Post-Chef droht mit Billigtarif

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Post-Chef droht mit Billigtarif
Windrad am Gartenteich
Israel ohne Schuld?
Die Energiewende verschandelt zuweilen
das Umfeld von Kulturdenkmalen. Seite 3
Die Dominanz des Öls
Armeesprecher Shalicar macht Hamas für
Zivilopfer verantwortlich. Seiten 7 und 15
Edgardo Lander über die Logik
des Staates Venezuela. Seite 10
Fotos: Fotolia/Phantom (l.), imago/Xinhua (r.)
Dienstag, 29. Juli 2014
69. Jahrgang/Nr. 174
Berlinausgabe 1,70 €
www.neues-deutschland.de
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STANDPUNKT
Wer ließ Libyen
scheitern?
Post-Chef droht mit Billigtarif
Konzernspitze will sparen – vor allem bei den Löhnen für neue Mitarbeiter
Roland Etzel zum Chaos in Tripolis
Als vor etwa 20 Jahren der Begriff
»scheiternde Staaten« (failing
states) Einzug in den politischen
Wortschatz hielt, dachte dabei
niemand an Libyen. Man hatte
vor allem Somalia vor Augen:
Bürgerkrieg, zerfallene staatliche
Strukturen, eine machtlose
Zentralregierung ... Am Horn von
Afrika ist das noch immer so.
Aber aktuell trifft das bezeichnete
Chaos besonders auf Libyen zu.
Manch westlicher Politiker erweckt beim Dozieren über
»scheiternde Staaten« den Eindruck, es handele sich bei letzteren geradezu um das Resultat von
Naturkatastrophen. Das ist mindestens beschönigend, auch wenn
die Schuldbilanz der ersten Welt
von Land zu Land unterschiedlich
ausfällt.
Bei Libyen ist es deutlich. Jeder, der sich an den NATO-Luftkrieg zum Sturz der GaddafiHerrschaft vor drei Jahren erinnert, konnte sehen: Es war verantwortungsloses politisches
Abenteurertum des Westens, vor
allem Frankreichs unter Sarkozy,
in bemerkenswerter Kontinuität
mitgetragen von seinem sozialistischen Nachfolger Hollande.
Man wollte sich eines unbotmäßigen afrikanischen Führers entledigen. War die Art und Weise
dessen schon völlig inakzeptabel,
so kam hinzu, dass man nicht im
mindesten wusste, wie es nach
Krieg und Abzug weiter gehen
sollte. Das war und ist so in Somalia und Irak und jetzt eben
auch in Libyen. Dafür zahlt dessen Bevölkerung einen hohen
Preis, und das auf nicht absehbare Zeit. Warum eigentlich gibt es
dafür keine Anklage vor einem
Internationalen Strafgerichtshof?
UNTEN LINKS
Sage keiner, im hitzigen Sommer
hierzulande gebe es nur das
Sommerloch. Es gibt so viel zu
erfahren, was sonst in der Fülle
der üblichen politischen Wasserstandsmeldungen untergehen
würde. Wäre im Berliner Raumschiff Normalbetrieb, hätte kein
Mensch erfahren, dass Ex-Telekom-Chef Ron Sommer nach dem
abrupten Ende seiner Karriere das
U-Bahn-Fahren neu erlernen
musste. Oder Ex-Porsche-Chef
Wendelin Wiedeking jetzt nicht
eben erfolgreich italienische Restaurants betreibt. Oder Annette
Schavan immer noch nicht fertig
ist mit ihrer Plagiatsgeschichte.
Mal ehrlich, es wäre uns tatsächlich etwas entgangen. Weil aber
der Sommer allein mit weinerlicher Nostalgie nicht zu überbrücken ist, nehmen ARD und ZDF
gerade eine Menge auf sich – und
verwöhnen uns mit den bewährten Sommerinterviews. Wenn
Seehofer poltert und Gabriel
feixt, kann man immerhin Wetten
abschließen, wann wir ihnen in
der Serie »Was macht eigentlich ...« wiederbegegnen. oer
ISSN 0323-4940
Kiewer Truppen
»sichern« den
MH17-Absturzort
Internationale Untersuchung wird
nach wie vor unmöglich gemacht
Foto: dpa/Sebastian Kahnert
Berlin. Die Konkurrenz ist schuld. So einfach
lassen sich die neuesten Äußerungen von PostChef Frank Appel auf den Punkt bringen. Und
wenn die Konkurrenz zu billig ist, muss man
eben selbst auch billiger werden. Allerdings
nicht beim Porto, über dessen neuerliche Anhebung im kommenden Jahr Vorstandsmitglied Jürgen Gerdes bereits laut nachgedacht
hat, sondern bei den Löhnen. Neue Mitarbeiter würde Appel gern schlechter bezahlen als
die, die seit Jahren im Unternehmen tätig sind.
