Fall 27: "Zulässige Mithaftungsübernahme?"
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Fall 27: "Zulässige Mithaftungsübernahme?"
Fall 27: "Zulässige Mithaftungsübernahme?" (nach BGHZ 135, 66) Sittenwidrigkeit von Bürgschafts- oder Mithaftungsübernahmen wegen finanzieller Überforderung des Bürgen bzw. Mithaftenden Fall 27: "Zulässige Mithaftungsübernahme?" (nach BGHZ 135, 66) S möchte einen Autohandel eröffnen. Zwecks dessen Finanzierung wendet er sich an die B-Bank, um ein staatlich gefördertes Eigenkapitalhilfedarlehen in Höhe von DM 154.000,00 zu erhalten. Aufgrund der maßgebenden Förderrichtlinien des Bundeswirtschaftsministeriums ist die Gewährung des Darlehens aber von der Übernahme der persönlichen Mithaftung durch den Ehegatten abhängig. Aus diesem Grund fährt der Angestellte A der B-Bank zur 60 km entfernten Arbeitsstelle der Ehefrau E des S und teilt dieser mit, dass das Darlehen an S nur ausgezahlt werde, wenn sie den Darlehensvertrag mitunterschreibe. Die vermögenslose E, die als Blumenverkäuferin DM 1.200,00 netto pro Monat verdient und diese Tätigkeit bereits seit 20 Jahren ausübt, weigert sich aber, das Vertragsformular zu unterschreiben. Zur Begründung führt sie an, sie sei nicht am Unternehmen ihres Ehemannes beteiligt. Außerdem verfüge sie nicht über Grundeigentum. A überlässt daraufhin das Vertragsformular dem S, damit dieser die Ehefrau zum Unterschreiben veranlasse. Nach mehreren Wochen unterschreibt E die Mithaftungserklärung. S erhält daraufhin von der B-Bank das gewünschte Darlehen ausgezahlt. Nach den vertraglichen Vereinbarungen belaufen sich die Zinsen für das Darlehen im Falle der Kreditkündigung auf 8,7 % p. a. Zwei Jahre später, noch bevor Tilgungsleistungen auf das Darlehen erbracht worden sind, fällt die von S gegründete Autohandels-GmbH in Konkurs. Die B-Bank verlangt von E nach fristloser Kündigung Rückzahlung des Darlehens. Zu Recht? Anspruch der B-Bank gegen E aufgrund eines Schuldbeitritts gem. § 305 BGB A) Einigung zwischen B und E über einen Schuldbeitritt? Annahme eines Schuldbeitritts im Zweifel nur im Falle eines eigenen unmittelbaren wirtschaftlichen oder rechtlichen Interesses an der Durchführung des Hauptvertrages; hier aber ausdrücklich vereinbarte Mithaftung der E. B) Wirksamkeit der Einigung I. Wucher gem. § 138 II BGB? Exkurs I. Tatbestand des § 138 II BGB 1. Objektiver Tatbestand Voraussetzung: auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung a) Anwendung: nur auf Austauschverträge (Darlehen, Kauf, Miete etc.); keine Anwendung auf unentgeltliche Verträge (Schenkung, Leihe, Auftrag etc.) b )Feststellung eines auffälligen Missverhältnisses: Ermittlung und Gegenüberstellung des objektiven Wertes von Leistung und Gegenleistung im Zeitpunkt des Vertragsschlusses Würdigung aller Umstände des Einzelfalles (insbesondere Berücksichtigung der von den Parteien übernommenen Risiken) Faustregel bei Darlehenswucher: auffälliges Missverhältnis, wenn vereinbarter Zinssatz den marktüblichen Effektivzins entweder relativ um 100 % oder absolut um 12 % übersteigt (BGHZ 110, 228). Beispiel 1: Marktüblicher Zins von 6 % => sittenwidrig ist ein vereinbarter Zins von 13 % wegen relativer Überschreitung des marktüblichen Zins um mehr als 100 %. PD Dr. Roland Michael Beckmann Wintersemester 1999/2000 Repetitorium im Privatrecht Beispiel 2: Marktüblicher Zins von 10 % => sittenwidrig ist ein vereinbarter Zins von 23 % wegen absoluter Überschreitung des marktüblichen Zins um mehr als 12 %. D.h. in Niedrigzinsphasen wird DN durch die relativer Übersteigung geschützt und in Hochzinsphasen durch die absolute Übersteigung 2. Subjektiver Tatbestand Ausbeutung einer Schwächesituation des Bewucherten durch Wucherer a) Schwächesituation: Fälle des § 138 II BGB b) Ausbeutung der Schwächesituation: Vorsätzl. Zunutzemachen der Schwächesituation in Kenntnis des auffälligen Missverhältnisses (nicht erforderlich ist eine besondere Ausbeutungsabsicht) II. Rechtsfolge 1. Grundsatz: Gesamtnichtigkeit des Rechtsgeschäfts; keine Reduktion des wucherischen Teils auf das zulässige Maß (Ausnahme: § 5 WiStG [Mietwucher], vgl. Anhang Fall 26) 2. 