Seymour Hersh über das Versagen Obamas in

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Seymour Hersh über das Versagen Obamas in
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Die Akte Assad
Seymour Hersh über das Versagen Obamas in Syrien
W E LT B Ü H N E
Analyse
DIE SPALTUNG
ÜBERWINDEN
Wir Europäer
haben ein großes
Interesse daran,
mit Russland zu
kooperieren.
Plädoyer für einen
Neubeginn
Von FR ANK ELBE
Illustrationen L AUR A BREILIN G
W
ir haben Kriege in Europa: einen Bürgerkrieg in der Ukraine, der gleichzeitig ein Stellvertreterkrieg zwischen Ost und West
ist und ein Handelskrieg der USA und
der EU gegen Russland und umgekehrt.
Beide Seiten belegen einander mit Sanktionen. Die Politik greift zu Mitteln der
Ausgrenzung und Gesprächsverweigerung. Das war 1990 nicht vorherzusehen. Der Kalte Krieg wurde beendet,
ohne auch nur einen einzigen Schuss abzufeuern. Die konsequente Umsetzung
der Nato-Strategie von ausreichender Sicherheit einerseits und Entspannung andererseits führte zur Vernichtung der
nuklearen Mittelstreckenwaffen, zur
Wiedervereinigung Deutschlands und zu
den großen Veränderungen in den OstWest-Beziehungen. Im November 1990
beschlossen die Staats- und Regierungschefs der KSZE-Staaten in der „Charta
für ein neues Europa“ feierlich die Ablösung des „Zeitalters der Konfrontation
und der Teilung Europas“.
Es gab aber mehr als nur Euphorie
und Feierlichkeit. Nämlich Verpflichtungen: Man definierte sich nicht mehr
als Gegner, und man wollte die Sicherheitsinteressen eines jeden Partners berücksichtigen. Sicherheit galt als unteilbar und untrennbar mit der aller anderen
verbunden. Es bestand der feste Wille,
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mit der Sowjetunion in eine neue Ära
kollektiver Sicherheit einzutreten. Präsident Bush senior begnügte sich, in dieser neuen Weltordnung „second to none“
zu sein, niemandem „unterlegen“, aber
auch niemandem „überlegen“ sein zu
wollen. Vielen schien diese Entwicklung
unumkehrbar.
Das heutige Drama besteht darin,
dass der lange, mühsame Weg, über eine
Politik der Zusammenarbeit zu mehr Sicherheit zu gelangen, verlassen werden
konnte. Einige Partner des Westens betonen schon seit langem, dass in dem
von Gorbatschow beschworenen „europäischen Haus“ kein Zimmer für Russland frei ist. Tom Friedman, einer der
bedeutenden amerikanischen Journalisten, befand bereits 2008 den Umgang mit
Russland merkwürdig: „Wir erwarten
von euch Russen, dass ihr euch wie eine
westliche Demokratie verhaltet, aber wir
werden euch behandeln, als wärt ihr weiterhin die Sowjetunion. Der Kalte Krieg
ist für euch vorbei, aber nicht für uns.“
I N D ER RUS S L A N D KR I S E haben Politik,
Diplomatie, aber auch Medien und Gesellschaft versagt. Und zwar nicht erst
seit Beginn der Ukrainekrise, sondern
schon während der zurückliegenden
20 Jahre. Die westliche Politik ist ihren
eigenen Prinzipien nicht treu geblieben.
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Analyse
Der aktuellen
west­lichen
Politik fehlt der
Respekt vor
den Gefah­ren
einer möglichen
nuklearen
Konfrontation
Ihr Handeln wird nicht von der in einer
Krise gebotenen Empathie bestimmt. Die
Vereinigten Staaten agieren in ihrer Außenpolitik orientierungs- und führungslos. Die westliche Außenpolitik missachtet die faktisch immer noch bestehenden
realpolitischen Gesetzmäßigkeiten.
