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Dieter und Ursula Hecker, G.E.L. Church Compound
Ranchi 834001 – Jharkhand / India
Tel. 0091-651-2350083 – Mobile: 0091-98355-93788
E-Mail: [email protected][email protected]
Ranchi, August 2006
Rundbrief, Juli 2006
Liebe Freunde, Verwandte und Bekannte,
nun sind wir bereits mehr als einen Monat wieder in Indien, und das fünfte und letzte Akademische Jahr unserer Ruhestandsbeschäftigung hat begonnen. Da ist ein kurzer Rückblick auf die
letzten vier Jahre schon angebracht.
Wir haben in der indischen Wirtschaft und Gesellschaft gegenüber den früheren Jahren einen
gewaltigen Umbruch feststellen können. Während vor dreißig Jahren sich der Einfluss der
westlichen Kultur auf das Verhalten der Menschen nur gering ausgewirkt hatte und meist an
der Oberfläche blieb, vor allem auf dem Lande aber auch in den Städten, außer vielleicht in
Mumbai, Delhi und Kalkutta, hat sich das inzwischen grundlegend geändert. Der technische
und wirtschaftliche Fortschritt, die Liberalisierung der indischen Wirtschaftspolitik und damit
verbunden eine ungemein größere Wirkung der Globalisierung haben dazu geführt, dass jetzt
alte indische Strukturen und Grundwerte sich überall auflösen und ihre Kraft verlieren. Das
wirkt sich besonders auf den Familienverband und das Verhältnis der Generationen untereinander aus, aber auch in einer Veränderung des Verhaltens der jungen Leute.
Entscheidend hat zu dieser Veränderung die Ausbreitung der Massenmedien in Form des
Fernsehens, des Internet und der Mobilfunktelefone beigetragen. Indien ist keine geschlossene Gesellschaft mehr, die sich nach außen abschirmen könnte, selbst wenn die Regierung,
Parteien oder andere gesellschaftliche Kräfte das wollten. Sie müssen sich mit den veränderten Bedingungen auseinandersetzen. Und das ist oftmals schwierig und schmerzhaft. Ein
großes Problem dabei ist, dass Veränderungen, die sich in den westlichen Ländern in einem
langen Prozess entwickelt haben und gegen viel Widerstand erkämpft wurden, hier oft einfach
übernommen werden, ohne die Hintergründe zu kennen oder sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
So beobachten wir z.B. ein ganz schwach entwickeltes Bewusstsein für Umweltfragen. Die
Verschmutzung der Städte ist haarsträubend, Abwässer werden kaum geklärt, Giftstoffe bedenkenlos auf den Müll geworfen und die Luftverschmutzung ist horrende. – Ähnlich sieht es
auf dem Gebiet der Medien aus. Viel mehr als in Deutschland finden wir bei Besuchen, dass
der Fernsehapparat einfach weiterläuft, auch wenn der Pfarrer zu einem Seelsorgebesuch
kommt. Viele Kinder sehen ohne Beschränkungen fern und darauf angesprochen, fehlt oft jegliches Verständnis, dass das schädliche Auswirkungen haben könnte. Die (Un-) Kultur der
Handys ist ebenso ungebremst. Das hängt sicher auch daran, dass Festnetztelefone immer
noch sehr schwer zu bekommen sind. Bei Sitzungen werden mit den eindrucksvollsten Klingeltönen wahre Konzerte veranstaltet, in den Schlafwagenabteilen findet man oft lange keine
Ruhe, und sogar im Gottesdienst sind ab und zu einzelne Handys zu hören – trotz des Hinweises in der St. Paul’s Kathedrale, doch bitte die Mobiltelefone auszuschalten! – Die frühere
Kommunikation durch Mundpropaganda oder Boten geht immer mehr verloren und man fühlt
sich sehr hilflos, wenn die Technik einmal versagt. Auf der anderen Seite wird durch das Handy die Unsitte noch gefördert, Sitzungen und Veranstaltungen kurzfristig anzusetzen, denn
man kann durch einen Rundruf innerhalb eines Tages oder ein paar Stunden die Leute zusammentrommeln.
