Russland, die NATO und der Regionalkonflikt in der

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Russland, die NATO und der Regionalkonflikt in der
I. Faktoren erweiterter Sicherheit
1. Globalisierung und Weltprobleme
Gunther Hellmann
Ein neuer Kalter Krieg?
Russland, die NATO und der Regionalkonflikt in der Ukraine
Die gegenwärtige Krise in der Ukraine wirft hier und da immer wieder die Frage auf, ob
oder inwiefern wir es bei dieser Krise mit einer Neuauflage der früheren Konfrontation
zwischen der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt einerseits und den USA und der
NATO andererseits zu tun haben.1 Der Kalte Krieg bringt sich in Erinnerung. Vergleiche
mit dem Ost-West-Konflikt zu ziehen, bietet sich in der Tat schon alleine deswegen an,
weil sich mit Russland auf der einen Seite und dem Westen auf der anderen ähnlich wie
zwischen den 1950er und 1980er Jahren zwei ähnliche Akteursgruppen
gegenüberstehen. (Reader Sicherheitspolitik 3/2015)
Um angemessen würdigen zu können, inwieweit sich in der momentanen
Konfrontation tatsächlich alte Konfliktmuster wiederholen oder doch vor allem auch
neuartige Konstellationen ergeben, bedarf es allerdings eines genauen Blicks auf die
Ähnlichkeiten und Unterschiede. Dabei ist es nicht nur hilfreich, umfassende
weltpolitische Ordnungsmuster und klassische machtpolitische sowie ideologische
Konstellationen mit einzubeziehen, sondern auch die Akteure und die Konfliktdynamik
genauer unter die Lupe zu nehmen.
Der Ukraine-Konflikt im weltpolitischen Kontext
In einer umfassenden, die globale politische Ordnung als Ganzes einbeziehenden
Betrachtung fällt zunächst auf, dass die gegenwärtige Konfrontation zwischen Russland
und den NATO-Staaten um die Ukraine zwar bedeutsam, allerdings weit weniger
zentral prägend ist als dies früher für den Ost-West-Konflikt galt. Als sich der
Warschauer Pakt und die NATO mit ihren jeweiligen Führungsmächten Sowjetunion
und USA im Kalten Krieg gegenüberstanden, war dies eindeutig die weltpolitisch
prägendste Konfliktkonstellation. Schon allein die damals gängige Bezeichnung einer
1
Für seine Unterstützung bei der Recherche sowie inhaltliche Anregungen danke ich Daniel
Fehrmann.
1
bipolaren Weltordnung verwies darauf, dass es sich nicht nur um einen Konflikt
zwischen Ost und West handelte, sondern dass dieser Konflikt weitreichende
Auswirkungen weit über den unmittelbar betroffenen Raum zwischen Vancouver und
Wladiwostok hatte. Die Gründung einer Blockfreien Bewegung als Gegenpol gegen den
alles überlagernden großen weltpolitischen Konflikt markierte diese zentrale Prägekraft
des Ost-West-Konfliktes in besonderer Weise.
Ukraine-Gipfel
Verhandlungen in Minsk über
einen Frieden in der Ostukraine.
Neben Angela Merkel und
François Hollande nehmen daran
der russische Präsident Wladimir
Putin und der ukrainische
Präsident Petro Poroschenko teil.
Foto: Bundesregierung/Kugler
Im Vergleich hierzu rangiert die gegenwärtige Konfrontation zwischen Russland und
dem Westen auf einem weltpolitisch deutlich niedrigeren Niveau. Dies hängt zum einen
damit zusammen, dass Russland im Vergleich mit den USA einen markanten
machtpolitischen Abstieg zu verzeichnen hat. Wichtiger noch ist, dass die früher
durchaus zutreffend als bipolar beschriebene Konstellation offensichtlich ersetzt wurde
durch eine weltpolitische Konfiguration, die sich – negativ umrissen – zumindest nicht
mehr als sowjetisch-amerikanische Bipolarität beschreiben lässt. Ob wir es heute mit
einer „multipolaren“ Konstellation zu tun haben oder ob es überhaupt noch sinnvoll ist,
die gegenwärtige Konstellation in Kategorien der Polarität zu beschreiben, ist strittig.2
Allerdings ist dieser Streit für das Verständnis des derzeitigen Russland-NATO-Konflikts
nicht von entscheidender Bedeutung. Entscheidend ist vielmehr die Tatsache, dass die
Intensität der Konfrontation – verglichen mit anderen, ihre jeweilige Zeit prägenden
historischen Großmachtkonflikten – zum einen noch auf einem relativ niedrigen Niveau
verläuft. Zum anderen lassen sich zahlreiche andere Konflikte oder
Akteurskonstellationen benennen, die aus einer globalen Perspektive vor diesem
Ukraine-Konflikt zu platzieren wären, wenn man eine Hierarchie der weltpolitisch
prägenden Konflikte und Akteurskonstellationen erstellen wollte. Trotzdem ist nicht zu
2
Vgl. Richard N. Haass, The Age of Nonpolarity, in: Foreign Affairs, Mai/Juni 2008, online unter:
http://fam.ag/17hSeJ3.