Wie von Blindheit geschlagen, fehlt
der aktuellen westlichen Politik der Respekt vor den Gefahren einer möglichen
nuklearen Konfrontation. Russland und
die USA halten sich immer noch mit der
Strategie der „gegenseitig gesicherten
Vernichtung“ in Schach. Sie stützt sich
auf die fahrlässige Annahme, dass sich
die Parteien immer rational verhalten
werden. Ein ausschließlich vernünftiges
Verhalten kann aber nicht wirklich als gesichert angesehen werden. Gesichert ist
nur die totale Zerstörung, wenn die Parteien sich irrational verhalten. Der Historiker Michael Stürmer versteht nukleare
Waffen als Instrumente politischer Strukturbildung, „denn sie erzwingen Selbstbeschränkung und Souveränitätsverzicht
sowie ein hohes Maß an Berechenbarkeit
und Vertrauensbildung. Wer diese Grundtatsache menschlicher Existenz vergisst,
handelt bei Strafe des Untergangs.“
Die Kubakrise hat uns gelehrt, den
Abstand zwischen dem Knopf, der den
Nuklearschlag auslöst, und dem Daumen, der den Knopf drückt, möglichst
groß zu halten. Bildlich gesprochen haben wir jahrzehntelang eine Matratze
nach der anderen zwischen Daumen
und Knopf geschoben. Das war und ist
der wahre Kern der Entspannungspolitik. Mir scheint aber, dass wir in den zurückliegenden Jahren eine Matratze nach
der anderen weggeräumt und das nukleare Risiko wieder erhöht haben.
Das Management der Kubakrise war
hohe Staatskunst. Kennedy setzte alles
daran, eine nukleare Konfrontation zu
vermeiden, insbesondere von dem Augenblick an, als die Militärs ihn darüber
aufklärten, dass mit etwa 70 Millionen
Toten in den USA zu rechnen sei, was sie
billigend in Kauf zu nehmen schienen. Er
folgte danach in den Verhandlungen mit
Chruschtschow unbeirrt den Empfehlungen des englischen Militärhistorikers Liddell Hart, sich „in die Schuhe des Gegners zu stellen, um die Dinge durch seine
Augen sehen zu können“. Im heutigen
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Umgang mit Russland gehört solcherlei
Empathie nicht mehr zu unserem politischen Vokabular.
Ein Raunen der Erleichterung ging
2009 durch die Münchner Sicherheitskonferenz, als der amerikanische Vizepräsident Biden die neue amerikanische
Politik verkündete, „in den Beziehungen
mit Russland die Neustarttaste zu drücken“. Präsident Obama geriet zum Hoffnungsträger und erhielt den Friedensnobelpreis. Aber dann verabschiedete sich
Obama gegen Ende seiner ersten Amtsperiode lautlos von seiner Politik – ohne
weitere Erklärung und ohne Konsultation mit Amerikas Verbündeten. Der
Neokonservativismus nahm fortan Einfluss auf die Außenpolitik der USA. Er
ist eine für Amerikaner verführerische
Ideologie, die unerschütterlich von der
weltweiten Vormachtstellung der Vereinigten Staaten ausgeht. So sah der zielstrebige Plan der Administration vor, den
von ihr aufgebauten Kandidaten Jazenjuk
durch einen Putsch in das Amt des ukrainischen Ministerpräsidenten zu hieven,
den amtierenden Staatspräsidenten Janukowitsch zu verjagen und schließlich –
wenn möglich – einen Regimewechsel in
Russland zu versuchen. Präsident Obama
räumte die amerikanische Verstrickung
in den Putsch gegenüber der CNN selbst
ein: Der von den USA „vermittelte Deal
zur Regierungsumbildung in der Ukraine“ habe Putin „aus dem Gleichgewicht
gebracht“. Den „change of regime“ pfiffen gegen Ende 2014 in Washington die
Spatzen von den Dächern.
