In der ersten Reihe«
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»In der ersten Reihe« Das Bundesverfassungsgericht und der öffentlich-rechtliche Rundfunk Von Karl-Dieter Möller Die rheinland-pfälzische Landesregierung unter Ministerpräsident Kurt Beck strebt beim Bundesverfassungsgericht ein Normenkontrollverfahren gegen den ZDFStaatsvertrag an. Es geht um die Zusammensetzung der Aufsichtsgremien und die damit verbundene parteipolitische Einflussnahme auf Programm und Personal. Anlass sind die öffentlichen Kontroversen um die Vertragsverlängerung des ZDF-Chefredakteurs Nikolaus Brender. Um das Thema Staatsferne ging es auch schon im ersten großen Fernsehurteil von 1961. Damals hat das Bundesverfassungsgericht das so genannte Adenauer-Fernsehen u. a. mit Hinweis auf die Freiheit des Rundfunks vor staatlichen Einflüssen gestoppt. Seitdem hat das höchste Gericht immer wieder in Rundfunkfragen entscheiden müssen und dabei wesentlich zur Ausformung der Medienordnung in Deutschland V erfassungsrichter sind Fernsehzuschauer – wie Millionen andere Bürger auch; Ärger über manche Programmentscheidungen mit eingeschlossen. So brachte ein ehemaliger Präsident des Gerichts wenig Verständnis gegenüber dem Autor dieser Zeilen dafür auf, dass am 8. 10. 2006 Michael Schumacher, der Formel1-Weltmeister, die Spitzenmeldung in der 20.00-Uhr-»Tagesschau« war. Ein Motorschaden hatte einen erneuten Weltmeistertitel verhindert. Was das solle? Erklärungsversuche, dass dies ein Ereignis sei, das Millionen Zuschauer interessiere, hatten wohl nicht wirklich überzeugen können. Auch gelegentlich geübte Kritik der Damen und Herren in den roten Roben – am Programm von ARD und ZDF – hat die Grundüberzeugung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in 60 Jahren nie erschüttern können. Im Gegenteil. Zum 60. Geburtstag der ARD lässt sich eine ebenso einfache wie wahre Behauptung aufstellen: Gäbe es das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nicht, gäbe es den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in seiner heutigen Ausprägung wohl nicht mehr. Beim BVerfG sitzt der öffentlich-rechtliche Rundfunk in der ersten Reihe. Aber er wird einiges tun müssen, damit er dort sitzen bleibt. Mit dem neuen Modell eines Rundfunkbeitrags pro Wohnung könnte ihm das im Sinne der Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichts im Karlsruher Schlossbezirk gelingen. beigetragen. Bundesverfassungsgericht und Rundfunk ARD-JAHRBUCH 10 21 Die Entscheidungen des BVerfGs zur Rundfunkfreiheit gehören zu den großen Traditionslinien seiner Rechtsprechung. Die Garantie der Rundfunkfreiheit wurde von den obersten Verfassungshütern in einer Reihe von Rundfunkurteilen und in mehreren Entscheidungen zu den Rundfunkgebühren im Laufe der letzten 60 Jahre Schritt für Schritt mit relativ engmaschigen Strukturen versehen. Die Rechtsprechung des BVerfGs stand und steht dabei nicht außerhalb öffentlicher Kritik. Rundfunkpolitisch sind es vor allem seine Aussagen zum so genannten dualen Rundfunksystem in Deutschland. Hier gibt es viele Befürworter, aber ebenso hat das System viele (Gift-) Pfeile auf sich gezogen. Das Gericht hat in den Augen seiner Kritiker den Gesetzgeber »nirgendwo so offensichtlich entmannt« wie auf diesem Gebiet und einen »verfassungsrechtlichen Jurisdiktionsstaat« eingeführt, so lautete die professorale Kritik. Nicht weniger kritisiert, aber von fundamentaler Bedeutung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk waren in seiner 60-jährigen Geschichte die so genannten RundfunkgebührenUrteile. Auffällig an diesen Urteilen ist der Aspekt, dass die Verfassungsrichter ein Grundrecht nutzen, um richterrechtliche Regeln über die Rundfunkordnung zu formulieren, deren Gestaltung doch eigentlich Sache der Länder ist. Das Grundgesetz betont in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 »die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk« und garantiert in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG das Recht, »sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten«. Diese Vorgaben sind – was viele gar nicht wissen – vor allem als Reaktion auf das nationalsozialistische Rundfunkregime zu erklären, welches das Anhören ausländischer Sender 22 Artikel unter Strafe gestellt und sich den Rundfunk als Propagandainstrument angeeignet hat. Vor diesem Hintergrund misst das BVerfG der grundgesetzlichen Garantie der Freiheit des Rundfunks fundamentale Bedeutung bei, und zwar für das gesamte öffentliche, politische und gesellschaftliche Leben. Dabei haben die Verfassungsrichter das Grundrecht von Anfang an aber nicht nur aus der Perspektive der Bürger gesehen, sondern gerade auch aus der Sicht der Rundfunkveranstalter. _ Deutschland-Fernsehen GmbH Den Grundstein für ihre Rundfunk-Rechtsprechung legten die Verfassungsrichter bereits im Ersten Fernsehurteil am 28. 2. 1961. Es war ein Urteil, das auch gleich zu einer erheblichen Missstimmung zwischen den Verfassungsorganen Bundesverfassungsgericht und Bundesregierung führte. Unter der Ägide des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer hatte die Bundesregierung im Juli 1960 die private »Deutschland-Fernsehen GmbH« gegründet. Hintergrund war, dass dem Kanzler die politische Ausrichtung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens nicht passte. Es kam ihm und der Bundesregierung daher sehr gelegen, dass der damalige technische Fortschritt durch Erschließung neuer Frequenzen ein weiteres Fernsehprogramm ermöglichte. Die Länder Hamburg und Hessen aber klagten vor dem BVerfG, und die »roten Roben« kippten die »DeutschlandFernsehen-GmbH«, erklärten sie für verfassungswidrig. Das Gericht entschied erstmals über die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im Hinblick auf die Rundfunkgesetzgebung. Die zweite Kernaussage betraf die Feststellung, dass der Rundfunk staatsfrei zu organisieren ist. Die Entscheidung von 1961 gilt daher auch als »Magna Charta« der verfassungsrechtlichen Rundfunkordnung. Das hinderte den damaligen Kanzler Adenauer aber nicht daran, am 8. 3. 1961 seinen Ärger über das Karlsruher Urteil im Deutschen Bundestag im rheinischen Tonfall loszuwerden. »Meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich komme zum Fernsehstreit. Das Kabinett war sich darin einig, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts falsch ist, meine Damen und Herren.« Applaus aufseiten der Regierungspartei, Proteste und Buhrufe im Plenum bei der ARD-JAHRBUCH 10 Opposition. Adenauer aber fuhr unbeirrt fort: »Meine Herren! Meine Herren! Sie können doch wirklich nicht erwarten, dass ich mich hier hinstelle und sage, das ist ein gutes Urteil.