2
verkennen, dass auch der Ukraine-Konflikt, wie früher Konfrontationen zwischen der
Sowjetunion und den USA, deshalb globale Auswirkungen hat, weil beide Seiten in
anderen Kontexten nach wie vor auf Zusammenarbeit angewiesen sind und die
Dynamiken der sogenannten linkage politics3 beträchtliche Komplikationen erzeugen
können. Im Unterschied zum Ost-West-Konflikt kann man allerdings auch
argumentieren, dass einige der derzeitigen Konkurrenten um die Spitzenplätze der
weltpolitisch besonders brisanten Krisen, also etwa der Aufstieg Chinas, der
Nuklearkonflikt um Iran sowie die Herausforderung islamistischen Terrors im
Allgemeinen und des IS im Besonderen weit größere gemeinsame Interessen zwischen
Russland und dem Westen aufweisen als dies für nachgelagerte Konflikte zu Zeiten des
Kalten Krieges der Fall war.
Russland, der Westen und die Renaissance regionaler Konflikte
Die unter diplomatischen Gesichtspunkten vielleicht nicht besonders kluge Aussage von
US-Präsident Barak Obama, dass Russland heute nur noch eine regionale Macht sei4, ist
zumindest im Hinblick auf die Implikation nicht ganz unzutreffend, dass es im Moment
schwer vorstellbar ist, dass sich ein Konflikt zwischen dem Westen und der NATO auf
der einen Seite und einer zumindest im Moment lediglich in ihrem unmittelbaren
regionalen Umfeld intervenierenden, im Vergleich zu früher aber militärisch deutlich
geschwächten Russland auf der anderen Seite sich in einer Art und Weise ausweiten
könnte, wie dies etwa in den großen Konfrontationen des Kalten Krieges um Kuba
(1962) oder Berlin (1948-49 und 1958) der Fall war. Ein kurzer Blick auf die so
genannten Regionalkonflikte während der Zeit des Ost-West-Konflikts ist zumindest
insofern erhellend, als die Bedeutung bestimmter Interessenssymmetrien oder
Interessensasymmetrien zwischen Sowjetunion/Warschauer Pakt und USA/NATO
hinsichtlich ihres Eskalationspotenzials klarer ins Auge sticht. Damit ist die Beobachtung
gemeint, dass die unterschiedliche Intensität der Interessen der damals auch
Supermächte genannten USA und Sowjetunion durchaus eine gewisse Prognosekraft
hinsichtlich der Stärke ihres jeweiligen politischen und militärischen Engagements und
damit eben auch hinsichtlich einer potenziellen Eskalationsdynamik hatte. Die
Konfrontationen um Kuba oder Berlin beispielsweise führten an den Rand einer
direkten nuklearen Konfrontation zwischen der Sowjetunion und den USA, weil für
3
James N. Rosenau, (Hrsg.), Linkage Politics, New York: The Free Press, 1969; Arthur A. Stein, The
Politics of Linkage, in: World Politics, Vol. 33, No. 1 (Oktober 1980), 62-81.
4
Scott Wilson, Obama dismisses Russia as ‘regional power’ acting out of weakness, Washington
Post, 25.3.2014, online unter: http://wapo.st/ORJgK0.
3
beide Seiten Kerninteressen auf dem Spiel standen und insofern von einer
Interessenssymmetrie, bezogen auf sogenannte vitale Interessen, auszugehen war. In
Zentralamerika in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren oder in Afghanistan im
selben Zeitraum waren allerdings umgekehrt die Interessensasymmetrien so
offensichtlich, dass zwar durchaus von einer amerikanisch-sowjetischen Rivalität in den
jeweiligen Regionen gesprochen werden konnte, allerdings war auch klar, dass weder
die USA direkt intervenieren würden, um die Sowjetunion aus Afghanistan
zurückzudrängen, noch umgekehrt die Sowjetunion direkt in Zentralamerika
intervenieren würde, um etwa mit den Sandinisten in Nicaragua die USA in die Enge zu
treiben.