D I E O PER ATI O N U KR A I N E geriet aber
zum Fiasko. Die Entschiedenheit der
russischen Reaktion war nicht ins Kalkül gezogen worden. Putin kassierte die
Krim. Der Westen sah darin eine „verbrecherische Annexion“. Es ist richtig,
eine Annexion beim Namen zu nennen.
Der Westen darf sich aber nicht so auf
die Einverleibung der Krim fixieren, als
hätte es keine schwärende Vorgeschichte
der Krise und keine amerikanische Einmischung in die inneren Angelegenheiten
der Ukraine gegeben. In den USA weisen schon seit Mitte 2014 Wissenschaftler, Journalisten, ehemalige Diplomaten und hochrangige CIA-Veteranen der
Administration die Hauptverantwortung
für die Entstehung des Konflikts zu. Sie
habe den „Fortbestand der Realpolitik im 21. Jahrhundert“ ignoriert. Putin
habe schon früh und wiederholt gewarnt,
dass mit der Integration der Ukraine in
die westliche Einflusssphäre eine rote Linie überschritten werden würde.
In der Tat hatte der russische Außenminister Lawrow im Februar 2008 den
US-Botschafter Burns förmlich einbestellt und ihm mitgeteilt, dass eine NatoMitgliedschaft der Ukraine das Land
möglicherweise in zwei Hälften teilen
würde – was zum Ausbruch von Gewalt
oder sogar zu einem Bürgerkrieg führen
könnte, der Russland unter Umständen
zwingen würde, eine Entscheidung über
eine Intervention zu treffen.
Ich frage mich, ob es schlimm gewesen wäre, rechtzeitig die Sorgen
der russischen Regierung vor einer
Umzingelungspolitik, dem Raketenabwehrsystem in Polen und Tschechien,
der Kündigung des ABM-Vertrags und
vor dem Zuwachs militärischer Präsenz
in Osteuropa ernst zu nehmen. Und ich
frage mich schließlich, wie die USA in
Putins Lage gehandelt hätten. Die USA
und Russland stehen in einer langen Tradition des Ziehens „roter Linien“. Für die
Vereinigten Staaten war die Stationierung sowjetischer Raketen in Kuba der
Klassiker unter den „roten Linien“. Die
Russen zogen eine „rote Linie“, als ihnen die Nato zu dicht auf den Pelz rückte.
Henry Kissinger wies darauf hin, dass
ein Land, durch das seit Jahrhunderten
fremde Armeen marschiert sind, seine
Sicherheit notwendigerweise sowohl
auf geopolitische als auch auf rechtliche Grundlagen stellt: „Wenn seine Sicherheitsgrenze von der Elbe tausend
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Wie die
Amerikaner in der
Kubakrise, so
zogen diesmal die
Russen eine
„rote Linie“, als
ihnen die Nato zu
nahe kam
Die russische
Gesellschaft ist
enttäuscht.
Besonders die
Jüngeren fühlen
sich als Ver­lie­­­­rer der Geschichte
Meilen Richtung Moskau verlegt wird,
erhält Russlands Auffassung von einer
Weltordnung eine unausweichliche strategische Komponente.“
Die Krise ist nicht durch einen rechtlichen Disput zu lösen. Bei einem Wasserrohrbruch ruft man den Klempner, wenn
das Haus nicht volllaufen soll, und nicht
den Rechtsgutachter. Diplomatie ist ein
Reparaturunternehmen. Sie sollte daran
arbeiten, die gegenwärtigen Turbulenzen
aufzulösen, Russland wieder seinen Platz
in der euroatlantischen Gemeinschaft
einzuräumen und ein neues multipolares und globalisiertes Gleichgewicht zu
schaffen. Es wird für Europa und die USA
keine Sicherheit gegen Russland, sondern
nur mit Russland geben. Niemand kann
Russland – eine Großmacht mit enormen
wirtschaftlichen Ressourcen, eben nicht
nur eine Regionalmacht – ohne Nachteile
für sich selbst isolieren.
