Kunsterziehung in China Beobachtungen aus meiner Zeit an der
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Kunsterziehung in China Beobachtungen aus meiner Zeit an der
Kunsterziehung in China Beobachtungen aus meiner Zeit an der Yucai Grundschule Zur Einführung: ein schöner Artikel zum chinesischen Bildungssystem – gefunden auf www.spiegel.de „Chinesische Schüler: Auswendiglernen sehr gut, Phantasie ungenügend“ von Andreas Landwehr Chinas Schüler sind die besten - zumindest wenn es nach dem Pisa-Ranking geht. Shanghai landete auf Platz eins, Hongkong dicht dahinter auf Platz vier. Doch hinter dem Erfolg verbirgt sich ein Problem: Chinas Kinder können zwar gut auswendig lernen, doch ihre Kreativität und Phantasie verkümmern. Shanghai - Im Jahr 2009 nahmen die Schüler Shanghais zum ersten Mal an der Pisa-Studie teil - und holten prompt Platz eins. Ihre herausragenden Ergebnisse in Mathematik, Naturwissenschaften sowie beim Lesen und Verstehen von Texten lassen Lehrer und Politiker in Deutschland und anderswo neidvoll staunen. Der Erfolg hat aber einen hohen Preis: Der harte Schulalltag raubt Chinas Schülern nicht nur die Kindheit, sondern auch den Einfallsreichtum. So zeigt das gute Abschneiden der Kinder in Shanghai nebenbei auch, wie wenig die Pisa-Studie manchmal über die Qualität eines Bildungssystems aussagt. Xiao Fang ist so ein typisches Shanghaier Schulkind. Die Achtjährige geht in die dritte Klasse. „Von morgens bis abends nur Schule“, sagt ihre Großmutter. „Der Druck ist riesig. Kein bisschen Zeit zum Spielen.“ Ihr normaler Schultag mit Unterricht und Hausaufgaben dauert meist bis abends um 21 Uhr. Dann geht sie ins Bett. Am Wochenende lernt die Achtjährige noch Englisch. Ihre Eltern sind gebildet, haben ein hohes Einkommen. Damit ihre Tochter eines Tages eine ähnlich gute Arbeit bekommt, muss sie heute viel lernen. Ohne gute Testergebnisse kommt Xiao Fang nicht in eine gute Mittelschule. Ohne eine hohe Punktzahl in der Prüfung der fünften Klasse bleiben ihr bessere Oberschulen verschlossen. Zuletzt entscheidet der Gaokao, die Aufnahmeprüfung, ob sie auf eine gute Hochschule kommt, die wiederum ihre Chancen am Arbeitsmarkt bestimmt. Die Eltern sorgen deswegen heute schon dafür, dass die Achtjährige büffelt wie verrückt. Nirgendwo lernen Kinder so intensiv vor Prüfungen wie in China - nirgendwo können sie besser auswendig lernen. Kein Wunder also, dass sie bei der Pisa-Studie gut abschneiden. Von Erfolg möchte Jiang Xueqin, Vizeschuldirektor der Oberschule der renommierten Pekinger Universität, aber nicht sprechen. Er sieht vielmehr ein „Zeichen der Schwäche“ und das „Symptom des Problems“. „Es sind zwei Seiten derselben Medaille: Chinesische Schulen sind sehr gut darin, ihre Schüler auf standardisierte Tests einzustellen. Aus diesem Grund scheitern sie daran, sie auf eine höhere Bildung und eine wissensorientierte Wirtschaft vorzubereiten“, argumentiert Jiang Xueqin in einem Beitrag im „Wall Street Journal“. Die Folgen von starrem Auswendiglernen seien bekannt: Ein Mangel an sozialen und praktischen Fähigkeiten, fehlende Phantasie und Neugier. […] Notwendig sei die Fähigkeit, Probleme zu identifizieren, in Einzelteile zu zerlegen, aus verschiedenen Blickwinkeln zu analysieren und eine Lösung zu finden, die auch über kulturelle Grenzen hinweg vermittelt werden könne. „Diese Fähigkeit zu ‚kritischem Denken‘ müssen chinesische Studenten lernen, wenn sie global wettbewerbsfähig werden wollen.“ Der amerikanische Ökonomie-Professor Michael Pettis, der an der ManagementSchule der Peking-Universität unterrichtet, findet, dass Schülern im chinesischen Bildungssystem frühzeitig die Kreativität ausgetrieben wird. „Meine chinesischen Studenten können logische mathematische Rätsel allgemein leichter lösen als amerikanische und europäische Studenten“, sagt Pettis. „Auf der anderen Seite muss ich kämpfen, sie dazu zu bringen, in den Wirtschaftswissenschaften über die unterrichteten Modelle hinauszugehen - was Amerikanern viel leichter fällt und etwas weniger auch europäischen Studenten.