« Karlsruhe reagierte empört. Der damalige Präsident, Gebhard Müller, wies die Kritik scharf zurück. Warum Bundeskanzler Konrad Adenauer (Foto unten) das Urteil nicht passte, war klar. Die Richter schrieben in ihr Urteil, dass die Rundfunkfreiheit nicht nur ein individuelles Freiheitsrecht des Bürgers gegenüber dem Staat 1981 erkannte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit von privatem Rundfunk erstmals grundsätzlich an und skizzierte dann fünf Jahre später, 1986, seine Vorstellungen von privatem und öffentlichem Rundfunk. Die Richter prägten den Begriff »Grundversorgung« als Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Systems. Für die Sicherung der Grundversorgung sei es daher erforderlich, so das Gericht, die technischen, finanziellen, organisatorischen und personellen Bedingungen so auszugestalten, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk dieser Aufgabe gerecht werden könne. Beim privaten Rundfunk könnten geringere Anforderungen an die Breite des Programmangebots und die Sicherung gleichwertiger Vielfalt gestellt werden, solange die Grundversorgung durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gewährleistet ist. _ Lokaler Rundfunk gewährleiste, sondern auch die Eigenständigkeit des Rundfunks als Institution garantiere. Bereits 1961 erwies das Gericht eine erstaunliche Weitsicht im Hinblick auf die technische Entwicklung. Das Gericht hielt es auch mit Art. 5 GG für vereinbar, dass eine private Gesellschaft Fernsehen betreibt. Damit war bereits vor 50 Jahren der Weg hin zu der später vorgenommenen Öffnung der Rundfunkordnung verfassungsrechtlich geebnet. _ Duales System und Grundversorgung Die Grundlage für eine duale Rundfunkordnung – also öffentlich-rechtlicher Rundfunk auf der einen, privater Rundfunk auf der anderen Seite – legte das Gericht aber erst 20 bzw. 25 Jahre später, 1981 und 1986 mit seinem so genannten dritten und vierten Rundfunkurteil. Bundesverfassungsgericht und Rundfunk »Halbe Kosten, halber Sieg?« Es wäre verfehlt, aus der Halbierung der Verfahrensgebühr, die Karlsruhe den Klägern und Beklagten auferlegte, auf ein Urteils-Patt zu schließen. Die Wahrheit ist: Der Süddeutsche Rundfunk (SDR) war der eigentliche Sieger beim fünften Rundfunkurteil des Bundesverfassungsgerichts. »Die baden-württembergische Landtagsfraktion – der Verlierer«, schrieben die Stuttgarter Nachrichten am 5. 6. 1987. Anlass für den Bericht: ein 78-seitiger Beschluss des BVerfGs vom 24. 3. 1987. Er war ohne mündliche Verhandlung ergangen. Vorausgegangen war eine Verfassungsbeschwerde des SDR und des Südwestfunks (SWF) gegen Teile des badenwürttembergischen Landesmediengesetzes vom 16. 12. 1985. Das Landesmediengesetz untersagte den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanbietern die Veranstaltung von zusätzlichen, bisher nicht gesendeten regionalen und lokalen Rundfunkprogrammen. Den privaten Rundfunkveranstaltern sollte durch das Gesetz der Start erleichtert werden, indem ihnen im lokalen und regionalen Bereich ein Vorrang vor dem öffentlichrechtlichen Rundfunk eingeräumt wurde. Des Weiteren machte das Gesetz das Anbieten von Ton- und Bewegtbilddiensten auf Abruf (Online-Dienste) von einer besonderen Zulassung durch Gesetz oder Staatsvertrag abhängig. Beide Punkte sahen die Verfassungsrichter als einen Verstoß gegen die Rundfunkfreiheit an, erklärten die gesetzlichen Regelungen für nichtig. ARD-JAHRBUCH 10 23 Die Reaktionen auf diesen, am 4. 6. 