Schließlich zahle man derzeit »teilweise doppelt so viel wie unsere Mitbewerber«.
Dabei kann der DAX-notierte Konzern, der
weltweit 430 000 Mitarbeiter beschäftigt, in
Sachen Arbeitnehmerausbeutung teilweise
durchaus mit seinen billigeren Konkurrenten
mithalten: Im Juni hatte der Fall einer Beschäftigten für Schlagzeilen gesorgt, deren Arbeitsvertrag nach 17 Jahren im Unternehmen
und 88 Befristungen nicht mehr verlängert
worden war. Erst nachdem sie vor Gericht gezogen war und der Fall an die Öffentlichkeit
kam, bot die Post ihr einen festen Arbeitsvertrag an. Insgesamt haben rund 15 Prozent der
bundesdeutschen Post-Beschäftigten nur befristete Verträge.
Postchef Appel erwartet im kommenden
Jahr harte Tarifverhandlungen mit den Arbeitnehmervertretern. Die Gewerkschaft
ver.di reagierte zunächst gelassen auf die Ankündigung. Der Tarifvertrag gelte bis Ende
Mai 2015. Aktuell gebe es keinen Gesprächsbedarf.
Doch nicht nur neu eingestellten Postboten, Paketsortierern und Schaltermitarbeitern droht Ungemach. Auch heutige Mitarbeiter müssten ihren Beitrag zur Kostensenkung leisten, fordert Appel. Die Pläne des
Managements sind ehrgeizig: Der operative
Gewinn, der 2013 bei 2,9 Milliarden Euro lag,
soll bis 2020 auf über 5 Milliarden Euro steigen. Im vergangenen Jahr hatte der Konzern
rund 55 Milliarden Euro Umsatz erzielt. grg
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Rette sich aus Libyen, wer kann
Brennende Großtanks, marodierende Milizen und ein umkämpfter Flughafen lassen Ausländer flüchten
Bei dem Großfeuer in der libyschen Hauptstadt Tripolis hat
ein zweiter Treibstofftank Feuer gefangen. Die Lage sei »sehr
gefährlich«, teilte die libysche
Regierung am Montag mit.
Von Roland Etzel
Es brennt in Libyen und das an
seinen empfindlichsten Stellen,
wo sich Erdgas und vor allem Öl
in gigantischen Reservoirs befinden. Zwar wird noch nicht wieder
so viel Öl gefördert wie vor dem
Bürgerkrieg 2011, aber genug,
dass sich rivalisierende Milizen einen erbitterten und rücksichtslosen Kampf um das milliardenschwere Exportgut liefern. Die libysche Regierung warnte am
Montag laut AFP vor einer »humanitären und Umweltkatastrophe«, deren Folgen schwer abzusehen seien.
Das ist milde ausgedrückt. Die
westlichen Staaten wissen momentan wohl nicht, was sie mehr
fürchten sollen: die Explosionen
und Großbrände oder Privatarmeen und Söldnerbanden. Eines
der derzeit umkämpften Objekte
ist der Flughafen von Tripolis. Über
diesen nutzten die westlichen Botschaftsvertreter nach der Devise
»Rette seich, wer kann!« jede sich
noch bietende Gelegenheit, dem
Kriegsmoloch Libyen zu entkommen. Klickt man die entsprechenden Informationsseiten an, findet
man allerdings keine ausländische
Fluggesellschaft mehr, die Tripolis
oder einen anderen Flughafen des
Landes anfliegt. Es gibt wohl auch
keinen politischen Druck wie im
Falle Israels, das ausländische Airlines nötigte, Tel Aviv trotz Beschusses durch Hamas-Raketen zu
bedienen.
Den Italienern war dies sowieso zu unsicher. Sie nahmen den
etwa 200 Kilometer langen Landweg zur tunesischen Grenze. Auch
die deutschen Bürger sind vom
Auswärtigen Amt aufgefordert
worden auszureisen.
Das Botschafts- und sonstige
Personal mit offiziellem Status sei
am Morgen »aus Sicherheitsgründen vorübergehend evakuiert worden«, sagte eine Außen-
»Alle internationalen
Mitarbeiter arbeiten
temporär von
Standorten außerhalb Libyens.«
Wintershall Libyen
amtssprecherin am Montag in
Berlin. Die Botschaft werde ihre
Arbeit »in der Region fortsetzen«.
Erstaunlich ist, dass es trotz allem noch eine arbeitende Feuerwehr gibt, die sich seit Sonntag allerdings vergeblich müht, das
Feuer in den Treibstofflagern zu
löschen, die bei Kämpfen von Milizen mit Raketen in Brand ge-
schossen worden waren. Die Behörden forderten inzwischen
Löschflugzeuge aus dem Ausland
an – in der Hoffnung, es reagieren wenigstens die Staaten, die
vor drei Jahren hier Krieg führten, wie Frankreich oder die einstige Kolonialmacht Italien. Das
Energieministerium forderte alle
Anwohner aus einem Fünf-Kilometer-Ring um den brennenden
Sechs-Millionen-Liter-Tank zur
Flucht auf.