“ In einer Studie in 21 Ländern, die im November in China für Aufsehen sorgte, waren chinesische Schüler mit ihrer Phantasie das Schlusslicht. In Kreativität kamen sie nur auf den fünftletzten Platz. „Die Ergebnisse sind schockierend“, mahnte die „China Daily“ zum Umdenken. Die Kinder hätten kaum die Chance, ihre Vorstellungskraft zu nutzen. „Direkt vom ersten Schultag an werden sie in eine Kultur von Prüfungen und noch mal Prüfungen gedrängt.“ Um zu bestehen, müssten sie nur StandardAntworten auswendig lernen. „Lehrer trauen sich nicht, die Schüler zu ermutigen, mit ihren Gedanken aus dem Rahmen zu fallen“, bemängelte das Blatt. „Lehrer mögen keine Schüler, die sie in Frage stellen, und ersticken die Neugier der jungen Geister.“ Fünfzigmal der gleiche Frühling Landwehrs Artikel macht es deutlich: Chinas Schülern fehlt es an Phantasie und Kreativität. Dies zeigt sich besonders im Kunstunterricht. Erinnern wir uns zurück an die erste Unterrichtsstunde an der Grundschule in Yucai. Etwa 50 Schülerinnen und Schüler (im folgenden SuS) im Alter von 10-11 Jahren warteten gespannt auf ihren „lǎowài lǎoshī“. Thema des Unterrichts: ‚Monet and Spring‘ also „Monet und Frühling“. Die erste Frage an die SuS: „was assoziiert ihr mit Frühling?“ nach kurzer anfänglicher Stille, kamen die regen Antworten „alles wird grün, Knospen springen auf, es wird wärmer, etc.“. Die nächste Aufgabe der SuS war es, ihren Frühling zu beschreiben, also was sie gerne im Frühling machen, mit wem, warum usw. Bedingung hierbei war es, dass die SuS nicht wiederholen durften, was schon gesagt wurde, es musste also jede/r eine eigene Idee bringen – zugegeben, das ist bei etwa 50 SuS keine einfache Aufgabe. Ziel war es, den SuS klar zu machen, dass nicht jede/r die gleiche Vorstellung vom Frühling hat. Anschließend wurde Claude Monet als ein Maler, der sich intensiv mit dem Frühling auseinandergesetzt hat, vorgestellt. Die SuS wurden anhand vier verschiedener Werke mit seiner besonderen Maltechnik vertraut gemacht. Dann, der eigentliche Arbeitsauftrag: die SuS sollten ihren Frühling mithilfe von Aquarellfarben und der neu erlernten Monet-Maltechnik zu Papier bringen. Nachdem der Arbeitsauftrag erteilt wurde hatten nur wenige SuS angefangen zu malen, der Mehrheit der SuS war nicht klar, was sie zu tun hatten. Sie baten mich Monets Werke noch einmal zu zeigen. Ich kam der Anfrage nach und habe die vier Werke Monets noch einmal kurz vorgeführt. Danach haben die meisten SuS angefangen an ihrem Bild zu arbeiten. Als ich nach ca. 10 Minuten zum ersten Mal im Klassenraum herum ging, um zu sehen, ob alle SuS arbeiteten oder ob sie evtl. noch Fragen haben musste ich erschreckt feststellen, dass alle SuS, bis auf ein bis zwei Ausnahmen, das Werk von Claude Monet kopiert haben. Statt „Basketball spielen mit meinen Freunden“, „Schmetterlinge beobachten“, „Blumenpflücken im Park“, „Rollerskaten“ und „das erste Eis essen“, bekam ich knapp 50 mehr oder weniger identische Kopien von Monets Mohnfeld bei Argenteuil zu sehen. Zeit und Raum Nach dem ersten Unterricht war klar: wir haben noch viel Arbeit vor uns. Das oberste Ziel: die SuS zum individuellen und kreativen Denken und zum selbstständigen Arbeiten heranzuführen. So ein Ziel lässt sich leicht formulieren, es umzusetzen gestaltet sich wesentlich komplizierter. Es gibt so viele Faktoren die berücksichtigt werden müssen: An mit der ersten Stelle steht hierbei die Einstellung und die Erwartungshaltung der Gesellschaft, der Schule, der Lehrerinnen und Lehrer, der Eltern und die daraus resultierende Erwartungshaltung der SuS an sich selbst. Während meiner Arbeit an der Grundschule der Yucai habe ich oft folgenden Satz gehört „Wir wollen schnell gute Ergebnisse seh’n“. Für mathematische und naturwissenschaftliche