Japan lässt den Klima-Godzilla los

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Japan lässt den Klima-Godzilla los
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Spielen Sie Lotto? Sicher nicht wegen der Kugeln.
Ein Gespräch über Geld auf den Seiten 18 und 19
Foto: fotolia/Regormark [M]
Sonnabend/Sonntag, 16./17. November 2013
68. Jahrgang/Nr. 267
Berlinausgabe 1,90 €
www.neues-deutschland.de
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STANDPUNKT
Menetekel
Guido Speckmann über das
Abrücken Japans vom Klimaschutz
Netter Versuch: Der japanische
Regierungssprecher probierte, das
neue klimapolitische Ziel seiner
Regierung noch als Reduktion des
Ausstoßes von CO2 im Vergleich
zu 2005 zu verkaufen. Doch alles
Schönreden nutzt nichts: Japan
wird bis 2020 mehr Kohlenstoffe
in die Luft blasen – verglichen mit
1990 wird es ein Plus von drei
Prozent sein. Für die derzeit in
Warschau tagende UN-Klimakonferenz ist das ein denkbar
schlechtes Zeichen. Japans Abrücken vom Klimaschutz dürfte
Nachahmer in anderen Ländern
finden. Allerdings: Über die berechtigte Kritik an Japan sollte
nicht vergessen werden, dass auch
andere Industrienationen, milde
ausgedrückt, nicht gerade ein klimapolitisches Vorbild sind.
Zum Beispiel Deutschland. Die
Energiewende ist in aller Munde
– aber die Subventionen für fossile Brennstoffe liegen bei über 21
Milliarden Euro. Die baldigen
Koalitionsparteien bekennen sich
zu erneuerbaren Energien – und
bremsen die Windkraft aus. Wie
das wohl in Warschau ankommt?
Als Argument gegen die Energiewende werden stets die Kosten
angeführt. Zugegeben, umsonst
ist der Abschied vom Öl nicht.
Aber wie viel mehr kostet es, die
zukünftigen Schäden durch Wirbelstürme und Hitzewellen zu
beseitigen? Und welche Staaten
werden darunter am meisten zu
leiden haben? Der Grund für das
Ausbleiben eines wirklichen ökologischen Umbaus: Die nächste
schwarze Zahl im Quartalsbericht
wird im Kapitalismus immer
wichtiger sein als die Frage, wie
sich verhindern lässt, dass Küstenstädte irgendwann in den Fluten der Meere verschwinden.
UNTEN LINKS
Warum Rot-Rot-Grün bisher nicht
klappte? Die angebliche »Ausschließeritis« der Sozialdemokraten war es jedenfalls nicht, denn
die ist laut Sigmar Gabriel »eine
Legende der Linkspartei«. Stärker
als der SPD-Chef hätte man auch
kaum um einen Partner werben
können: »Die Linkspartei ist nicht
links.« (16. März 2013) »Mit denen werden wir deshalb auf keinen Fall ein Bündnis eingehen.«
(2. Mai 2013) »Mit der Linkspartei
werden wir nicht koalieren.« (8.
Mai 2013) »Ich halte nichts davon, die Stabilität Deutschlands
aufs Spiel zu setzen, nur um mit
einer absolut unkalkulierbaren
Partei ins Kanzleramt zu kommen.« (28. Juli 2013) »Das ist
Science fiction. Das ist im Kino
Klasse, aber nicht in der Wirklichkeit.« (24. August 2013) »Nein,
das haben wir ja klar ausgeschlossen.« (10. September 2013)
Leider muss der Versuch, die Legende der Linkspartei zu entkräften, die SPD hätte irgendetwas im
Wahlkampf ausgeschlossen, aus
Platzgründen hier enden. tos
Einzelpreis Tschechien 67/77 CZK
ISSN 0323-4940
China lockert
Ein-Kind-Politik
und Lager-System
Japan lässt den
Klima-Godzilla los
Reformen bei Wirtschaft, Justiz,
Urbanisierung und Familienpolitik
Kehrtwende Tokios empört Umweltgruppen
Foto: picture-alliance/Szene aus »Godzilla – die Rückkehr des Monsters« (Japan 1984)
Berlin. Während in Warschau auf der UN-Klimakonferenz um Fortschritte beim globalen
Kampf gegen Treibhausemissionen und Naturzerstörung gerungen wird, ist Japans Regierung von ihren Zielen zur Minderung des
Kohlendioxidausstoßes abgerückt. Das Land
wird künftig wieder deutlich mehr CO2 in die
Luft blasen – ein Trend, der sich trotz aller Bekundungen zur Umkehr auch weltweit fortsetzt.
