000-000 FA_Iusplus_03

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000-000 FA_Iusplus_03
Dr. iur. Rudolf Ratzel
Rechtsanwalt
Kurfürstendamm 184
D-10707 Berlin
■ Hohes Schmerzensgeld
nach schwerem
Geburtsschaden
Die Neigung deutscher Gerichte, bei
schweren Geburtsschäden deutlich
höhere Schmerzensgeldbeträge als
früher auszuurteilen, ist unverkennbar. Dies zeigt eine aktuelle Entscheidung des Landgerichts München
I vom 10.3.2003 (Az.: 9 0 6490/96),
die im Übrigen exemplarisch für die
eng vernetzten Haftungsbeziehungen
zwischen den im Rahmen einer Geburt handelnden Personen ist.
Die Mutter des geschädigten Kindes
war nach neunmonatiger komplikationsloser Schwangerschaft Anfang
Februar 1992 um 0.40 Uhr als Erstgebärende in einer Frauenklinik aufgenommen worden. Während der
Schwangerschaft wurde sie von einem Frauenarzt betreut, der an dieser Klinik auch belegärztlich tätig
war. Nach der Aufnahme übernahm
zunächst die für die Klinik tätige
Hebamme die Überwachung. Das Aufnahme-CTG zeigte bis 1.20 Uhr eine
normale fetale Herzfrequenzkurve
mit einer Basalfrequenz von 140
Schlägen/Minute. Die Hebamme
stellte eine Schädellage fest, der
Muttermund war 4 cm weit eröffnet
und die Fruchtblase noch erhalten.
Nach Einlauf und Bad hatte sich der
Muttermund bei erneuter Untersu-
Gegen 3.05 Uhr musste die Frau erbrechen, gleichzeitig trat eine späte
(nach der Wehenspitze einsetzende)
Dezeleration auf. Wegen Lagewechsel
und Versorgung der Gebärenden wurde die CTG-Kontrolle kurz unterbrochen. Danach lag die Basalfrequenz
weder im oberen Normbereich bzw.
war leicht tachykard. Nach dem von
der Hebamme durchgeführten Blasensprung um 3.50 Uhr dezelerierte
die Herzfrequenzkurve über 11/2 Minuten; das austretende Fruchtwasser
war grün, der Muttermund 7–8 cm geöffnet. In der Folgezeit zeigte das CTG
zeitweise einen saltatorischen Oszillationstyp sowie vereinzelt frühe Dezelerationen bei einer leicht tachykarden Basalfrequenz. Um 5.05 Uhr
und 5.25 Uhr traten wiederum 2–3
Minuten anhaltende späte, dazwischen mehrere frühe Dezelerationen
auf. Bei der vaginalen Untersuchung
um 5.30 Uhr war der Muttermund bis
auf einen Saum vollständig, der Kopf
selbst auf dem Beckeneingang. Die
Pfeilnaht stand unverändert steil im
ersten schrägen Durchmesser und war
nach links abgewichen.
Erst zu diesem Zeitpunkt wurde der
auswärtige Belegarzt telefonisch
über die Anwesenheit der Mutter in
der Klinik und den bisherigen Geburtsverlauf benachrichtigt; er ordnete in dem Telefonat die Abgabe der
Geburtsleitung an die Klinik bzw. die
dort tätigen Ärzte an. Im CTG waren
weiterhin sowohl kurzzeitige als auch
prolongierte Dezelerationen zu erkennen. Um 6.15 Uhr übergab die
bislang tätige Hebamme die Betreuung an eine andere Hebamme. Diese
benachrichtigte nach zwei schweren
Dezelerationen über 2–3 Minuten
eine für die Klinik tätige Assistenzärztin um 6.30 Uhr. Diese war bereits
Fachärztin. Die Basalfrequenz lag zu
diesem Zeitpunkt wieder zwischen
150 und 180 Schlägen/Minute mit
eingeengtem Oszillationstyp. Bei
mittelkräftigen, aber alle 2–3 Minuten auftretenden Wehen kam es bei
fast jeder Wehe zu Dezelerationen.