Fächer scheint dieser Gedanke zumindest partiell plausibel. Aber wie lässt sich diese Erwartungshaltung mit Kunst und der Kunsterziehung vereinbaren? Um Kreativität zu entwickeln braucht man Zeit und Raum1; Leonardo da Vinci hat angeblich drei Jahre gebraucht um die Mona Lisa zu schaffen. An dieser Stelle kommen wir bereits zu zwei, bzw. sogar drei wesentlichen Unterschieden zwischen der chinesischen und der deutschen Kunsterziehung: Zeit 1 Wobei sich „Raum“ hier auf zwei verschiedene Arten verstehen lässt: „Raum“ als wirklicher physikalischer, fassbarer Raum, wie den Unterrichtsraum, und „Raum“ als geistiger, mentaler Raum, der die Freiheit zum Schaffen bietet. und Raum. Fangen wir mit dem „Raum“ an und konzentrieren uns vorerst einmal auf den „physikalischen Raum“ – also den Unterrichtsraum und seine Ressourcen. In China findet der Kunstunterricht in den Klassenräumen der SuS statt, das ist in, zumindest in allen mir bekannten, Schulen anders. Es gibt einen Raum (bzw. zwei oder drei Räume) in denen ausschließlich Kunstunterricht stattfindet. Dieser Raum bzw. Räume sind genau wie die Klassenräume mit Tischen und Stühlen ausgestattet, meist sind die Tische und Stühle aber nicht in Reihen sondern in Gruppentischen angeordnet; dies gibt den SuS mehr Platz um Arbeitsmaterialien auszubreiten und ggf. zu teilen. Außerdem lässt diese Anordnung mehr Platz für die Lehrkraft, sodass sie herum gehen, die Arbeit der SuS beobachten und bei Fragen etc. weiterhelfen kann. Des Weiteren befinden sich im Kunstraum oft ein großer Materialfundus aus dem sich die SuS nach Absprache bedienen, und Schuleigenes Material, dass sich die Sus bei Bedarf ausleihen können. Ein Extra-Kunstraum kann viele Vorteile mit sich bringen: zuerst ist er zweckmäßig, d.h. dass Bilder oder andere Arbeiten bis zum nächsten Unterricht aufbewahrt werden können. Zweitens kann ein Kunstraum auch einen ‚psychologischen‘ Effekt haben – damit meine ich, dass ein Kunstraum den SuS den physikalischen Raum für die Entfaltung ihres „mentalen Raums“ bietet; d.h. dass die SuS im Kunstraum für eine Zeit lang ihre sonstigen Schulfächer wie Mathematik etc. vergessen können und sich ganz der Kunst widmen. Ein nächster zentraler Unterschied ist „Zeit“. Während in chinesischen Schulen in jeder Unterrichtsstunde ein anderes Thema behandelt wird, wird in Deutschland im Kunstunterricht überwiegend Projektunterricht durchgeführt; nur so ist garantiert, dass die SuS eine umfassende Kunstausbildung genießen können und, dass sie darüber hinaus genug Zeit haben ihre eigenen Ideen zu finden, sich mit ihnen auseinander zu setzen, sie umzusetzen und ihre Arbeit zu reflektieren. Mut und Motivation In Landwehrs Artikel wird angedeutet, dass Chinesische Schülerinnen und Schüler Schwierigkeiten haben unabhängig zu arbeiten. Auch das habe ich in meiner Zeit an der Grundschule in Yucai beobachten können. Viele SuS erwarten von der Lehrkraft, dass sie ihnen genauste Anweisung gibt, auf welche Weise eine bestimmte Aufgabe zu erledigen ist. Sie sind es gewohnt, dass die Lehrperson „vormacht“ und sie „nachmachen“. Oft fehlt ihnen der Mut „selber auszuprobieren“. Dies wurde mir in der Unterrichtsstunde zum „Muttertag“ in der wir Blumendekorationen aus Krepppapier bastelten besonders deutlich. Einige SuS hatten große Probleme damit sich selbstständig und ohne meine Betreuung an das Material und die Gestaltung der Blumen heranzuwagen. Viele wirkten überfordert und waren schnell frustriert, wenn sie es nicht auf Anhieb geschafft haben eine ‚perfekte‘ Blume zu gestalten. Den SuS fehlte häufig die Ausdauer und die Motivation sich mit einer als kompliziert empfundenen Aufgabe auch mal etwas länger auseinanderzusetzen. In dieser Unterrichtsstunde wurde auch noch einmal sehr deutlich wie groß der Anspruch der SuS an sie selbst ist. Sie wollen perfekt sein, und das bedeutet meistens der Lehrkraft zu gefallen; chinesische Grundschulkinder