Seit Mitte September sind in Japan alle
Kernreaktoren zu Wartungszwecken heruntergefahren. Eine Konsequenz aus dem
schweren Atomunfall vom März 2011 in Fu-
kushima – und nun auch ein Argument, klimapolitisch den Dinosaurier zu spielen. Man
müsse eben wieder verstärkt auf fossile Energieträger setzen, heißt es in Tokio.
Filmfans könnten sich angesichts der Kehrtwende der japanischen Regierung an den 1984
gedrehten Film »Die Rückkehr des Monsters«
erinnert fühlen. Darin greift das japanische
Filmungeheuer Godzilla nicht nur ein sowjetisches Atom-U-Boot an. Der Monsterriese nähert sich auf gefährliche Weise auch einem
Kernkraftwerk und löst sogar eine Atombombenexplosion über Tokio aus. Verwüstungen
und klimawandelartiges Wetter sind die Folge.
Im Film wird das Problem selbstverständlich gelöst: Mutige Forscher locken Godzilla
mittels Zugvögelrufen in einen Vulkan – wo das
radioaktiv verstrahlte Monster schlussendlich
ins Magma stürzt. Happy End.
Dagegen lässt die nun erfolgte japanische
Kehrtwende in der Klimapolitik nichts Gutes
erwarten: Die Umweltschutzorganisation WWF
kritisierte die Ankündigung Japans. Es sei zu
befürchten, dass Tokios Kurswechsel »verheerende Auswirkungen« auf die Diskussionen bei
der UN-Klimakonferenz haben werde. Greenpeace bezeichnete die Ankündigung Japans als
»völlig inakzeptabel«.
Seiten 8, 21 und 27
Liebesentzug für SPD-Vorständler
Dürftige Wahlergebnisse auf dem Parteitag der Sozialdemokraten in Leipzig / Grummeln auch in der CDU
Die SPD setzte am Freitag ihren
Parteitag in Leipzig fort – begleitet von Zweifeln an der nahenden Große Koalition. Auch
bei der CDU gibt es intern nörgelige Zwischenrufe.
Leipzig. Zahlreiche Schriftsteller,
Schauspieler, Musiker und Wissenschaftler haben die SPD dazu
aufgerufen, keine große Koalition
mit der Union einzugehen. Es gehe um die Frage, ob sich die SPD
in einer Regierung mit CDU und
CSU weiter marginalisieren und
für ein »Weiter so« einspannen
lasse, oder ob sie für eine echte
politische Alternative einstehe,
heißt es in dem Aufruf »Wider die
große Koalition«. Zu den Erstunterzeichnern gehören der Liedermacher Konstantin Wecker, Autor
Roger Willemsen, Schriftsteller
Ingo Schulze, die Schauspielerinnen Hanna Schygulla und Maren Kroymann, der Philosoph Oskar Negt und der Theologe Friedrich Schorlemmer.
Dass die SPD in einem Dilemma steckt, ist den Delegierten des
Parteitags in Leipzig anzumerken.
Und mit dem Werben des Vorsitzenden und seiner Mitstreiter, der
Union eine Chance zu geben, wird
dieses Dilemma nur noch vergrößert. Bauchschmerzen oder gar
Magenkrämpfe, wie sie die wiedergewählte Parteivizevorsitzende Manuela Schwesig nach eigenem Bekunden verspürt, dürften
viele SPD-Genossen empfinden
und in ihrem Urteil über die Parteispitze beeinflusst haben. Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf
Scholz erhielt bei der Wiederwahl
zum Parteivize nur 67,3 Prozent,
2011 waren es 84,9 Prozent gewesen. Scholz gilt als Befürworter
eines Mitte-Kurses mit einer
Schärfung des wirtschaftspolitischen Profils.
Der hessische SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel rückt als einer von fünf Vizes neu in die engere Parteiführung auf. Der 44Jährige erhielt eine Zustimmung
von 88,9 Prozent. Er ersetzt Berlins Regierenden Bürgermeister
Klaus Wowereit, der nicht mehr
kandidiert hatte. Von allen fünf
Stellvertretern erzielte Schäfer-
»Wenn der SPD die
Courage fehlt, die
Führung zu
übernehmen, sollte
sie in die Opposition
gehen ....«
Aufruf an die SPD
Gümbel das beste Ergebnis. Neben Scholz mussten auch Hannelore Kraft (85,6 Prozent gegenüber 97,2 Prozent 2011), Aydan
Özoguz (79,9 Prozent gegenüber
86,8) und Manuela Schwesig
(80,1 Prozent gegenüber 82,9)
schlechtere Ergebnisse als beim
letzten Mal verkraften. Am Donnerstag war bereits SPD-Chef Sig-
mar Gabriel mit einem Dämpfer
im Amt bestätigt worden war, er
erhielt 83,6 Prozent.