Der seit mehr als 60 Jahren in
Libyen tätige deutsche Erdölproduzent Wintershall hat nach Angaben seines Sprechers schon Ende Mai entschieden, »alle verbliebenen internationalen Mitarbeiter temporär von anderen
Standorten außerhalb Libyens arbeiten zu lassen«.
Gekämpft wird auch in der östlichen Metropole Bengasi. Dort
sollen laut AFP bei Gefechten zwischen Regierungskräften und Milizen am Wochenende 28 Menschen getötet worden sein.
Berlin. Tagelang warf die ukrainische Regierung den Aufständischen im Osten des
Landes vor, sie behinderten unabhängige Ermittlungen in dem etwa 35 Quadratkilometer großen Gebiet, in dem die Trümmer der
am 17. Juli abgestürzten Boeing 777 der Malaysia Airlines verstreut liegen. Dabei konnten OSZE-Beobachter den Unglücksort bereits in Augenschein nehmen. Inzwischen
scheint das nicht mehr möglich zu sein. Internationale Ermittlungsteams aus Australien und den Niederlanden versuchten am
Montagmorgen vergeblich, zur Absturzstelle
vorzudringen. Nach Angaben der Regierung
in Den Haag mussten sie sich wegen neuer
Kämpfe zwischen der ukrainischen Armee
und ostukrainischen Separatisten wieder zurückziehen. Erste Erkundungsmissionen waren bereits am Sonnabend und Sonntag gescheitert. Der Grund: Die ukrainische Armee
will das Absturzgebiet durch eine Offensive
erobern – obwohl Präsident Petro Poroschenko wie auch die Rebellen ursprünglich
eine Waffenruhe für die Region verkündet
hatten. Am Montag stießen die Truppen der
Kiewer Regierung nach Angaben ihres Pressedienstes in die Städte Schachtjorsk und Tores vor, auch um die Orte Perwomaisk und
Sneshnoje gebe es Kämpfe mit dem Ziel der
»vollkommenen Befreiung«.
»Die Ukrainer haben Teile des Absturzortes unter ihre Kontrolle gebracht«, bestätigte
der Vizeregierungschef der »Volksrepublik
Donezk«, Wladimir Antjufejew. Kiew und die
Separatisten werfen sich gegenseitig vor, die
Boeing 777 abgeschossen zu haben. Auch der
Vorwurf, am Absturzort Beweise vernichten
zu wollen, dürfte nun gegenseitig erhoben
werden. nd/Agenturen
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Russland im Fall
Jukos verurteilt
Staat soll ehemaligen Aktionären
50 Milliarden Dollar zahlen
Den Haag. Russland soll einem niederländischen Schiedsgericht zufolge ehemaligen Aktionären des einst größten russischen Ölkonzerns Jukos eine Rekordentschädigung in Höhe von 50 Milliarden Dollar (37,2 Mrd. Euro)
zahlen. Das Gericht räumte in seinem am
Montag in Den Haag bekanntgegebenen Urteil zwar ein, dass Jukos teilweise »Steueroptimierung« betrieben hatte, sah die Zerschlagung des Konzerns jedoch als politisch motiviert an. Die Kläger hatten 114 Milliarden Dollar Entschädigung verlangt.
Der Konzern des Oligarchen Michail Chodorkowski war Anfang des Jahrtausends zerschlagen worden. Staat und Gerichte warfen
dem einst reichsten russischen Ölmagnaten
und mehreren Geschäftspartnern schwere
Wirtschaftsstraftaten vor. Chodorkowski wurde in Lagerhaft genommen und erst im vergangenen Dezember entlassen.
Ein Teil der früheren Aktionäre war inzwischen vor den Schiedsgerichtshof gezogen. Bei den Klägern handelt es sich um die
Besitzer der Group Menatep Limited (GML),
der Jukos zuletzt mehrheitlich gehörte. Die
Verhandlungen dauerten fast zehn Jahre. Es
war das größte Verfahren in der Geschichte
der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit.
Beide Seiten haben das Recht, das Urteil
vor einem ordentlichen niederländischen Gericht anzufechten. Es verstehe sich von selbst,
dass sein Land »alle rechtlichen Möglichkeiten« nutzen werde, um seine Position zu verteidigen, sagte Außenminister Sergej Lawrow
am Montag vor Journalisten in Moskau. GMLChef Tim Osborne sagte, es gebe eine Strategie, wie das Geld eingetrieben werden soll,
die aber nicht veröffentlicht werde. Sollte
Russland die Summe zahlen müssen, wäre
dies ein schwerer Schlag für dessen Wirtschaft. dpa/nd
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