Die Freude im Kleingedruckten

Transcription

Die Freude im Kleingedruckten
Mit Anita Ekberg
im TreviBrunnen
Die charmante Komödie «Elsa
y Fred» ist eine Ode ans Alter,
die Liebe, die kleinen Lügen
und die grossen Träume.
Elsa hat einen unerfüllten Traum.
Wie Anita Ekberg in der legendären
Szene in «La dolce vita» ihren Marcello Mastroianni in die Arme
schliesst, so möchte sie im TreviBrunnen in Rom einmal ihre Liebe
feiern. Das ist ein eigenartiger
Wunsch. Immerhin ist Elsa kein
Mädchen mehr, sondern eine gestandene Dame von 77 Jahren.
Derartige Träume sind dem 78jährigen Rentner Fred, der vor
kurzem seine Frau verloren hat,
vollkommen fremd. Seine Phantasie beschränkt sich aufs Ausmalen
von Krankheiten, ansonsten führt
der Mann, dessen einzige Passion
seine Hypochondrie ist, das Leben
eines Menschen, zu dem einem
nicht viel mehr einfällt, als dass er
stets korrekt ist. Das aber ändert
sich dramatisch, als der sehr
zurückhaltende Fred ins Blickfeld
der sehr resoluten Elsa gerät. Die
Frau, die ihre Umgebung nur so
wahrzunehmen beliebt, wie es ihr
passt, und die mit der Wahrheit
divenhaft nonchalant umgeht,
entwickelt spontan reges Interesse
an ihrem neuen Nachbarn. Sie zögert nicht, und schon bald hat sie
Fred erfolgreich aus seinem emotionalen Dämmerzustand geweckt
– für das schwache Herz des eingebildeten Kranken wird das Ganze
fast zu viel.
Dass Elsa bei ihrem Liebeswerben forsch vorgeht, liegt nicht nur
an ihrem Temperament, sondern
hat, wie manches in dieser turbulenten Komödie, auch einen traurigen Grund: Die nierenkranke
Frau weiss, dass ihr zur Erfüllung
ihres Lebenstraums nicht mehr
viel Zeit bleibt. Davon aber sagt sie
Fred nichts. Es gibt für sie Wichtigeres, als über Krankheiten zu
sprechen.
Kunst trifft Leben
Die Ausgangslage von «Elsa y
Fred» ist reizvoll, die Geschichte,
die der Spanier Marcos Carnevale
daraus entwickelt, ist dann allerdings ähnlich überraschungsarm
wie die konventionelle Inszenierung. Trotzdem ist sein Film reich
an Emotionen, und dafür sorgen
zuerst einmal die beiden Stars, die
in Uruguay geborene China Zorrilla und der Madrilene Manuel Alexandre. Die beiden bringen die
ganze Erfahrung ihrer reichen
Schauspielerleben zu später Blüte
– man kann nicht anders, als Elsa
und Fred ins Herz zu schliessen. Sie
sind in jedem Moment anrührend,
in ihrer Halsstarrigkeit und Ungelenkheit genauso wie in ihrer Verliebtheit und in ihrem Liebesübermut. Nie, auch nicht, wenn sie turteln und Händchen halten oder im
edlen Restaurant die Zeche prellen, werden sie an die falsche Kindlichkeit oder Jugendlichkeit verraten, wie das im Kino sonst so oft geschieht. Die Liebe soll hier nicht
das Alter negieren, stets bleibt der
Tod in diesem süsstraurigen Film
präsent.
Marcos Carnevale, der bisher
vor allem für die Werbung und fürs
Fernsehen gearbeitet hat, ist mit
«Elsa y Fred» eine kluge Ode ans Alter, an die Liebe, an die kleinen Lügen und die grossen Träume gelungen. Im Zentrum seines Films steht
die Hoffnung, Traum und Realität,
Kunst und Leben könnten eins
werden. Elsa öffnet Fred für diese
Sehnsucht die Augen. Regisseur
Carnevale seinerseits kennt diese
Sehnsucht nur zu gut, denn am Anfang von «Elsa y Fred» stand sein
Wunsch, einmal eine eigene Version der berühmten Brunnen-Szene
zu drehen. (all)
[i] DER FILM läuft in Bern im Kino
Movie.