2. Umfang der Nichtigkeit: Kausal- und Erfüllungsgeschäft des Bewucherten ("gewähren lässt"); Erfüllungsgeschäft des Wucherers bleibt wirksam. Zurück zum Fall: Hier: kein Austauschverhältnis zwischen B und E => keine Nichtigkeit aufgrund Wuchers gem. § 138 II BGB II. Sittenwidrigkeit gem. § 138 I BGB? Exkurs I. Tatbestand des § 138 I BGB 1. Objektiver Tatbestand Verstoß gegen die guten Sitten: Verstoß gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden, entweder aufgrund Inhaltssittenwidrigkeit oder aufgrund Umstandssittenwidrigkeit. Inhaltssittenwidrigkeit, wenn der Inhalt des Rg. sittenwidrig ist (Beispiel: Anheuern eines Killers). Umstandssittenwidrigkeit, wenn Inhalt an sich r. m., aber Umstände RG. sittenwidrig erscheinen lassen. Maßgeblicher Zeitpunkt: Vornahme des Rechtsgeschäfts (auch bei letztwilligen Verfügungen) 2. Subjektiver Tatbestand bei Inhaltssittenwidrigkeit: keine Kenntnis oder Kennenmüssen der Parteien erforderlich bei Umstandssittenwidrigkeit: Kenntnis oder Kennenmüssen des sittenwidrig Handelnden erforderlich II. Rechtsfolge 1. Grundsatz: Gesamtnichtigkeit Ausnahme insbesondere bei Dauerschuldverhältnissen; Beispiel: überlange Laufzeit von Bierlieferungsverträgen - Reduktion auf das zulässige Maß 2. Nichtigkeit grundsätzlich nur des Kausalgeschäfts, nicht des Erfüllungsgeschäfts PD Dr. Roland Michael Beckmann Wintersemester 1999/2000 Repetitorium im Privatrecht Ausnahme: Sittenwidrigkeit des Leistungsvollzugs Zurück zum Fall: Ansatz: einerseits geringes Einkommen der E, andererseits hoher Verpflichtungsumfang Ist dies ein Anlass von Sittenwidrigkeit auszugehen? Eigentlich nein, denn Grundsätzlicher Ausfluss der Privatautonomie: Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des rechtsgeschäftl. Handelnden => Grundsatz: keine Sittenwidrigkeit nur aufgrund mangelnder Leistungsfähigkeit des Schuldners für eine eingegangene Verpflichtung Ausnahme: Fälle der sittenwidrigen Überforderung des Schuldners, insbesondere Sittenwidrigkeit einer Bürgschaft oder eines Schuldbeitritts eines Angehörigen wegen Überforderung (zuletzt BGH NJW 1999, 2584) Voraussetzungen im einzelnen streitig Voraussetzungen (im einzelnen str. vgl. Anhang zum Fall): • Verpflichtung des Bürgen/Mithaftenden in einem Umfang, der seine gegenwärtigen und zukünftig zu erwartenden Einkommensund Vermögensverhältnisse weit übersteigt und • Hinzutreten weiterer dem Gläubiger zurechenbare und dem Schuldner erhebliche belastende Umstände, die zu einem unerträglichen Ungleichgewicht der Vertragspartner führen (BGH NJW 1997, 52, 53; BGHZ 125, 206, 210) Ausnahme: Hinzutreten weiterer Umstände entbehrlich, wenn ein Fall krasser finanzieller Überforderung vorliegt und der Mithaftende kein Eigeninteresse an Kreditaufnahme hat (BGH NJW 1999, 2584 unter IV.) Wann eine krasse Überforderung vorliegt – unterschiedliche Rechtsprechung der Senate des BGH => Vorlage durch 11. Senat an großen Senat für Zivilsachen, BGH NJW 1999, 2584 Hier: Krasses Missverhältnis zwischen Verpflichtungsumfang und Leistungsfähigkeit des Bürgen/Beitretenden? Von E zu tragende Zinsen Eigenkapitalhilfedarlehen