1987 veröffentlichten Beschluss waren – je nach Interessenlage – unterschiedlich. Für den damaligen Intendanten des SDR, Hans Bausch, war die Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung für die Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im lokalen und regionalen Bereich. »Den Politikern in den Mehrheitsfraktionen der Landtage wird deutlich gemacht, dass sie nicht nach Belieben in die Selbstverwaltung und in die Programmpolitik der Anstalten hineinregie- Rundfunkgebührenurteil 1994: der damalige ARD-Vorsitzende Jobst Plog, Intendant des NDR (M.l.); Dieter Stolte, ZDFIntendant (M.); Albert Scharf, Intendant des BR (r.), im »Plenum-Saal« des BVerfGs ren dürfen«, so Hans Bausch. Der Vorsitzende des Bundesverbandes Kabel und Satellit, Jürgen Doetz, sprach dagegen davon, dass die Richter einen »Freibrief für Verdrängungswettbewerb erteilt« hätten, der die duale Rundfunkordnung erheblich infrage stelle. Einen Erfolg für künftige Privatanbieter konnte die baden-württembergische Landesregierung dann aber doch noch erzielen – was auch der Grund für die Teilung der Kosten war: Karlsruhe verwehrte den öffentlich-rechtlichen Anstalten die Werbung im lokalen und regionalen Rundfunk, ebenso wie Pay-TV. Dieser Punkt aber änderte nichts daran, dass das »fünfte Rundfunkurteil« eine eindeutige Aussage aus Karlsruhe an die Politiker enthielt: Medienpolitik ist in der Bundesrepublik nicht mit der Brechstange zu machen! 24 Artikel _ Die Entwicklungsgarantie »Grundversorgung heißt nicht Minimal-Versorgung«, hatten die Verfassungsrichter den Politikern in den Beschluss von 1987 geschrieben. »Grundversorgung könne aber auch nicht auf einem einmal erreichten Stand eingefroren werden«, meinten sie dann 1991. Den Kernsatz des Urteils am 5. 2. 1991 las der Vorsitzende des Ersten Senats und Präsident des Gerichts, Roman Herzog, vor: »Mit der Gewährleistungspflicht wäre es unvereinbar, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf den gegenwärtigen Entwicklungsstand in programmlicher, finanzieller und technischer Hinsicht zu beschränken. Der Grundversorgungsauftrag lässt sich im dualen System unter den bestehenden Bedingungen vielmehr nur erfüllen, wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht allein in seinem gegenwärtigen Zustand, sondern auch in seiner zukünftigen Entwicklung gesichert ist.« An diesen Maßstäben hatte das BVerfG verschiedene Bedingungen des Gesetzes über den WDR bzw. des Gesetzes für den privaten Rundfunk in NRW überprüft, bei dem es um die Frage ging, welche Angebote zum Grundauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gehören. Hier gaben die Richter zur Antwort, dass es nicht nur eine Entwicklungsgarantie geben müsse, sondern diese auch die Erschließung neuer Übertragungswege (beispielsweise Satellit und Kabel) umfasse. _ Die Rundfunkgebühr Wie viel es Gebührenzahler und Gebührenzahlerinnen kosten sollte, »in der ersten Reihe« sitzen zu dürfen, das hatten bis Mitte der 80er Jahre die Ministerpräsidenten der Länder ausgehandelt. Über die Gebührenerhöhung durften dann die Länderparlamente beschließen. Dem Ganzen war ein Verfahren vorgeschaltet, in dem ein Gremium – die 1975 eingesetzte Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten, kurz KEF – die Bedarfsanmeldungen der Sender prüft und den Länderchefs entsprechend Vorschläge vorlegt. Davon wichen die Ministerpräsidenten in der Vergangenheit regelmäßig mit Rücksicht auf die Wählerstimmen nach unten ab. Mit dieser Verfahrensart der Gebührenfestsetzung hatte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in einem Verfahren verfassungsrechtliche Probleme. Er setzte sein Verfahren daher aus und legte dem BVerfG das Problem auf den Tisch. ARD-JAHRBUCH 10 Damit war die »Kardinalfrage« gestellt: Wer darf die Rundfunkgebühren festsetzen? Oder, salopper formuliert, gilt tatsächlich: Wer zahlt, schafft an? Für die Rundfunk- und Fernsehanstalten schrillten alle Alarmglocken. Mit diesem Verfahren wurde das Finanzierungssystem des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf den Prüfstand gestellt. So führt die Präsenzliste des Verfassungsgerichts in diesem Verfahren nicht nur den Intendanten des BR, Albert Scharf, auf, sondern für die ARD Jobst Plog, Vorsitzender der ARD und Intendant des NDR, Hermann Fünfgeld, Intendant des SDR, und für das ZDF Intendant Dieter Stolte. Auch der Intendant des damaligen SWF, Peter Voß, war nach Karlsruhe gekommen. Von Baden-Baden hatte er den kürzesten Anreiseweg. Hatte die Bayerische Staatsregierung zur mündlichen Verhandlung noch den Staatssekretär und Leiter der Staatskanzlei, Herbert Huber, nach Karlsruhe geschickt, war es zur Urteilsverkündung nur noch ein Ministerialrat. So etwas wird beim Gericht sehr fein registriert und löst mehr als nur Stirnrunzeln aus. Es fehlt der Respekt vor dem Verfassungsorgan BVerfG. Die Verlesung des 65-seitigen Urteils am 28. 2. 1994 teilten sich Präsident Roman Herzog und der Berichterstatter in dieser Sache, Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm. Ein Urteil, von dem Polemiker anschließend meinten, es sei mit einer »Heiligsprechung« des öffentlichrechtlichen Rundfunks zu vergleichen. Das sicher nicht, aber die Leitsätze der Entscheidung sprechen eine deutliche Sprache. Vor allem der dritte Leitsatz des Urteils: »Für die Gebührenfinanzierung gilt der Grundsatz der Programmneutralität. Im Verfahren der Gebührenfinanzierung ist von den Programmentscheidungen der Rundfunkanstalten auszugehen. Die Gebühr darf nicht zu Zwecken der Programmlenkung oder der Medienpolitik eingesetzt werden.« Die angereisten Intendanten, Justiziare und Referenten konnten ihre Freude über das Urteil kaum verbergen. Im »Plenum-Saal« des Gerichts – im Rücken das Ölporträt des streng blickenden ehemaligen Präsidenten Hermann Höpker Aschoff – nahmen der ARD-Vorsitzende Jobst Plog und ZDF-Intendant Dieter Stolte auf einer improvisierten Pressekonferenz zum Urteil Stellung. Jobst Plog wörtlich: »Wir wollen doch wenigstens eine erste Bewertung versuchen, und die kann nur sein: Wir freuen uns über dieses Urteil und sehen darin eine Bundesverfassungsgericht und Rundfunk erhebliche Stärkung der Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Nicht nur das, sondern im gegenwärtigen Zeitpunkt auch ein klares Stück Existenzsicherung in die Zukunft gewendet. Das ist zu einem Zeitpunkt, wo andere, die besonders schlau und klug sind, uns das Ende schon vorhergesagt haben.« Natürlich nahm dieser medienpolitische »Paukenschlag« auch im ARD-Programm breiten Raum ein. Der Beitrag über das Urteil in »Kurzberichterstattungs-Urteil« am 17. 2. 1998: WDR-Intendant Fritz Pleitgen (l.) und BR-Intendant Albert Scharf sind schon früh zur Urteilsverkündung in den Gerichtssaal des BVerfGs gekommen. der Hauptausgabe der »Tagesschau« um 20.00 Uhr hatte gar eine Länge von 2 Minuten und 11 Sekunden. Um 21.35 Uhr sendete Das Erste einen »Brennpunkt«, moderiert vom damaligen Chefredakteur des SDR, Ernst Elitz. »Tagesthemen«-Moderator Ulrich Wickert »verpackte« die Entscheidung am Ende des Tages so: »Es geht ums Geld, ums leidige Geld, und wenn man sich da nicht einigen kann, läuft man zum Kadi. In diesem Fall war es für die ARD und das ZDF