Sehen wir auf die wirtschaftliche und technische Entwicklung und die Infrastruktur, so hat Indien insgesamt statistisch gesehen in den letzten zehn Jahren unerhörte Fortschritte gemacht,
was fast einem Wirtschaftwunder gleicht. Wir erleben aber täglich ein völlig konträres Bild.
Was wir in den Zeitungen lesen von dem „Strahlenden Indien“ (India Shining), scheint sich für
uns manchmal auf einem anderen Stern abzuspielen. Jharkhand, aber auch Bihar und Chattisgarh krebsen nach wie vor mit schlechten Straßen, unbefriedigenden Verkehrsverbindungen,
nicht funktionierender Wasser- und Stromversorgung, so wie einem maroden Gesundheitsund Erziehungssystem herum. – Wir hatten in den letzen vier Jahren noch nie eine so schlechte Stromversorgung wie in diesem Jahr und das, obwohl der Direktor der Elektrizitätswerke in
Jharkhand (Jharkhand State Electricity Board) im letzten Jahr dreimal ausgewechselt wurde.
Ohne Erfolg.
Wir fragen uns natürlich immer wieder, was kann unser Beitrag sein? Wir bereuen es nicht,
noch einmal hierher gekommen zu sein. Sichtbar nachhaltige Verbesserungen können wir am
Ende sicher kaum vorweisen. Aber wir bemühen uns redlich, die Haltung der Studentinnen
und Studenten zu ändern, dass sie neue Fragen stellen und neue Antworten suchen. Wir hoffen, einen Beitrag zu leisten zur Überwindung von Resignation, Nicht-Verstehen und Hilflosigkeit. Das ist neben der Wissensvermittlung eine unserer Aufgaben im College, in der Kirche,
soweit Gespräche und ein Austausch zustande kommen, aber auch bei den Webern in Torankel, mit denen der Freundeskreis Chotanagpur weit über die Produktionsfragen hinaus in enger Verbindung steht. Das scheint uns gerade unter den Menschen wichtig, mit denen wir zu
tun haben, und das sind überwiegend Adivasis, die es schwer haben, sich gegenüber den anderen Kasten und gesellschaftlichen Gruppen zu behaupten. Wir erfahren es dabei aber leider
immer mehr und reden auch darüber, dass es nicht nur die Unterdrückungsmechanismen von
außen sind. Es sind sehr oft die Betroffenen selbst, die sich durch Streitereien, Uneinigkeit,
Bequemlichkeit und vor allem mangelnde Zivilcourage und Disziplin sehr viele Möglichkeiten
verbauen. Das macht uns traurig und oft ratlos, aber ist kein Grund, es gemeinsam nicht immer wieder zu thematisieren und darüber zu sprechen. Manchmal wirkt es auch.
So scheint die Kirchenleitung inzwischen verstanden zu haben, dass sie sich um die Kirchliche
Erziehung (Christian Education) kümmern muss, was bisher weitgehend als selbstverständlich
vernachlässigt wurde. Die ersten Schritte für ein konkretes Programm der Kirche sind gemacht, nachdem einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer von einem Seminar aus Mizoram
motiviert zurückgekommen sind. Wir verstehen es als unsere Aufgabe, in den nächsten Monaten immer wieder daran zu erinnern, dass diese Ansätze weitergeführt werden und die Anfänge nicht im Sand verlaufen. Das gleiche gilt für die Praktisch-Theologische Fortbildung der jungen Pfarrer in den ersten Amtsjahren. Auch hier muss das Bewusstsein geweckt werden, dass
man sie heute in dieser Phase nicht einfach mit ihren Mentoren allein lassen kann, die ihrerseits sich oft hilflos fühlen und ebenfalls Fortbildung und Begleitung bräuchten.