31
KULTUR
SAMSTAG, 22. JULI 2006
PALÉO-FESTIVAL
Die Freude im Kleingedruckten
A
uf der Hauptbühne breitet
eine Band ihre Geschichte
aus. Sie heisst Louise Attaque und ist in der Deutschschweiz
weitgehend unbekannt. Sie setzt
auf Poesie, Punk-Rock und Psychedelik und auf einen äusserst engagierten Geiger, der dem Tun einen
leicht folkigen Anstrich gibt. Musikalisch ist das durchaus berauschend, wenn auch höchst ungeläufig, doch die Leute singen bis
in die hinterste Reihe die Refrains
mit und strecken die Hände in die
Höhe, wenn das Ganze sich zu einem wilden instrumentalen
Donnergrollen verdichtet.
Im «Village du Monde» tanzt ein
Mann mit Schnauz und Bügelfaltenhosen einen balkanesken
Schuhplattler, wird dabei von einem Geiger begleitet und einem
Mann, der einen metallenen Teekrug zum Perkussionsinstrument
erklärt hat. Gleichzeitig laufen der
Spinto Band, die mit hohen Männerstimmen und sonnigen Melodien das «Chapiteau» beschallt, die
Zuschauer davon – dafür bildet sich
vor dem Stand mit den kanadischen Poulets eine lange Menschenschlange.
Die wertvollen Trouvaillen finden sich am Paléo-Festival in Nyon oft
abseits der grossen Bühnen. In der Rock-n-Roll-Nacht waren es denn
auch nicht die altehrwürdigen The Who, die zu den Helden gediehen.
•
•
Wir sind am Paléo-Festival in Nyon,
dem erfolgreichsten aller FreiluftFestivals der Schweiz. Innert weniger Stunden waren auch in diesem
Jahr sämtliche Abende ausverkauft, obwohl neben den arg überangebotenen Depeche Mode bloss
Namen wie Ben Harper, Tracy
Chapman oder Indochine fett gedruckt auf der Affiche prunkten.
Honorige Musikschaffende, durchaus, aber an anderen Open Airs hätten sie vermutlich bloss das Nachmittagsprogramm bestritten. Aber
Nyon ist eben nicht wie die anderen. Hier schwemmt die Vielfalt jedes Jahr wertvolle Trouvaillen an,
hier kommt man hin, um sich auch
mal überraschen zu lassen. Und die
Veranstalter besetzen hier nicht die
Rolle der Zuhälter möglichst grosser Namen, sondern der kundigen
Führer durch eine immer komplizierter werdende Musikwelt.
•
Am Donnerstag liegt neben Balkan-Folklore und Franko-Pop vor
allem Rock’ n ’Roll in der Luft. Die
Gruppe The Kooks gibt im Club-
mitsamt Tatoos, dunkeln Sonnenbrillen, Sprüngen von der FarfisaOrgel (die im weiteren Verlauf des
Auftritts auch noch angezündet
wird) und einem Sänger, der sich jeden Moment mit dem Mikrofonkabel zu strangulieren droht. In diesem druckvollen, schnörkellosen
und doch fintenreichen Rock brodelt wilder ungehemmter Sex, und
wenn da kein Blutdoping oder andere Drogen im Spiel sein sollten,
dann mindestens doch der Rausch
eines zügellosen schnellen Lebens.
Alles was am Rock’ n ’Roll Spass
macht, bringen die Mannen aus
Los Angeles auf den Punkt.
Viel kommt da aus dem Hals: The Who mit Roger Daltrey (links) und Pete Townshend.
Tent bereits eine kleine Ahnung davon ab. Ihr Sänger sieht – mit Unterhemd und Sonnenhut – aus, als sei
er nur mal eben schnell vom Campingplatz auf die Bühne gestolpert.
Er ist der Ex-Freund von Katie Melua (der weltweit geschätzten
Zweitgeneration-Norah-Jones)
und der singende Beweis dafür,
dass Jungs eben doch langsamer
reifen als die Mädels. Die juvenilen
Kooks werden nach ihrem erfrischenden Erstling «Inside in/Inside out» (EMI) berechtigterweise als
Englands neue U-21-Hoffnung gehandelt, doch in Nyon changiert
das Erfrischende ins Bierseelige,
und das Juvenile verkommt zu einer schlecht gespielten Pete-Doherty-(er ist der Ex-Freund von Kate
Moss)-Abgetakeltheit. Nichts, was
einem viel Freude macht.
