
es keine perfekte Mutter gibt. Man tut,
was man kann – egal, ob man nun Deutsche, Französin oder Amerikanerin ist.
Das glückliche, intelligente und ausgeglichene Kind, von dem man träumt, das
gibt es natürlich. Aber sehr selten. Die
meisten Kinder haben Probleme. Es gibt
so viele Einflussfaktoren, die Kinder zu
glücklichen Erwachsenen machen, unter
anderem das genetische Material und
das Temperament.
Als Eltern sind wir zwangsläufig unperfekt – einfach, weil unsere Möglichkeiten begrenzt sind: Es gibt so viele
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Dinge, die wir nicht verstehen, so viele
Situationen, in denen wir nicht wissen,
wie wir uns verhalten sollen oder das
Gegenteil tun von dem, was eigentlich
richtig wäre. Deswegen muss man aufhören, jungen Frauen diese Idee in den
Kopf zu pflanzen von der perfekten Mutter und dem perfekten Kind. Das entspricht einfach nicht der Realität.
Zumindest gelten die französischen Kinder als sehr gut erzogen
und diszipliniert: Man kann mit
ihnen ins Restaurant gehen,
sie schlafen in ihrem eigenen Bett
– und fangen auch mal die
eine oder andere Ohrfeige, wogegen die Mehrheit der Franzosen
nichts einzuwenden hat.
Das ist ein Klischee, das für mich so nicht
stimmt. Es gibt da dieses sehr lustige
Elisabeth Badinter,
geboren 1944, war bis vor Kurzem Professorin
für Philosophie an der Pariser Elite-Universität
École Polytechnique. In ihren zahlreichen Essays und Büchern beschäftigt sich Badinter vor
allem mit der Geschichte der Frauen. Besonderes Aufsehen erregte ihr Buch „Mutterliebe.
Geschichte eines Gefühls“, in dem sie die provokante These aufstellte, dass Mutterliebe
kein natürlicher Instinkt, sondern immer auch
eine Zeitgeist-Erscheinung ist. Badinter selbst
hat ihre drei Kinder innerhalb von dreieinhalb
Jahren während des Studiums bekommen.
Buch von der Amerikanerin Pamela Druckermann („Warum französische Kinder
keine Nervensägen sind“) über dieses
Thema. Ich weiß nicht, wie amerikanische Kinder sich benehmen – aber die
kleinen Franzosen haben nur im Vergleich
zu ihnen gut abgeschnitten. Ich glaube,
es gibt auch in Frankreich besser erzogene und schlechter erzogene Kinder.
Es stimmt, dass französische Kinder
ganz gute Tischmanieren haben. Aber
das dürfte daher kommen, weil sie einfach daran gewöhnt sind, ab und zu mit
ihren Eltern ins Restaurant zu gehen.
Das heißt aber nicht, dass man das verallgemeinern könnte.
In Deutschland wird auf den weiteren Ausbau der Betreuungsplätze
gedrängt, in Frankreich wollen
mehr und mehr Frauen ihrem Kind
zu Hause Biobrei kochen.
Haben Sie einen Rat für Mütter auf
beiden Seiten des Rheins?
Ja: Tut das, was ihr wollt, und macht euch
nicht zu Sklavinnen eines vorgegebenen
Modells. Wenn es sich für euch richtig gut
anfühlt, zu Hause zu bleiben und euer
Kind zu jeder Tages- und Nachtzeit zu
stillen, dann tut es. Wenn ihr darauf keine
Lust habt, stattdessen das Fläschchen gebt
und zu eurem alten Leben zurückkehrt,
dann ist das auch prima.
Und ich würde junge Frauen auch gerne daran erinnern, dass sich Ratschläge
rund ums Kinderkriegen alle 30 Jahre
von Grund auf ändern: Anfang der 50erJahre war es zum Beispiel in Frankreich
aus hygienischen Gründen absolut undenkbar, ein Kind zu stillen. Inzwischen
gilt das komplette Gegenteil.
Also: Hört auf euch selbst!

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