Marilyn - evangelische kirche im hr

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Marilyn - evangelische kirche im hr
Manuskriptservice
Verkündigungssendungen der
Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau
Hessischer Rundfunk: Zuspruch am Morgen
Pfarrer Christian König
Haiger
Dienstag, 1. Juni 2004
hr1 - 5:50 Uhr
hr2 - 6:50 Uhr
chronos - 6:25 Uhr
Marilyn
Es ist ein vornehmes Altenwohnheim, irgendwo an der amerikanischen Westküste.
Vom Garten aus hat man einen herrlichen Blick über die grüne Landschaft bis hin zum
Pazifik.
In einem der geräumigen Appartements sitzt eine alte, weißhaarige Dame in einem
bequemen Sessel, raucht eine Zigarette und blickt aufs Meer hinaus.
Als sie die Besucher erblickt, steht sie lächelnd auf, stützt sich mit einem Stock ein wenig ab, kommt langsam auf sie zu und sagt dann nach einer kurzen Pause:
„Schön, dass Sie mich zu meinem Geburtstag besuchen. Ich bin Marilyn Monroe.“
Durchaus vorstellbar diese Szene. Am heutigen Dienstag, in Kalifornien.
Marilyn Monroe würde dort jetzt ihren 78. Geburtstag feiern.
Vielleicht wäre die Presse da.
Ein paar Freunde schauten vorbei, und nach einem gemütlichen Kaffeetrinken gäbe
es noch ein gemeinsames Gruppenfoto im Garten.
Und die alte Dame, Mrs. Monroe, schenkte dem Fotografen noch einmal ein liebenswürdiges Lächeln, fast so, wie sie es früher immer tat, was die Herzen von Millionen
Verehrern höher schlagen ließ.
„Jetzt muss ich nicht mehr dauernd lächeln, vielleicht fällt es mir deswegen leichter“,
würde sie sagen.
Marilyn Monroe als alte Dame am friedlichen Lebensabend?
Die meisten Menschen - ich auch - sehen sie wahrscheinlich ganz anders.
Selbst wenn sie nicht schon mit 36 Jahren gestorben wäre.
Da ist die strahlende junge Frau, deren Gesicht sich weltweit einprägt und von der es
heißt, jeder amerikanische Soldat habe im Koreakrieg mindestens ein Foto von ihr im
Spint aufgeklebt.
Da ist die berühmte Filmszene in „Das verflixte siebente Jahr“, als sie über dem Gitter
eines U-Bahn-Schachtes steht und die ausströmende Luft ihr Kleid hochpustet.
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Zum ersten Mal in der Filmgeschichte sieht man die Unterwäsche einer Frau.
Das Tabu ist gebrochen.
Und da sind die Bilder und Berichte von ihr als der Einsamen, die nicht als ewiges
Blondchen betrachtet werden will, die in Tabletten und Beruhigungsmitteln Trost sucht
und in einem Interview gesteht: In Hollywood kriegst du 1000 Dollar für einen Kuss
und 50 Cents für deine Seele.
Das Showgeschäft verlangt seinen Tribut von ihr. Im Gegenzug macht es sie zur Ikone, zum Heiligenbild der fünfziger Jahre.
Ein Freund sagt zu Marilyn: Du bist für viele Menschen genauso bedeutend wie Jesus. Mit einem Unterschied: du bist berühmter als er.
Es gibt einen modernen Kunstdruck. Der lehnt sich an Leonanrdo da Vincis Bild „Das
letzte Abendmahl“ an. Nur ersetzt er die Jünger durch Hollywood-Größen.
Marilyn Monroe übernimmt in dieser modernen Abendmahlsfeier – den Platz Jesu
Christi, während an der langen Tafel rechts und links von ihr John Wayne, Humphrey
Bogart, James Dean und viele andere die Stellen der Jünger ausfüllen.
Gut möglich, dass Marilyn Monroe im Hollywood-Himmel tatsächlich diese Rolle zukommt. Verschenkte sie auf ihren Fotos und Filmen doch nicht nur ein Stück von sich,
sondern eine Frau sich selbst. Gegen Ende ihres Lebens war dies wohl zuviel für einen einzelnen Menschen.
Der Mann aus Nazareth, dessen Platz sie so überzeugend beim Abendmahl der Hollywood-Stars eingenommen hatte, steht dagegen merkwürdig fremd im Showgeschäft
der modernen Welt. Er hat kein Bild von sich hinterlassen, keine Zeile selbst aufgeschrieben. Wenn ihm die Verehrer zu sehr auf den Pelz rücken, weicht er aus, zieht
sich zurück in ein Boot oder auf einen Berg. An den stillen und einsamen Orten begegnet er Gott, schöpft Kraft für seine Begegnungen mit den Menschen.
Würde er heute einen Film mit Marilyn Monroe ansehen, ich bin sicher, er täte dies
schweigend und interessiert.
Um am Ende daran zu erinnern: Menschlich lebt, wer sich seine Träume und Hoff-
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nungen, die Bilder von Schönheit und Glück, nicht ausreden läßt.
Und ein Mensch bleibt, wer seine Grenzen kennt und wagt, den Alltag anzugehen.
Dann bleiben die Traum-Bilder nicht auf die Leinwand gebannt.
Sondern werden Teil des eigenen Lebens.
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