KEYSTONE
Nicht bloss eine Ahnung, sondern
eine an diesem Abend nicht mehr
zu überbietende Komprimierung
des Rock’ n ’Roll gibts am gleichzeitig stattfindenden Konzert der ungestümen The Lords Of Altamont,
eine Allstar-Band, die sich aus einstigen Mitgliedern der Cramps, der
Fuzztones und der Surf-Band The
Bomboras
zusammensetzt.
Rock’ n ’Roll direkt aus der Garage,
Zumindest die Sachlage auf den
Punkt bringt Pete Townshend,
nachdem er die Bühne betreten
und erst einmal in aller Seelenruhe
seine Gitarren gestimmt hat: «We
come from another place. We come
from another time – before you are
born!» Nach den Rolling Stones,
Deep Purple, Status Quo und allergattig anderer wollen es nun also
auch The Who in ihrem 42. Bühnenjahr noch einmal wissen. Der
Markt des Senioren-Rocks ist intakt, und The Who – von denen nur
Pete Townshend und der Sänger
Roger Daltrey aus der Ur-Besetzung zu Werke gehen – verkörpern
darin zweifellos die Rolle der Sympathieträger. Doch die einst wildeste und lauteste Band der Welt hat
einiges von ihrer Dringlichkeit eingebüsst. Während Townshend auf
der Bühne immerhin eine merkliche Daseinsfreude an den Tag legt,
steht dem Vokalisten Daltrey die
Plackerei mit seinem Gesangsorgan ins Gesicht geschrieben. Da
kommt viel aus dem Hals, und vieles davon hat nicht mehr die
sehnsüchtige Inbrunst alter Tage.
Immerhin kurbelt der RingoStarr-Sohn Zak Starkey das Best-ofProgramm am Schlagzeug immer
wieder energisch an.Wäre sein Posten mittelmässig besetzt, das Konzert drohte in zopfiger Nostalgie zu
ertrinken. Dazu passt, dass ausgerechnet das einzige Müsterchen
vom für Oktober angekündigten
neuen Album mit seinem muskulösen Pathos zum Fremdkörper
der Revue verkommt, der selbst die
eingefleischten Fans ein ganzes
bisschen ratlos zurücklässt.
Ane Hebeisen
Benzintanks und Juralandschaften
Die Kunstmesse Art Position gastiert am Wochenende auf dem Militärflugplatz Payerne
Aufstrebende Jungkünstler,
ambitionierte Amateure und
arrivierte Altmeister: Die
regionale Kunstmesse mixt
zwanglos, was in der bildenden Kunst sonst sorgsam voneinander geschieden wird. Der
Erfolg geht längst über die
Region hinaus.
ALICE HENKES
Wenn Kunst im Hangar eines Militärflugplatzes gezeigt wird, ist
bereits der Ort Anreiz für einen
Besuch. Doch ungewöhnlich ist
nicht allein der Rahmen der Art
Position, sondern auch die Mischung der beteiligten Künstler
quer durch alle Alters- und Qualitätsstufen.
Die unkonventionelle KunstMesse mit Künstlern aus dem Dreiseeneck, die in diesem Jahr zum
vierten Mal stattfindet, schlägt ihre
Zelte jedes Jahr an einem anderen
Ort auf, jeweils für ein Wochenende. Im Vorjahr fand die Schau in
den Hallen der Rasta-Werke in
Murten statt. In diesem Jahr gastiert sie auf dem Militärflugplatz
bei Payerne.
Begonnen hat es mit einer Porträtserie in «Le Lac», einer monatlich erscheinenden Zeitung für das
Seeland. Das zweisprachige Gratisblatt stellt in jeder Ausgabe einen Künstler, eine Künstlerin der
Region vor. Dabei zeigte sich, dass
im Gebiet um Murten-, Bieler- und
Neuenburgersee viele Künstler leben, die an ihrem Wohnort unbekannt sind und sich auch untereinander kaum kennen. Um Kontakte
zu schaffen, organisierten «Le
Lac»-Herausgeber Urs von Gunten
und sein Freund Veit Wagner 2003
die erste Art Position mit 30 Künstlern. Alles ganz spontan, ohne Statuten, aber mit hohem persönlichem Einsatz – so läuft es bis heute.