im Falle einer Kreditkündigung: 8,7 %, jährlich also DM 13.398,- <=> Jahresnettoeinkommen der E: DM 14.400,- (ohne zu erwartende Einkommenserhöhung) (unter Berücksichtigung der Pfändungsschutzvorschriften keine Abdeckung der Zinslast durch dieses Einkommen => krasse finanzieller Überforderung der E (so BGHZ 136, 66, 70 in der entsprechenden Fallkonstellation) Hier: Darüber hinaus Vorliegen besondere Umstände, durch die E in einer der B-Bank zurechenbaren Weise zusätzlich belastet wird. ist unter Umständen entbehrlich, zur Zeit beim großen Senat für Zivilsachen, Frage kann hier offen bleiben, wenn BGHZ 135, 66, 70 f.: • Einbindung des Ehegatten in das unternehmerische Risiko ohne Rücksichtnahme auf seine finanzielle Leistungsfähigkeit ist nicht angemessen, obwohl die Verpflichtung der E den RL des BMWi entsprach. PD Dr. Roland Michael Beckmann Wintersemester 1999/2000 Repetitorium im Privatrecht • Verantwortung der E für das Scheitern der Berufspläne des S gefährdet den ehelichen Frieden und setzt E allein damit einem erheblichen psychologischen Druck aus. • Konkrete Einflussnahme auf Willensbildung der E (Hinweis eines über eine Entfernung von 60 km angereisten Vertreters der Bank auf die Abhängigkeit der von S beantragten Eigenkapitalhilfe von dieser Mithaftungserklärung war bereits geeignet, der B die schwerwiegende Bedeutung einer Verweigerung ihrer Unterschrift für die Berufswünsche des S eindringlich vor Augen zu führen) => Sittenwidrigkeit der Mithaftungserklärung der E (vgl. BGHZ 135, 66 ff.) => kein Anspruch der B aus einem Schuldbeitritt gem. § 305 BGB So der besprochene Fall des BGHZ 135, 66. Gleichwohl nicht so einfach, wie bisher besprochen – vieles unklar, vor allem durch unterschiedliche Rspr. der verschiedenen Senate des BGH und zwar des 9. und des 11. Senats. Um unterschiedliche Rechtsprechung zu klären, hat 11. Senat in diesem Jahr dem Großen Senat für Zivilsachen verschiedne Fragen zur Sittenwidrigkeit von Bürgschafts- und Mithaftungsübernahmen wegen finanzieller Überforderung vorgelegt. Anhang 1: Vorlagebeschluss des 11. Zivilsenates zum Großen Senat für Zivilsachen, BGH NJW 1999, 2584 1. Ist die Sittenwidrigkeit einer Bürgschaft oder Mithaftungsübernahme wegen finanzieller Überforderung für alle Bürgen und Mithaftenden nach einheitlichen Kriterien zu beurteilen? Hintergrund der 1. Frage: unterschiedliche Rspr. des BGH (11.Senat: einheitliche Beurteilung für alle Gruppen <=> anders 9. Senat, der differenziert zwischen Kinder einerseits und Ehegatten/Lebensgefährten andererseits) Gilt dies auch für vor dem 1.1.1999 geschlossene Verträge Hintergrund dieser Frage: der 9. Senat hatte – anders als der 11. Senat – Ehegattenbürgschaften zugelassen, wenn sich die Bank dadurch wirksam von Vermögens- und Einkommensverschiebungen schützen wollte oder wenn der bürgende Ehegatte begründete Aussicht auf einen nennenswerte Erbschaft hatte. 9. Senat hat die Entscheidung NJW 1998, 58 hieraus die Konsequenz gezogen, dass sich Banken auf diese Voraussetzungen durch entsprechen Verträge einstellen können und deshalb ab 1.1.1999 Ehegattenbürgschaften nur noch anerkannt werden sollen, wenn die Umstände (die Bürgschaft rechtfertigen können) ausdrücklich im Vertrag zur Wirksamkeitsvoraussetzung erhoben werden, um die Verpflichtung der Ehegattenbürgen von vorneherein auf diese Ausnahmefälle zu begrenzen. 