Kubakrise 1961
Handschlag zwischen USPräsident John F. Kennedy
(re.) und dem sowjetischen
Premierminister Nikita
Chruschtschow.
Foto: The National Archives and
Records Administration/USA
Asymmetrische Interessensbalance
Der Konflikt um die Ukraine hat gewisse Ähnlichkeiten mit diesem Typus von
Regionalkonflikten aus den 1970er und 1980er Jahren. Die Interessenbalance zwischen
Russland und dem Westen ist bislang insofern recht eindeutig asymmetrisch als in der
Wahrnehmung des Konflikts aus russischer Sicht für Russland offensichtlich mehr auf
dem Spiel steht als umgekehrt in westlicher Wahrnehmung für die Staaten der NATO.
Zumindest kann man dies aus den bisherigen politischen, ökonomischen und
militärischen Investitionen ableiten, die beide Seite getätigt haben. Dass Russland mit
der Annexion der Krim nicht, wie Bismarck eine vergleichbare Sättigung seines
geopolitischen Appetits genannt hätte, saturiert war, sondern nach allen
Informationen, die man westlichen Medien entnehmen kann, die Destabilisierung der
Ost-Ukraine im Verlauf des Jahres 2014 systematisch vorangetrieben hat, zeugt
zumindest davon, dass die russische Führung um Präsident Wladimir Putin in der
Ukraine Kerninteressen bedroht sieht. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund der
4
Tatsache, dass die westlichen Sanktionen in Kombination mit einem von dieser
Sanktionspolitik nicht völlig losgelösten Einbruch der Einnahmen aus Erdöl- und
Gasexporten sowie einem sich rapide verschlechternden Wechselkurs des Rubels
beachtliche Auswirkungen in Russland hatten.
Trotz dieser steigenden Kosten scheint Putin an seiner offensiven Strategie festzuhalten
(Stand Mitte Februar 2015).5 Erklärungen für dieses Verhalten sind nicht nur in der
geopolitischen Bedeutung der Ukraine aus russischer Sicht zu suchen, sondern
vermutlich auch darin, dass der Verlust der Ukraine in der Folge der Maidan-Revolution
sowie des Sieges der Russland-kritischen Kräfte bei den diversen Wahlen in der Ukraine
als Fortsetzung, ja womöglich als Gipfel der Schmach wahrgenommen wird, die in
Moskau mit dem Vorrücken westlichen Einflusses nach Osten verbunden wird. Bei
genauer Lektüre einschlägiger russischer Dokumente erscheint die Entwicklung im
Nachhinein sogar wenig überraschend. In der vom russischen Präsidenten Putin bereits
Anfang 2013 unterzeichneten „Konzeption der Außenpolitik der Russischen
Föderation“6 beispielsweise erscheint Russlands Sicherheit vor allem bedroht durch die
„destruktive und rechtswidrige Verwendung der Soft Power, der
Menschenrechtskonzeptionen als Mittel zum Druck auf souveräne Staaten“ sowie „zur
Einmischung in ihre innenpolitischen Angelegenheiten“ (§20). Aus der Wahrnehmung
des „Zusammenbruchs der UdSSR“ als „größter geopolitischen Katastrophe des (20.)
Jahrhunderts“7 wurde offensichtlich die Lehre gezogen, dass Russland nicht zuletzt vor
dem Hintergrund der „Erhöhung der globalen Konkurrenz“ sowie einem „neuen Trend
zu einer Re-Ideologisierung der internationalen Beziehungen“ (§14) seine eigenen
Interessen und Machtansprüche offensiver vertreten müsse. Gefordert wird
insbesondere, dass Russland „die völkerrechtliche Bestimmung der Staatsgrenze der
Russischen Föderation und der Seegrenzen voranbringen“ müsse und dabei darauf zu
achten habe, dass „Russlands nationale Interessen, vor allem im Sicherheits- und
Wirtschaftsbereich, bedingungslos gesichert werden“ (§31 e, Hervorhebung des Autors).
5
Das Manuskript wurde unmittelbar nach dem Minsker Gipfeltreffen am 11./12. Februar 2015
fertiggestellt.
6
Wladimir Putin, Konzeption der Außenpolitik der Russischen Föderation, gebilligt vom
Präsidenten der Russischen Föderation, 12.2.2013, online unter: http://bit.ly/1yMHGIJ.