Internationale Gäste
In diesem Jahr machen 90
Künstler mit, ausgewählt aus 150
Bewerbern. Die Art Position hat in
vier Jahren eine grosse Popularität
erlangt, wiewohl manche Künstler
zu Beginn Bedenken hatten, denn
munter mixt die mobile Messe,
was in der Kunst sonst sorgsam geschieden wird: Professionelle
Künstler aller Stilrichtungen und
Altersstufen stellen neben begeisterten Amateuren aus. Das Mischungsverhältnis schätzt Veit
Wagner auf 50:50. Die vielschichtigen Fotoarbeiten von Myriam
Loepfe, die bereits im Kunstmuseum Thun zu sehen waren, hängen in nächster Nähe zu Farbstudien des hauptberuflichen Architekten Alfred Hoehn, und von den
altmeisterlichen Landschaften
eines Martin Ziegelmüller sind es
nur ein paar Schritte bis zu den
plakativ bunten Bildern des Avencher Cartoonisten Walti Holenstein.
Das geradezu anarchistische
Konzept geht auf. Die Besucher,
im letzten Jahr waren es etwa
1700, sind so bunt gemischt wie
die beteiligten Künstler. Seit drei
Jahren laden Urs von Gunten und
Veit Wagner auch einzelne Galeristen ein. Im letzten Jahr waren das
Kabinett aus Bern und die H-Gallery aus Bangkok zu Gast. In diesem Jahr bespielt die Galerie Bi-
schoff eine Koje, eine weitere Galerist Andreas Greulich aus Frankfurt am Main. Greulich, der die
Art-Position-Veranstalter bei der
Kunst Zürich kennen gelernt hat
und der auf kraftvolle junge Malerei setzt, schätzt das Engagement
der Veranstalter, die grosse Bandbreite des Gezeigten und den besonderen Rahmen: «Die Benzintanks und Werkzeugtafeln mit den
vorgezeichneten Werkzeugen bekommen etwas Objekthaftes.»
Talent-Fundgrube
Wie jede andere Kunstmesse
fungiert auch die Art Position als
grosse Kontaktbörse und Fundgrube für noch unbekannte Talente. Michael Krethlow entdeckte
hier Wolfgang Zät, der im Juni mit
einigen Linolschnitten in der Berner Galerie Kabinett zu sehen war.
Die meisterhaften Wolken- und
Wellenzeichnungen der in Hamburg lebenden Künstlerin Li Trieb,
die in diesem Sommer zum zweiten Mal an der Art Position teilnimmt, sind ab 11. August im Museum Franz Gertsch in Burgdorf
zu sehen.
Die meisten Künstler nutzen die
Art Position, um ihre Arbeiten zu
guten Konditionen zu verkaufen:
Sie bestimmen die Preise und behalten die Gewinne. Nur ein kleiner Obolus geht an die Veranstalter. Urs von Gunten und Veit Wagner betreiben ihre Low-BudgetKunstmesse als Non-Profit-Projekt, bei dem sie, von der Auswahl
der Künstler bis zum Aufbau der
Stellwände, alles selber machen.
Ein Teil der Kosten – im vergangenen Jahr waren es etwa 50000 Franken – kommt durch Spenden wieder herein. Regionale Unternehmer haben die Art Position als lokales Projekt mit breiter Ausstrahlung entdeckt und unterstützen
die Kunstschau. Das läuft laut Veit
Wagner «unkompliziert und spontan». So wie alles bei der Art Position.
[i] AUSSTELLUNG Heute Samstag
und morgen Sonntag, 11 bis 16 Uhr.
Für Autofahrer ist der Weg ab Autobahnausfahrt Payerne ausgeschrieben. Wer mit dem Zug anreist, muss
die rund 4 km vom Bahnhof zu Fuss
zurücklegen. www.artposition.ch