besonders schwierig; denn das Bundesverfassungsgericht musste sich mit der Frage befassen, ob die Festsetzung der Rundfunkgebühren, die 23,80 DM im Monat betragen, von den politischen Parteien in den Landtagen abhängen darf, wie es im Augenblick ARD-JAHRBUCH 10 25 der Fall ist, oder nicht. Der bayerische Verwaltungsgerichtshof hält die bestehende Regelung für verfassungswidrig, da sie den Politikern einen zu großen Einfluss auf das Programm ermöglicht. Diesem Gedanken hat sich das Bundesverfassungsgericht heute angeschlossen.« Das war der Tag des 8. Rundfunkurteils. Wer aber dachte, damit herrsche nun Ruhe in der Gebührenfrage, der irrte. Ein Nachrichtenmagazin formulierte es so: »Wenn ein Politiker sich auf sehr simple Weise in das Herz seiner Wähler einschmeicheln will, dann braucht er nur auf die Rundfunkgebühren zu schimpfen.« Auf solche Weise lassen sich ordentlich Ressentiments schüren. In ihrem ersten Gebührenurteil 1994 hatten die Verfassungsrichter ein Verfahren erzwungen, bei dem die Politik fast bis zum Schluss außen vor bleibt. Seither prüfen 16 unabhängige Sachverständige der KEF die Bedarfsanmeldung der Rundfunkanstalten und legen die Gebühren fest. Die unabhängigen Experten empfahlen Anfang 2004 nach eingehender Prüfung eine monatliche Gebührenerhöhung von 1,09 Euro zum 1. 1. 2005. Die Ministerpräsidenten der Länder kürzten den Betrag auf 88 Cent. Ihre Begründung: Die Rundfunkanstalten hätten noch Einsparpotenzial. Angesichts der angespannten wirtschaftlichen Lage könne der Gebührenzahler nicht noch mehr belastet werden. Nur die Faust in der Tasche ballen oder Verfassungsbeschwerden gegen die Gebührenentscheidung erheben und damit die Ministerpräsidenten verklagen, deren politisches Wohlwollen der öffentlich-rechtliche Rundfunk benötigt? Die Intendanten von ARD und vor allem der Intendant des ZDF waren sich nicht sicher. Ohne verfassungsrechtliches Risiko sind Verfassungsbeschwerden nicht, denn auch beim Verfassungsgericht gilt die amerikanisch-forensische Wahrheit: »Wer den Friseurladen betritt, muss damit rechnen, dass er rasiert wird.« Dann aber fand man doch noch zusammen. ARD, ZDF und Deutschlandradio legten Verfassungsbeschwerden ein. Dass Peter Boudgoust seinen ersten regulären Arbeitstag als neuer Intendant des SWR im Bundesverfassungsgericht verbringen würde, hätte er sich auch nicht träumen lassen. Aber er unterstützte die Verfassungsklage durch seine Präsenz in Karlsruhe. Auf der Präsenzliste zur mündlichen Verhandlung am 2. 5. 2007 standen die Namen Fritz Raff, ARD-Vorsitzender und Intendant des SR, Thomas Gruber, Intendant 26 Artikel Urteilsverkündung am 11. 9. 2007 zum Thema Gebührenerhöhung: die Vertreter der Länder, darunter Günther Oettinger (r.) und Kurt Beck (M.) des BR, Markus Schächter, Intendant des ZDF, und Ernst Elitz, Intendant des Deutschlandradios. Aufseiten der Bundesländer waren die Ministerpräsidenten Beck aus Rheinland-Pfalz und Oettinger aus Baden-Württemberg nach Karlsruhe gekommen. Was den Ersten Senat des Verfassungsgerichts allerdings überraschte, so konnte man später hinter vorgehaltener Hand in Karlsruhe hören, war die Tatsache, dass sich die deutschen Landtage insgesamt so wenig am Verfahren interessiert zeigten. Nur SchleswigHolstein und Bayern hatten sich gemeldet. Immerhin ging es doch um die Rolle des Gesetzgebers im Prozess der Gebührenfinanzierung, und das sind in unserem staatsrechtlichen System eben die Bürgerschaften, Abgeordnetenhäuser und