Wir bemühen uns, nicht so aufzutreten wie die, die für alles Ratschläge geben können oder die
Lösungen kennen, denn wir wissen viel zu gut, dass wir selbst nicht in der Situation derer sind,
die um das Überleben, die Ausbildung ihrer Kinder und so vieles mehr zu kämpfen haben. In
mühsamer Kleinarbeit wächst gemeinsam eine Überzeugung, die dann auch Bestand haben
kann.Dass uns die Kirchen hier an Lebendigkeit des Gemeindelebens und an missionarischem
Bewusstsein ohnehin weit überlegen sind, macht uns immer wieder nachdenklich und bescheiden, wenn wir uns oft an bestimmten Dingen stören, die bei uns besser laufen.
Zum Äußeren: Wir sind wieder im Lal Bungalow eingezogen, haben uns dieses Mal sehr
schnell eingelebt und zurechtgefunden, wenn es auch mit den technischen Feinheiten wie Telefon, Internetanschluss und Notstromversorgung einige Zeit gebraucht hat, bis wir alles wieder im Griff hatten. – Der Monsun ist dieses Jahr sehr kräftig. Das bedeutet auch, dass wir es
sicher kühler hatten als Sie in Deutschland in den letzten Wochen, wenn wir auch bei der hohen Luftfeuchtigkeit vermutlich nicht weniger geschwitzt haben. Unser Stundenplan läuft inzwischen. Kleinere Überraschungen wie die Tatsache, dass Dieter neben einer Einführung in
Christliche Ethik und Musikunterricht jetzt plötzlich statt „Geschichte Israels“ eine Vorlesung
über „Propheten“ zugeteilt bekam, sind wir gewohnt.
Ab dem 15. August werden wir einen Tag in der Woche an der Pracharak-Schule in Govindpur
unterrichten bei der Ausbildung der ehrenamtlichen Prediger und Gemeindeleiter der Dorfgemeinden. Für Ursula werden es die gleichen Fächer sein wie am Theologischen College: Seelsorge und Katechetik. Dieter wird sich jetzt aber noch ganz neu mit der Geschichte der Reformation befassen müssen. Die ersten Anfragen für Seminare in den Gemeinden sind inzwischen auch eingetroffen. So werden wir sicher keine Langeweile haben oder über mangelnde
Beschäftigung klagen können. Wie weit Dieter daneben noch Zeit haben wird, bei dem Unternehmen einer Geschichte der Gossner Kirche praktisch und aktiv mitzumachen, Material zu
sammeln, kleinere Artikel zu schreiben, bleibt abzuwarten.
Viele von Euch kennen unsere etwas eingeschränkte Liebe zu Haustieren und können sich
vielleicht vorstellen, dass wir Probleme mit zwei ausgewachsenen jungen Hunden – Chiku und
Kalu - haben. Die Mahtos hinter unserem Haus haben sich die beiden Rüden – echte schwarze und braune indische Promenadenmischung – letztes Jahr anstelle des an Altersschwäche
gestorbenen „Tigers“ angeschafft. Sie lungern andauernd auf unserer Veranda herum, machen Krach und Dreck und zerbeißen die Fußmatten. Oft heulen sie mitten in der Nacht los.
Sie sind nicht zu verscheuchen und werden noch aggressiv, so dass wir ziemlich ratlos sind.
Zum Glück funktioniert die Post ordentlich, auch das Telefon und Internet sind selten gestört;
wir hoffen sogar, bald einen Breitbandanschluss (DSL) zu bekommen. Sie können uns also
gerne schreiben oder anderweitig Kontakt mit uns aufnehmen. Während der Sommerzeit sind
wir Ihnen um dreieinhalb Stunden voraus, ab Ende Oktober wieder um viereinhalb Stunden.
Herzliche Grüße aus dem (zum Glück!) verregneten Ranchi,
Ihre
Dieter und Ursula Hecker

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