7
Diese Formel wird häufig zitiert. An Bedeutung gewinnt sie allerdings noch, wenn man sie im
größeren Zusammenhang liest: „Man muss einräumen, dass der Zusammenbruch der UdSSR die
größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts war. Zig Millionen unserer Mitbürger und
Landsleute lebten auf einmal außerhalb der Grenzen Russlands und mussten sich eine neue
Heimat suchen. Die Ersparnisse der Bürger wurden abgewertet, die alten Ideale zerstört, viele
Institutionen aufgelöst oder überstürzt reformiert“; Wladimir Putin, Rede zur Lage der Nation
vor der Föderalversammlung am 25. April 2005, zit. nach Jean-Marie Chauvier, Russland unter
Väterchen Putin. Autoritarismus und Marktwirtschaft für die postsowjetische Gesellschaft, Le
Monde Diplomatique, online unter: http://bit.ly/1zIgcUA, 9.2.2007. Hervorh. GH.
5
Zudem wird der „allseitige Schutz der Rechte und legitimen Interessen der russischen
Bürger und der im Ausland ansässigen Landsleute“ (§4 g) als ein „Hauptziel“ russischer
Sicherheitspolitik genannt. Aus russischer Binnensicht erscheint der derzeitige UkraineKonflikt daher sowohl als machtpolitischer wie auch ideologischer Konflikt, wobei die
ideologische Pointe jedoch gerade darin liegt, dass nicht mehr wie im Kalten Krieg der
Kommunismus gegen den Kapitalismus steht, sondern eine als destruktiv und
rechtswidrig gebrandmarkte Verwendung der Soft Power als Bedrohung des eigenen
Herrschaftsmodells ins Zentrum gerückt wird. Auch wenn eine solche interne
Perspektive einen deutlich anderen Ausgangspunkt wählt als eher objektivistische
realistische Analysen, wie sie John Mearsheimer oder Alexander Lukin anstellen,8 ist die
Kompatibilität zwischen beiden im Ergebnis doch beachtenswert, akzentuieren sie doch
beide eine eher defensive oder präventive Handlungsmotivation zum Schutz vitaler
nationaler Interessen.
Berlin
Amerikanische Panzer stehen
am Checkpoint Charlie
sowjetischen gegenüber.
Foto: Regierungonline/Schütz
Westliche Interessen und Zwänge einer Werte-Politik
Eine vergleichbare Analyse extern-objektivistischer und intern-subjektivistischer
Perspektiven westlicher Interessen verstärkt das Argument, dass es im Vergleich
zwischen altem Ost-West-Konflikt und dem neuen Russland-NATO-Konflikt gewichtige
Unterschiede gibt. Am offensichtlichsten ist dies schon bei einem oberflächlichen
geopolitischen Blick auf die Landkarte: im derzeitigen Konflikt stehen sich nicht wie vor
1990 zwei Allianzen gegenüber, sondern eine nach wie vor militärisch potente, wenn
8
Vgl. John J. Mearsheimer, Why the Ukraine Crisis Is the West’s Fault. The Liberal Delusions That
Provoked Putin, in: Foreign Affairs, September/Oktober 2014, online unter:
http://fam.ag/1qmKGaG; Alexander Lukin, What the Kremlin Is Thinking. Putin’s Vision for
Eurasia, in: Foreign Affairs, Juli/August 2014, online unter: http://fam.ag/1L3tmCi.
6
auch im Vergleich zum Kalten Krieg geschwächte Macht Russland auf der einen Seite,
die ihrerseits auf wenige Verbündete verweisen kann und, auf der anderen Seite, eine
als Westen bezeichnete Staatengruppe, die sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten
in beachtlicher Weise bis an die Grenze Russlands vorgeschoben hat.