„Die Dämonisierung von Wladimir
Putin ist keine Politik. Sie ist ein Alibi
für die Abwesenheit von Politik“, sagte
Henry Kissinger. Putin zählt zu den sogenannten „Sabadniki“ – den Westlern
in Russland –, und wir sind gut beraten,
seine europäische Ausrichtung zu nutzen.
Eine wirtschaftliche Zusammenarbeit im
Kooperationsraum von Vancouver bis
Wladiwostok würde hohes Wachstum erzeugen. Die Teilnahme Nordamerikas an
einer solchen Zusammenarbeit würde für
alle Beteiligten mehr Synergien schaffen,
als wenn sich die USA verweigern würden. Die USA sollten allerdings bedenken, dass sie die Europäer nicht davon
abhalten können, diesen Weg unter Umständen auch allein zu gehen.
in der russischen Gesellschaft Enttäuschung hervorgerufen. Russen um die 40 Jahre und jünger fühlen
sich als die Verlierer der Geschichte. Zu
den bittersten Enttäuschungen gehört das
Thema Osterweiterung der Nato. Hierzu
eine kurze Bemerkung: Im Februar 1990
warb US-Außenminister Baker gegenüber Gorbatschow in Moskau für die Mitgliedschaft des vereinigten Deutschland
in der Nato. Er fragte Gorbatschow wörtlich: „Würden Sie ein wiedervereinigtes
Deutschland außerhalb der Nato und
ohne US-Streitkräfte, dafür vielleicht
mit eigenen Atomwaffen, lieber sehen,
D IE KR I S E H AT
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oder ziehen Sie ein vereintes Deutschland vor, das in die Nato eingebunden
ist, während gleichzeitig gewährleistet ist,
dass die Nato ihr Territorium um keinen
Zentimeter in Richtung Osten ausweitet?“
Gorbatschow nahm Baker so ernst, dass
er schon zwei Tage später – beim Besuch
von Helmut Kohl in Moskau – seine Zustimmung zur deutschen Einheit erteilte.
Ich bin nicht mehr sicher, ob die USA
und Europa in ihren außenpolitischen
Zielen noch übereinstimmen. Wir wünschen uns ein starkes Europa, das sinnvoll mit Russland und den Vereinigten
Staaten zusammenarbeitet. Die Amerikaner haben ihrerseits kein Interesse an
einem starken Europa, auch nicht an einem allzu intensiven wirtschaftlichen
Schulterschluss zwischen Europa und
Russland. Neokonservative wie George
Friedman wollen „verhindern, dass sich
deutsches Kapital und deutsche Technologien einerseits und russische Rohstoffe
und billige russische Arbeitskräfte andererseits verbinden“. Ich halte George
Friedman für einen Spinner. Es sorgt
mich jedoch, dass sein Entwurf, der auf
die Zerstörung der Bindungen zwischen
Russland und Deutschland und auf die
Spaltung Europas abzielt, sich mit vielem deckt, was in den USA gegenwärtig
gedacht und getan wird.
Die Vereinigten Staaten unternehmen militärische Alleingänge an der Ostflanke der Nato. In Krisenzeiten sollten
aber weitreichende militärische Unterstützungsmaßnahmen im Bündnis abgestimmt werden. Die geplante Verlegung
einer US-Panzerbrigade nach Osteuropa
ist ein bedrohliches Unterfangen. Amerikanische Militärs – insbesondere Luftwaffengeneral Philip Breedlove – sehen
das anders. Sie halten sich zu solchen
Schritten berechtigt, wenn innerhalb des
Bündnisses kein politischer Konsens für
bestimmte Maßnahmen zu erreichen sei.
Dies ist nichts anderes als ein Angriff auf
die politische Souveränität der Nato. Europa ist aber kein Vorhof der USA. Es ist
unser Kontinent.
FR ANK ELBE war deutscher Botschafter in Polen
und Indien sowie fünf
Jahre lang Bürochef von
Hans-Dietrich Genscher
Foto: Privat
W E LT B Ü H N E
Analyse

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