Landtage, unbeschadet natürlich der politisch-praktischen Wirklichkeiten des Gebührenfindungsverfahrens. Wer sich so wenig interessiert zeigt, muss sich nicht wundern, wenn er am Ende wenig in den Händen hält. Nach der mündlichen Verhandlung im Mai 2007 hatte man aufseiten der öffentlich-rechtlichen Anstalten das Gericht noch mit mehr als gemischten Gefühlen verlassen. Die kritischen Fragen von der Richterbank hatten Zweifel am Erfolg der Verfassungsbeschwerden aufkommen lassen. War man doch etwas zu forsch in den »Friseurladen« gegangen? Am Tag des Urteils überraschte der Erste Senat des BVerfGs dann wohl alle: Verfassungsbeschwerdeführer und Verfassungsbeschwerdegegner. Die erste Bemerkung des rheinland- ARD-JAHRBUCH 10 pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck nach dem Urteil an seinen Kollegen Oettinger war nicht für die Kameras bestimmt, aber ehrlich: Beck wörtlich: »Jetzt sind wir auf den Bauch gefallen.« In die Kameras sagte er: »Wenn ARD, ZDF und Deutschlandradio heute einen Grund haben zu feiern, dann ist es alleine derjenige, dass eine Entwicklungsgarantie auch in die digitale Welt heute mehrfach in dem Urteil bestätigt und betont worden ist.« Die Intendanten von ARD und ZDF übten sich nach dem Urteil in Bescheidenheit. Der damalige ARD-Vorsitzende Fritz Raff: »Es wird keine Sieger und Besiegten geben. Es gibt nur Rechtssicherheit.« Und der Intendant des SWR, Peter Boudgoust, ergänzte: »Es ist klargestellt worden, dass es diesen öffentlich-rechtlichen Rundfunk braucht für die Erhaltung der Meinungsvielfalt in diesem Land.« Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass die Finanzierung entwicklungsoffen und entsprechend bedarfsgerecht gestaltet werden müsse. Das Gericht steht zur Bestands- und Entwicklungsgarantie zugunsten des öffentlichrechtlichen Rundfunks. Sie ist vom Gericht aus der Erfahrung heraus formuliert, dass das, was besteht, häufig nur bestehen bleiben kann, wenn man ihm erlaubt, sich fortzuentwickeln. So schrieb es der ehemalige Verfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem als Berichterstatter ins 85-seitige Urteil, und so las es der damalige Präsident Hans-Jürgen Papier vor. Das Urteil wurde live in PHOENIX, dem Ereignisund Dokumentationskanal von ARD und ZDF, aus Karlsruhe übertragen. Bundesverfassungsgericht und Rundfunk Nach dem »Gebührenurteil« 2007: Der damalige ARD-Vorsitzende Fritz Raff steht den Journalisten für Fragen zur Verfügung. _ Der Rundfunkbeitrag Diesen Gedanken der bedarfsgerechten Finanzierung griff der ehemalige Verfassungsrichter, Staats- und Steuerrechtler Paul Kirchhof aus Heidelberg auf. Im Auftrag von ARD, ZDF und Deutschlandradio legte er im Mai 2010 ein Gutachten vor, in dem das bestehende Finanzierungssystem fortentwickelt und deutlich vereinfacht wird. Die Rundfunkgebühr soll nicht mehr länger nach der Zahl der Empfangsgeräte, sondern pro Wohnung berechnet werden. Am 9. 6. 2010 stimmten die Ministerpräsidenten der Länder in einem Eckpunktepapier zu, dass für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk künftig eine Abgabe pro Wohnung erhoben wird. »Der 9. Juni 2010 ist zweifellos ein wichtiges Datum in der ARD-Vorsitzzeit des SWR«, sagte Peter Boudgoust, der derzeitige ARD-Vorsitzende, der zum Jahresende 2010 den Vorsitz an WDRIntendantin Monika Piel abgeben wird. Ob der neue Rundfunkbeitrag – ab dem Jahr 2013 – das »rundfunkrechtliche Köchelverzeichnis« der Rundfunkentscheidungen, wie der ehemalige Verfassungsrichter Udo Steiner es einmal formulierte, weiter ansteigen lässt und um neue Urteile anreichert, bleibt abzuwarten. Zu befürchten ist es. Ganz sicher aber könnte das »rundfunkrechtliche Köchelverzeichnis« noch um Urteile ergänzt werden, sollte das BVerfG Gelegenheit haben, die Auswirkungen der ARD-JAHRBUCH 10 27 Nach dem Urteil von 1998 haben Fernsehsender weiterhin das Recht, Kurzberichte von Sportveranstaltungen auszustrahlen. Werder Bremen – Hamburger SV am 8. 