Dies manifestiert sich insbesondere, aber nicht ausschließlich, in der NATO- und EUMitgliedschaft von Staaten, die vor 25 Jahren noch zum Herrschaftsbereich der
Sowjetunion zählten. Wenn man im klassischen realistischen Sinne nur die
ökonomischen und militärischen Fähigkeiten dieser Staatengruppe addiert, schlägt die
Machtbalance eindeutig zuungunsten Russlands aus. Dass der Westen in seinen
gängigen Selbstbeschreibungen schon deshalb keine militärische Bedrohung für
Russland darstellt, weil insbesondere die EU-Mitglieder der NATO aus politischkulturellen Gründen keine Angriffskriege führen können, verfehlt allerdings den Punkt,
dass in Moskau gerade nicht eine militärische Bedrohung des Westens, sondern die
„Verwendung der Soft Power“ als Kernbedrohung gesehen wird. Die alles andere als
neue „hybride“ Form der Kriegsführung,9 die Analysten Russland und den Separatisten
in der östlichen Ukraine zuschreiben, erscheint in dieser Perspektive als die
asymmetrische Antwort auf die asymmetrische „Verwendung der Soft Power“. Die
Ukraine wird – durchaus von beiden Seiten – als „Versuchsfeld“10 betrachtet, in dem
klassisches geopolitisches Einflusszonendenken auf einen westlich geprägten und auch
dezidiert vorgetragenen universalistischen Selbstbestimmungsanspruch der Völker trifft
– oder wie es Bundeskanzlerin Merkel formulierte: es stehen sich die „geopolitischen
Handlungsmuster des 19. und 20. Jahrhunderts“ und „die Prinzipien und Mittel unserer
Zeit, des 21. Jahrhunderts“ gegenüber.11
Die Asymmetrie der Interessensbalance aus westlicher Sicht kommt dabei unter
anderem darin zum Ausdruck, dass die NATO bislang ausgeschlossen hat, direkt
militärisch einzugreifen. In nüchterner Interessenrhetorik würde man sagen, dass
insbesondere für jene Staaten, die unter reinen Fähigkeitsgesichtspunkten prinzipiell
die militärischen Möglichkeiten zu effektiven Gegenmaßnahmen gegen das russische
Vorgehen besitzen, keine vitalen Interessen gegeben sind, militärisch zu eskalieren. Die
9
Williamson Murray, Peter R. Mansoor, Hrsg., Hybrid Warfare: Fighting Complex Opponents
from the Ancient World to the Present Cambridge: Cambridge University Press 2012.
10
Timothy Snyder, Russland will die EU zerstören. Interview mit Alice Bota, ZEIT Online,
29.9.2014, online unter: http://bit.ly/1vc1cTI.
11
Angela Merkel, Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zum Treffen der
Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zur Lage in der Ukraine am 6. März 2014;
abgegeben vor dem Deutschen Bundestag am 13. März 2014, in: Bulletin der Bundesregierung
Nr. 25-1 vom 13. März 2014, S. 8.
7
sich seit kurzem intensivierende Debatte über Waffenlieferungen zeigt jedoch auch,
dass die über die vergangenen zwei Jahrzehnte praktizierte Werte-Politik12, die zur
stetigen Verbreitung westlicher Werte – respektive Einflusszonen – wesentlich
beigetragen hat, ihrerseits Handlungszwänge nach sich zieht. Die Zusage politischer
Unterstützung für die Ukraine und die Forderung nach Selbstbestimmung unter
Wahrung verfassungsmäßiger Grundsätze kann dann nicht von einem bloßen
Achselzucken begleitet werden, wenn die von westlichen Geheimdiensten und OSZEBeobachtern festgestellte militärische Intervention Russlands die fragilen Anfänge
demokratischer ukrainischer Selbstbestimmung systematisch unterminiert. Im
nüchternen realistischen Strategenkalkül mag es daher aus der Perspektive nationaler
Interessen keinen Anlass geben, sich auf einen riskanten Eskalationskurs in der
Auseinandersetzung mit Russland einzulassen. Aus einer Perspektive westlicher
Interessen und Werte ergeben sich allerdings gerade deshalb beträchtliche Zwänge,
weil das russische Vorgehen nicht nur den vitalen Identitätskern westlicher
Selbstbeschreibung trifft, sondern auch die stetigen Erfolge der Ausbreitung dieser
Werte in den vergangenen zwei Jahrzehnten umzukehren droht.
Münchener
Sicherheitskonferenz (MSC)
Bundeskanzlerin Angela
Merkel zur Ukraine-Krise
am 07.02.15: "Wir wollen
die Sicherheit in Europa
gemeinsam mit Russland
gestalten, nicht gegen
Russland."
Foto: Bundesregierung/Steins
Die NATO, die EU und die Auswirkungen der neuen Spielmacherrolle Deutschlands
Objektivistisch-realistische Beschreibungen von vermeintlichen Interessen und
Interessensbalancen drohen daher auch die Brisanz des Konflikts zu unterschätzen, die
sich aus einer internen Perspektive ergibt, die versucht, die Binnensichten Russlands und
12
Vgl. Friedrich Kratochwil, Das Ende von Etwas – oder: Is anybody home?, in: Gunther
Hellmann, Daniel Jacobi und Ursula Stark Urrestarazu (Hrsg.) „Früher, entschiedener und
substantieller“? Die neue Debatte über Deutschlands Außenpolitik, Sonderheft 6 der „Zeitschrift
für Außen- und Sicherheitspolitik“, Wiesbaden: Springer VS 2015, S. 45-65, ferner, Matthias
Zimmer, Werte oder Interessen? Über eine bisweilen schwierige Gemengelage in der deutschen
Außenpolitik, in: Hellmann et al. (Hrsg.) 2015, S. 239-258.