11.Senat fragt nun, ob dies nur für Neuverträge (ab 1.1.1999) oder auch für Altverträge gilt. 2. Ist eine Bürgschaft oder Mithaftungsübernahme bei krasser finanzieller Überforderung auch ohne Hinzutreten besonders belastender Umstände grundsätzlich sittenwidrig und daher nichtig? Liegt eine solche krasse finanzielle Überforderung vor, wenn der Bürge oder Mithaftende bei Übernahme der Verpflichtung voraussichtlich allein nicht in der Lage sein wird, auch nur die vertraglich vereinbarten Zinsen zu entrichten? Hintergrund dieser Fragen: Unterschiedliche Standpunkte des 9. und des 11. Senates, wann eine krasse finanzielle Überforderung vorliegt PD Dr. Roland Michael Beckmann Wintersemester 1999/2000 Repetitorium im Privatrecht 9. Senat, wenn Bürge/Mithaftender innerhalb von 5 Jahren – gerechnet ab Fälligkeit der Bürgschaftsforderung – nicht in der Lage sein wird, ein Viertel der Hauptsumme aus pfändbarem Einkommen zu zahlen (MDR 99, 757) 11. Senat, wenn Bürge/Mithaftender bei Abgabe seiner Erklärung mit eigenen Mitteln auf absehbare Zeit keine nennenswerten Tilgungsleistungen erbringen und nicht einmal die vertragl. vereinbarten Zinsen bezahlen könnte. 3. Stellt es grundsätzlich einen angemessenen Interessenausgleich dar, wenn der finanziell krass überforderte Bürge oder Mithaftende aus dem Kredit mittelbare Vorteile erlangt, oder sind nur unmittelbare Vorteile zu berücksichtigen? Hintergrund der 3. Frage: kein Eigeninteresse des Bürgen/Mithaftenden ist erforderlich, um eine krasse finanzielle Überforderung abzulehnen. 11. Senat: zu berücksichtigen nur unmittelbare Vorteile (quasi Ehegatten gemeinsame Darlehnsnehmer) 9. Senat hat mittelbare Vorteile ausreichen lassen (etwa Erwartung an höhere Unterhaltsleistungen) Aktuelle Rechtsprechungshinweise zur Sittenwidrigkeit einer Ehegattenbürgschaft: BGH NJW 1999, 58 mit Anmerkungen von Emmerich JuS 1999, 294; Tiedtke, NJW 1999, 1209; BGH NJW 1999, 135; BGH NJW 1999, 2584 (Vorlage zum Großen Senat) mit Anmerkungen von Hahn, MDR 1999, 1211; Luttermann, EWiR 1999, 737. Anhang 2: Fallgruppen zu § 138 I BGB I. Sittenwidriges Verhalten gegenüber dem Geschäftspartner 1. Sittenwidrige (Raten-)Kreditverträge bei Nichtvorliegen des spez. Wuchertatbestands des § 138 II BGB (z.B. mangels Vorliegens des subjektiven Tatbestands) Vorauss.: Missverhältnis zw. Leistung u. Gegenleistung sowie bewusstes Ausnutzen einer schwächeren Lage d. Kreditnehmers durch d. Kreditgeber oder leichtfertiges Verschließen der Erkenntnis, dass d. Kreditnehmer sich nur wg. seiner schwächeren Lage auf die drückenden Bedingungen einlässt (BGH NJW 1995, 1020). zur Beurteilung des Missverhältnisses: Grundsätze wie bei § 138 II BGB für subj. Tb.: d.M. lässt aus dem obj. Tatbestand – also aus dem auffälligen Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung – auf die Erfüllung des subj. Tatbestandes schließen 2. Andere wucherähnliche Rechtsgeschäfte Vorauss.: auffälliges Mißverhältnis (z.B. Übersteigung von Wert der Gegenleistung und tatsächlichen Wertes der Leistung um 200 %, BGH NJW-RR 1990, 1199) und verwerfl. Gesinnung des sittenwidrig Handelnden 3. Überforderung des Schuldners (vgl. vorgehenden Fall) 4. Knebelungsverträge Verträge, die die wirtschaftl. Freiheit des anderen Teil so sehr beschränken, dass dieser die freie Selbstbestimmung verliert (Beispiel: Bierlieferungsvertrag über die Dauer von 20 Jahre, BGH NJW 1979, 865) 5. Wettbewerbsverbot. II. Sittenwidriges Verhalten gegenüber der Allgemeinheit oder gegenüber Dritten 1. Verstöße gegen die Gemeinschaftsordnung 2. Verstöße gegen die Ehe- und Familienordnung PD Dr. Roland Michael Beckmann Wintersemester 1999/2000 Repetitorium im Privatrecht (Beispiel: Scheinehe) 3. Schädigung Dritter (Beispiel: Kollision eines verlängerten Eigentumsvorbehaltes mit einer Globalzession) PD Dr. Roland Michael Beckmann Wintersemester 1999/2000 Repetitorium im Privatrecht