fordern im Vergleich zu SuS in Deutschland enorm viel Aufmerksamkeit von der Lehrperson ein und suchen Lob und Bestätigung. Weiterhin fiel in diesem Unterricht auf, dass manche SuS leider nur wenig Verantwortung gegenüber ihren Arbeitsmaterialien haben, dies zeigt sich insbesondere dann, wenn sie mit ihren Arbeitsergebnissen unzufrieden sind: beispielsweise warfen diese SuS mit dem Material herum oder zerrissen es. Versuch macht klug In den letzten vier Unterrichtsstunden an der Yucai Grundschule habe ich als Lehrkraft viel mit den SuS experimentiert, ich wollte sehen, wie die Auswirkungen sind, wenn man nur vereinzelte Unterrichtsmethoden verändert. Kommen wir in diesem Zusammenhang noch einmal auf den Faktor „Zeit“ zurück: in den letzten vier Unterrichtsstunden habe ich den SuS aufgetragen, dass sie zunächst einmal 20 Minuten lang an ihrer Aufgabe arbeiten sollen, bevor sie mir ihr Bild / ihre Bastelarbeit zeigen. In den Unterrichtsstunden davor, bin ich immer gleich zu nachdem der Arbeitsauftrag erteilt wurde herumgegangen um zu überprüfen ob die SuS alles verstanden und zu arbeiten angefangen haben. Es zeigte sich, dass die SuS wesentlich konzentrierter arbeiteten, wenn man sie zunächst einmal alleine lässt, ihnen Zeit gibt. Darüber hinaus kamen erlangen die SuS häufiger unterschiedlichere und variationsreichere Arbeitsergebnisse als zuvor; das liegt meines Erachtens hauptsächlich daran, dass sich vorher die SuS während der Gestaltung ihres Werks, an dem Werk des Schülers / der Schülerin orientierten, die zuvor das meiste Lob von mir bekamen. Wenn man den SuS also schon zu Anfang mehr Zeit gibt, kommt es zu kreativeren Ergebnissen, da keiner der SuS sich an dem Lob des Anderen orientieren kann. Ein weiteres Experiment, das ich gerne ausführlicher praktiziert hätte, war es die „Abschlussrunde“ ein wenig anders zu gestalten, in etwa so, wie sie in der Unterrichtsstunde zum „Ostereier-bemalen“ stattfand. Als Erinnerung: zum Ende der Stunde wurden alle Werke der SuS vorne auf dem Lehrerpult ausgestellt und die SuS konnten in einem Rundgang einmal alle Ergebnisse ihrer Mitschüler betrachten. Diese Abschlussrunde empfand ich aus mehreren Gründen als besonders erfolgreich. Erstens, und das ist der wichtigste Grund: es gab keinen Wettbewerb. Es wurden nicht nur ein paar, vom Lehrer als gut empfundene und auserwählte Werke vorgestellt, es wurden alle Arbeitsergebnisse der SuS gezeigt, sie mussten sich nicht der Meinung der Lehrkraft anschließen und die Beurteilung ihres eigenen Werkes davon abhängig machen – sie konnten sich eine eigene, selbstständige Meinung bilden und ihr Werk und auch das Werk ihrer Mitschüler auf ganz andere Weise wahrnehmen. Zweitens: Inspiration. Die SuS konnten die Werke aller anderen SuS anschauen, sie können sich durch Farben, Formen und Gestaltungsweisen inspirieren lassen – fast wie im Museum. Als dritter und letzter Grund: alle SuS sind aufmerksam und neugierig. Wenn nur vereinzelte Werke der Mitschüler vorgestellt werden schalten andere SuS schnell ab, weil sie z.B. noch an ihrem eigenen Werk arbeiten wollen. Dies wird vermieden, wenn alle Arbeitsergebnisse zur selben Zeit ausgestellt werden. Danksagung Die Schülerinnen und Schüler an der Yucai Grundschule haben großes Potential wenn man sie richtig führt. Gibt man ihnen die Zeit und den Raum den sie benötigen kommt es zu einzigartigen und künstlerisch erstklassigen Ergebnissen. Ermutigt man sie, sie selbst zu sein, erschöpfen sie ihre vollen kreativen Fähigkeiten. Als Lehrkraft wurde ich wurde von den Schülerinnen und Schülern der Yucai Grundschule, sowie meinem freundlichen Kollegium und der hilfsbereiten Schulleitung immer freundlich und mit großem Interesse aufgenommen. Hierfür möchte ich mich noch einmal herzlich bedanken. Ich wünsche der Yucai Grundschule und insbesondere ihrer Abteilung für Kunsterziehung für die Zukunft Geduld, viel Erfolg und alles Gute!