Doch nicht nur in der SPD, auch
in der CDU sind die Koalitionsverhandlungen von Argwohn begleitet. Vor einem Auftritt von
Bundeskanzlerin Angela Merkel
am Freitagabend auf dem
Deutschlandtag der Jungen Union schlugen ihr unzufriedene
Kommentare über die bisherigen
Verhandlungen von Union und
SPD über die Rente entgegen. Die
»Weitsicht der letzten Großen Koalition« wünschte sich CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahn. JUChef Philipp Mißfelder appellierte – wenn auch an die SPD –, die
Rente mit 67 nicht in Frage zu
stellen. Und Christian von Stetten, Mittelstandssprecher in der
Fraktion, meinte, außer der von
der Union gewünschten Mütterrente sei letztlich nichts finanzierbar – das heißt, auch die Lebensleistungsrente der CDU nicht.
Agenturen/nd Seiten 2, 5 und 10
Peking. Überraschende Reformvorstöße in
China: Die Kommunistische Partei lockert die
Ein-Kind-Politik und schafft die Arbeitslager
zur Umerziehung von Straftätern und Regierungsgegnern ab. Zudem sollen Investitionen mit privatem Kapital deutlich stärker als
bisher zugelassen werden, um die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt wieder in
Schwung zu bringen. Dies geht aus dem am
Freitag in Peking veröffentlichten Abschlussdokument der Sitzung des Zentralkomitees hervor.
Nach dem viertägigen ZK-Plenum hatte die
Partei nur sehr vage eine »umfassende Vertiefung der Reformen« angekündigt. Das vorliegende Dokument fasst jetzt aber detailliert ein großes Reformpaket zusammen, das
die Volksrepublik auf die Zukunft vorbereiten soll. Die strenge Familienpolitik wird abgeschwächt, indem Paare, von denen ein
Partner bereits aus einer Ein-Kind-Familie
stammt, künftig zwei Kinder haben dürfen.
Bisher galt diese Regel nur für Paare mit zwei
Partnern, die selbst Einzelkinder waren.
Um die Urbanisierung zu erleichtern, soll
das strikte Meldesystem (Hukou) »beschleunigt« reformiert werden. Bislang verwehrt es den mehr als 200 Millionen Wanderarbeitern soziale Leistungen in Städten.
Die Kontrolle über Landbewohner, die sich
in städtischen Gebieten niederlassen wollen,
wird verringert. Die Beschränkungen für die
Ansiedlung in mittelgroßen Städten sollen
»geordnet« gelockert werden. Das Papier rief
zu »Bemühungen« auf, Wanderarbeiter ins
soziale Netz der Städte zu integrieren.
China will auch den Finanzsektor weiter
öffnen und »kleinere und mittlere« private
Banken zulassen. Investoren sollen Anteile an
Staatsbetrieben erwerben können.
Ein Zeitplan für die Abschaffung der Arbeitslager wurde vorerst nicht genannt. Dort
können Chinesen ohne Gerichtsverfahren für
drei Jahre festgehalten werden. Es hieß, es
sollten neue gesetzliche Voraussetzungen geschaffen werden. Agenturen/nd
Seite 7
KURZ
Kroatien vor Defizitverfahren
Brüssel. EU-Neuling Kroatien steuert auf ein
Verfahren wegen Verstoßes gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu. Die EU-Kommission kündigte am Freitag an, den Mitgliedstaaten ein Vorgehen zu empfehlen. Kroatien verzeichnete im vergangenen Jahr ein
Defizit von 5,0 Prozent seiner Wirtschaftsleistung. Erlaubt sind 3,0 Prozent. AFP/nd
Flüchtlingsboot gesunken
Athen. Bei einem Bootsunglück vor der griechischen Küste sind am Freitag mindestens
zwölf Flüchtlinge ums Leben gekommen.
Weitere 15 Menschen überlebten nach Behördenangaben das Unglück vor der Insel Lefkada. AFP/nd
Schlag gegen Pädophile
Ottawa. Die kanadische Polizei hat einen internationalen Pädophilen-Ring zerschlagen.
Die im Jahr 2010 begonnenen Ermittlungen
führten zur Festnahme von 348 Verdächtigen
in zahlreichen Ländern, wie die Polizei mitteilte. 386 missbrauchte Kinder seien gerettet
worden. AFP/nd
Neues Ölfeld vor Schottland
London. Die britische Regierung hat die Ausbeutung eines neuen Ölfelds in der Nordsee
vor Schottland genehmigt. Das sogenannte
Krakenfeld soll die Förderung von 140 Millionen Barrel (je 159 Liter) Erdöl innerhalb von
25 Jahren ermöglichen, teilte das Förderunternehmen EnQuest am Freitag mit. dpa/nd