Protestbewegung in Russland – Der Wandel beginnt von unten
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Protestbewegung in Russland – Der Wandel beginnt von unten
10 Neues Tauwetter? Protestbewegung in Russland – Der Wandel beginnt von unten russland Moskau von Steffen von Bünau In Folge der massiven Fälschungsvorwürfe bei den Duma wahlen 2011 formierte sich in Russland eine überraschend starke Bürgerbewegung. Für viele Russen ist es das erste Mal, dass sie ihre Meinung frei in der Öffentlichkeit artikulieren. Dennoch würden viele Russen heute Putin auch in unabhängigen Wahlen unterstützen. „Ich habe mich zum ersten Mal wie in einem normalen Land gefühlt“, beschreibt Nikita seine erste Demonstration in Moskau. „Normal“, erklärt er, „weil wir gezeigt haben, was uns nicht passt, friedlich und ohne dass wir von der Polizei weggeprügelt wurden.“ Das Wort „normal“, so hat man das Gefühl, bedeutet für Nikita auch „wie in Europa“. Es scheint nicht so, als würden Nikita und die anderen ihre Ziele bald erreichen. Dennoch sind die Auswirkungen der neuen Protestbewegung, die sich in den letzten Monaten geformt hat, fundamental. Eine Generation wird von friedlichen Demonstrationen geprägt, das Chaos der Neunziger Jahre tritt in den Hintergrund und eine Mittelschicht, die selbstbewusst einen modernen Staat fordert, widerlegt die historische These, dass in Russland Veränderung nur von oben kommen kann. Eine Bewegung wächst Am 4. Februar 2012 erlebte Moskau die größten Proteste seit Bestehen der russischen Föderation. Bei minus 17 Grad zogen mehr als 100 000 Menschen von der Metrostation Oktjabrskaja zum Bolotnaja Ploschtschad. Der Platz im Herzen Moskaus ist längst zum symbolischen Ort für die Proteste geworden. Bereits am 10. Dezember 2011 versammelten sich hier 50 000 Moskauer zum Protest. Sie schwenkten Parteifahnen, hatten sich als Zeichen des Protestes weiße Bändchen an den Arm geknotet und verschenkten weiße Chrysanthemen und Luftballons. Es waren die ersten großen Proteste der Hauptstadt. Zwei Wochen später, in Deutschland feierte man Heiligabend, strömten in Moskau immer mehr Menschen auf die Sacharov Allee. Der 24. Dezember machte deutlich, wie tief der Unmut reicht. Immer mehr bekannte Persönlichkeiten stellten sich hinter die Bewegung. Der im September aus politischen Gründen entlassene, aber weithin respektierte Finanzminister Aleksej Kudrin nahm ebenfalls an den Kundgebungen teil. Auch Ksenija Sobtschak, Tochter des ehemaligen Bürger meisters von St. Petersburg, Absolventin der renommierten Diplomatenschule des russischen Außenministeriums, It-Girl und Moderatorin mehrerer Fernsehsendungen, zeigte sich unter den Protestierenden. Michail Prochorow, schwerreicher Oligarch und Kandidat für das Präsidentenamt, nutzte die Gelegenheit, um für seine eigene Kandidatur im bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf zu werben. Forderungen und Hintergründe Die Bewegung hat ihre Forderungen eindeutig formuliert. Die Protestierenden fordern eine Wiederholung der Wahlen zur Staatsduma, dem russischen Repräsentantenhaus, die Ent lassung des Wahlleiters und die Freilassung aller politischen Gefangenen. In Wirklichkeit sehnen sich die Bürger der Hauptstadt wohl nach umfassendem Wandel. Mit Putins verfassungsgemäßem Rückzug vom Amt des Präsidenten und den neuen Akzenten, die sein Nachfolger Medwedew setzte, hatten viele gehofft, dass sich das politische System aus sich heraus wandeln könnte. Es wurde spekuliert, dass Dimitri Medwedew, der nach der russischen Verfassung noch weitere vier Jahre das Amt des Präsidenten bekleiden dürfte, bei den Wahlen am 4. März gegen Putin antreten könnte. Lange Zeit schwiegen Putin und Medwedew über ihre mögliche Kandidatur. Die Offenlegung der „Strategie“ kam im vergangenen September: Präsident Medwedew schlug Premierminister Putin als Kandidaten für das Präsidentenamt vor. Als zynisch empfunden wurde vor allem Putins Äußerung, dass der Ämtertausch schon „seit langem“ festgestanden habe. Offensichtlich hatte das Tandem Putin und Medwedew es aber nicht für nötig empfunden, die Wähler darüber zu informieren und die Wiederwahl schlicht vorweggenommen. Die Ereignisse im Umfeld der Dumawahlen vom 4. Dezember 2011 ließen die Resignation dann in offenen Protest um schlagen. Bereits am Wahltag kursierten im Internet hunderte Videos, die angebliche Wahlfälschungen dokumentierten. Die offizielle Wahlkommission verkündete Wahlbeteiligungen von über 99 Prozent in Tschetschenien, mehr als 90 Prozent davon für die Putin-Partei „Einiges Russland“. In einem Vorabbericht schrieben die Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa über zahlreiche prozessuale Verstöße sowie Anzeichen von Wahlmanipulation. Einen Tag nach der Wahl protestierten daraufhin ungefähr 5 000 Oppo sitionsanhänger gegen den Ablauf der Wahl. Es kam zu Festnahmen, mehrere Oppositionsführer, darunter der bekannte Anti-Korruptionskämpfer und Blogger Alexej Nawalny, w urden Neues Tauwetter? 