8
westlicher Staaten zu rekonstruieren und aufeinander zu beziehen. Vor allem im
Vergleich unterschiedlicher Interessenartikulationen in Berlin und Washington zeigen
sich auch weitere gewichtige Differenzen zwischen altem Kalten Krieg und der neuen
Konstellation. Wie sehr die Ukraine-Krise ein Regionalkonflikt ist, zeigt sich im
verhaltenen Engagement der USA, die bislang keinen Anlass sieht, sich in einer
prominenten Rolle zu engagieren. Die führende Rolle innerhalb des Westens
hinsichtlich Sanktionspolitik und diplomatischer Vermittlung übernehmen die
europäischen Verbündeten der NATO, allen voran Deutschland. Nirgends äußern sich
die gravierenden Veränderungen im west-östlichen Machtgefüge deutlicher als darin,
dass das vereinigte Deutschland vom Kernbetroffenen des Ost-West-Konflikts als
geteiltem Land und sicherem Kriegsschauplatz im Falle einer militärischen Eskalation
zwischen Warschauer Pakt und NATO zu einem der Hauptakteure der gegenwärtigen
Russland-NATO-Krise geworden ist.13 Der relative Aufstieg Deutschlands platziert aber
auch einen Akteur im Zentrum westlicher Krisenpolitik, der hinsichtlich seiner
militärischen Möglichkeiten und seines außenpolitischen Repertoires den Gegenpol zur
Weltmacht USA markiert. Nirgends zeigt sich dies deutlicher als in der diplomatischen
Strategie sowie der Frage möglicher „Defensivwaffen“-Lieferungen an die Ukraine.
Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Politik der Drohungen einschließlich möglicher
Waffenlieferungen oder eine auf diplomatische Vermittlung und ökonomische
Sanktionen beschränkte Strategie aussichtsreicher ist, wird häufig übersehen, dass eine
angemessene Bewertung nicht zuletzt von der Einschätzung der Motive Putins sowie
der russischen Führung abhängt. Wenn die Krim-Annexion und die Unterstützung der
ukrainischen Separatisten primär aus opportunistischen Gründen vorgenommen wurde
und wird – also der Ausschluss militärischer Gegenmaßnahmen seitens des Westens für
Putin vor allem günstige Gelegenheiten schuf, die er zum eigenen Vorteil ausnutzte –
dann ergeben sich andere potenzielle Konsequenzen hinsichtlich des
Eskalationspotenzials als wenn die Motive primär in einer in Moskau wahrgenommenen
Bedrohung des eigenen Herrschaftsbereichs oder -modells gesehen werden. Es scheint
so als ob Washington und Berlin zu anderen Einschätzungen der Motive neigen – und
wohl auch zu anderen Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind. Auch dies wäre
allerdings im Vergleich zum Kalten Krieg nichts Neues.
13
Vgl. Gunther Hellmann, Im offensiven Mittelfeld – Deutschlands neue Spielmacher-Rolle in der
europäischen Politik, in: ders. et al. (Hrsg.) 2015, S. 473-491.
9
Autor
Prof. Dr. Gunther Hellmann, Jahrgang 1960, ist Professor für Politikwissenschaft an der
Goethe-Universität Frankfurt/M. mit dem Schwerpunkt deutsche und europäische
Außenpolitik sowie Mitherausgeber der Zeitschrift für Internationale Beziehungen. Zu
seinen Forschungsschwerpunkten gehören Theorien internationaler Beziehungen,
deutsche und europäische Außenpolitik sowie transatlantische und europäische
Sicherheit.
Weiterführende Links
http://www.normativeorders.net/de/
Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität
Frankfurt am Main
http://www.bpb.de/themen/BUG8HV,0,0,Der_Kalte_Krieg_und_das_Wettr%FCsten.html
Der Kalte Krieg und das Wettrüsten
http://www.swp-berlin.org/de/forschungsgruppen/osteuropa-und-eurasien.html
Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien der Stiftung Wissenschaft und Politik
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