5. 2010 Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg im Bereich des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und seiner Finanzierung in seine Rechtsprechung mit einzubeziehen. _ Fernsehen und Fußball Eine Entscheidung soll zum Schluss nicht unerwähnt bleiben. Ob sie allerdings in die Reihe der »großen Rundfunkurteile« einzureihen ist – zumindest Fußballfans dürften das von Herzen bejahen. Es ging um die »schönste Nebensache der Welt«, um Fußball. 1998 schrieben die Damen und Herren in den roten Roben im »Namen des Volkes« ein Bürgerrecht auf Fußball (und sonstigen Spitzensport) im Fernsehen fest. In den Länderrundfunkgesetzen und im Rundfunkstaatsvertrag war das Recht auf kostenlose Kurzberichterstattung verankert, das auch ohne den Erwerb von Senderechten die Ausstrahlung von Neunzig-Sekunden-Beiträgen erlaubte. Die Bundesregierung, große Medienkonzerne und der Deutsche Fußballbund (DFB) sahen sich durch das winzige Recht auf kostenlose Kurzberichte im öffentlich-rechtlichen Fernsehen in ihrer Absicht gestört, aus bewegten Sportbildern eine handhabbare und verknappbare, damit teure Ware werden zu lassen. Der Prozessbevollmächtigte der Bundesregierung, der Münchner Staatsrechtsprofessor 28 Artikel Hans-Jürgen Papier, hatte in der mündlichen Verhandlung im November 1997 gemeint, beim Sport gehe es »nur« um Unterhaltung, und dafür müsse halt nach der deutschen Rechts- und Sozialordnung bezahlt werden. Alles andere sei »publizistische Sozialisierung«, mussten sich die Intendanten des WDR, Fritz Pleitgen, des BR, Albert Scharf, und des damaligen SDR, Hermann Fünfgeld, vorhalten lassen. Die Bundesregierung hatte ihre Normenkontrollklage stellvertretend gegen das nordrhein-westfälische Rundfunkgesetz angestrengt und die Gesetzgebungskompetenz der Länder bestritten. Vier Monate später, im Februar 1998, fiel dann das Urteil: Zum Freiheitsrecht der Bürger auf ungehinderten Informationszugang und zum Recht der Sender auf Informationstätigkeit gehören auch Sportereignisse. Wegen der Vielfalt des Angebots müssten Meinungsmonopole verhindert werden – und zwar rechtzeitig. Im Urteil zur »Kurzberichterstattung« geht es nicht um Marktanteile und Quoten, sondern um den Wert der Informationsvielfalt und um die Gefahren einer totalen Kommerzialisierung von Informationen. Für die Kurzberichte im Profi-Fußball aber muss ein Entgelt gezahlt werden. Fritz Pleitgen nach dem Urteil: »Ich denke, damit mussten wir rechnen. Da ist das Bundesverfassungsgericht mit der Zeit gegangen. Und ich hatte das auch eigentlich für mich schon so in die Richtung gestellt.« Immer wieder haben die Hüter des Grundgesetzes in ihren Rundfunkurteilen in den letzten 60 Jahren versucht, die Welt des Rundfunks nach den hohen Ansprüchen des Grundgesetzes zu formen. Das Wort »Gemeinwohl« hat dabei einen ganz neuen Klang bekommen. Karl-Dieter Möller, ARD-Rechtsexperte und bis Ende Leiter der ARD-Fernsehredaktion Recht und Justiz beim SWR, Karlsruhe ARD-JAHRBUCH 10