11 f 24. Dezember, 2011, Wahlproteste in Moskau, Sakharov Prospect zu 15 Tagen Ordnungshaft verurteilt. Diese Urteile, vielerorts als politisch motivierter Einschüchterungsversuch wahrgenommen, überschritten die Grenze dessen, was man in der Hauptstadt zu akzeptieren bereit war. Die Urteile waren ein starker Antrieb für die massiven Proteste am 10. Dezember. Kein „russischer Frühling“ Auch den Protestierenden dürfte klar sein, dass die Erfüllung ihrer zentralen Forderungen – Neuwahlen zur Duma und die Entlassung des Vorsitzenden der Wahlkommission – kurz vor und auch nach der Präsidentschaftswahl praktisch ausgeschlossen ist. Daher stellt sich die Frage, welche Rolle die Bewegung nach den Präsidentschaftswahlen spielen wird. Eine Radikalisierung, wie sie Berichte über einen bevorstehenden „russischen Frühling“ andeuten, ist unwahrscheinlich. Nährboden der Proteste ist die gebildete Mittelschicht in St. Petersburg und Moskau, an Unruhen und Umsturz scheint ihnen nicht gelegen. Auch der Kreml möchte eine Eskalation vermeiden und so gibt es immer wieder kleine versöhnliche Signale an die Demonstranten. Die Registrierung von neuen Parteien wird wesentlich vereinfacht – und Kremlstratege Surkow, der die auf Putin zugeschnittene „souveräne Demokratie“ entwarf, wurde seiner einflussreichen Rolle als Vize-Stabschef im Kreml enthoben. Als Medwedew am 22. Dezember eine Bilanz seiner Amtszeit zog, schlug der noch amtierende Präsident vor, in Zukunft die Gouverneure, in ihrer Macht vergleichbar etwa mit den Ministerpräsidenten in Deutschland, wieder direkt wählen zu lassen. Zu Beginn seiner zweiten Amtszeit 2004 hatte Putin durchgesetzt, dass die Gouverneure direkt vom Präsidenten eingesetzt werden. Bereits der bislang friedliche Ablauf der Demonstrationen macht deutlich, dass politischer Wettkampf im Jahr 2011/12 nicht gleichbedeutend ist mit dem Chaos und wirtschaftlichen Niedergang der Neunziger Jahre. Das bisherige politische Programm von Stabilität und wirtschaftlichem Wachstum im Austausch gegen zivilgesellschaftliche Nichteinmischung verliert an Attraktivität, je stärker die Erinnerungen an die Un ruhen von 1993 und die Wirtschaftskrise von 1998 verblassen und die Bewegung ihre Form des friedlichen Protests weiterentwickelt. „Ich habe mich zum ersten Mal wie in einem normalen Land gefühlt“ Nikita aus Moskau Im historischen Kontext schwächen die Demonstranten die These, dass Modernisierung und Wandel in Russland stets von oben verordnet werde, nicht aber dem Volk entspringe. His torische Beispiele für „Wandel von oben“ sind die Ausrichtung nach Westen unter Peter dem Großen, die Aufhebung der Leibeigenschaft durch Alexander den Zweiten, die radikale In dustrialisierung unter Joseph Stalin und die Auflösung der Sowjetunion, die ihren Anfang mit den Reformen des Generalsekretärs der kommunistischen Partei Michail Gorbatschow nahm. Oft werden diese Beispiele als Beleg dafür verwendet, dass Russland deshalb eine eigene Form der Demokratie entwickeln müsse, die manchmal als „gelenkte Demokratie“ bezeichnet wird. Die Demonstranten, die im Winter 2011/12 in Russland auf die Straße gingen, fördern einen Wandel von unten. Ob sie ihre Ziele in diesem Jahr, im nächsten oder erst in ein paar Jahren erreichen, ist nicht entscheidend. Die alte Formel der Reformen von oben verliert an Geltung. Und die Proteste sind ein eindrucksvoller Schritt in diese Richtung. Schließlich ist auch Putins andauernde große Beliebtheit, ins besondere außerhalb der großen Städte, nicht zu unterschätzen. Die im Dezember veröffentlichten Zahlen des unabhängigen Levada Instituts zeigen, dass noch immer 68 Prozent der Russen Putins Handeln befürworten. Selbst bei fairen Wahlen würde Putin also wahrscheinlich zum Präsidenten gewählt . Von historischer Bedeutung Auch wenn die Protestierenden ihre Forderungen wahrscheinlich nicht durchsetzten können und Putin im März wieder zum Präsidenten gewählt worden ist, ist die Bedeutung der Proteste enorm. Steffen von Bünau, Jg. 1988, studierte Internationale Beziehungen in Dresden und Moskau. Als Carlo-Schmid-Praktikant lernte er 2011/12 die Arbeit der International Finance Cooperation (World Bank Group) im Projekt Russia Renewable Energy kennen. Dort ist er im Anschluss an sein Praktikum nun als Berater tätig.