Nach einer vaginalen Untersuchung
durch die Assistenzärztin trat um
7.03 Uhr erneut eine prolongierte
schwere Dezeleration auf, die sich
trotz Sauerstoffgabe sowie Gabe von
Partusisten und Beckenhochlagerung
wiederholte.
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chung um 2.45 Uhr auf 7 cm erweitert. Der kindliche Kopf stand fest
im Beckeneingang, die Wehen waren
kräftig alle 2–3 Minuten. Die wieder
aufgenommene CTG-Überwachung ergab eine grenzwertige, streckenweise
auch leicht tachykarde Basalfrequenz
von 160–170 Schlägen/Minute bei
eingeengtem Kurvenverlauf; sporadisch traten einzelne frühe Dezelerationen auf.
Die Gynäkologin ordnete um 7.25 Uhr
erneut die Gabe von Partusisten sowie die Forcierung der Geburt durch
den Kristellerschen Handgriff an.
Ein Erfolg stellte sich nicht ein. Um
7.28 Uhr wurde deshalb ein Wehentropf angeordnet. Zwischen 7.28 Uhr
und 7.33 Uhr lag die Herzfrequenz
zwischen 120 und 140 Schlägen/
Minute, dann wurde die Herzaktion
wieder tachykard. Nach nochmaligem
Pressversuch und Erhöhung der
Wehentropf-Dosierung kam es um
7.38 Uhr zu einer persistierenden
schweren fetalen Bradykardie, sodass
um 7.40 Uhr der Entschluss zur operativen Geburtsbeendigung mittels
Vakuumextraktion gefasst wurde. Um
7.48 Uhr wurde das Kind geboren.
Der Nabelschur-pH-Wert war mit 6,74
hochgradig pathologisch. Das Kind
leidet unter erheblichen Dauerschäden. Es liegt eine spastische Tetraparese sowie eine zentrale Sehstörung vor, aufgrund derer es seine Umgebung nicht wahrnehmen kann.
Das Landgericht verurteilte den Klinikträger, die bis um 6.15 Uhr tätige
Hebamme sowie die ab 6.30 Uhr hinzugezogene Gynäkologin zur Zahlung
eines hohen Schmerzensgeldes. Unter Berücksichtigung einer bereits
vorgerichtlich gezahlten Summe hielt
das Landgericht ein Schmerzensgeld
in Höhe von insgesamt 350.000 €
für gerechtfertigt. Klinikträger, Hebamme und Gynäkologin sowie der
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auswärtige Belegarzt haften darüber
hinaus für den Ersatz des materiellen
Schadens. Bezüglich der Hebamme
und der Gynäkologin ging das Landgericht von einem groben Behandlungsfehler aus. Die Hebamme hätte
bereits gegen 3 Uhr, spätestens jedoch nach dem Blasensprung um
3.50 Uhr entweder die diensthabende Ärztin oder den auswärtigen Belegarzt benachrichtigen müssen. Es
sei schlicht unverständlich, dass die
Hebamme die Benachrichtigung der
Ärzte so lange hinausgezögert habe.
Die Gynäkologin müsse sich vorhalten lassen, dass sie nach ihrer Hinzuziehung nicht sofort eine Kaiserschnittentbindung veranlasst habe.
Zumindest hätte eine sofortige Fetalblutanalyse erfolgen müssen, um
die aktuelle Situation hinsichtlich
der Sauerstoffmangelversorgung zu
klären. Die Klinik müsse sich das Verhalten ihres medizinischen Personals
über § 831 BGB zurechnen lassen
(Haftung für Verrichtungsgehilfen),
auch wenn nicht von einem Organisationsverschulden auszugehen sei.
Eine Exkulpation über § 831 Abs. 1
Satz 2 BGB (sorgfältige Auswahl und
Überwachung) konnte der Klinik
nicht gelingen, weil es sich um
grobe Behandlungsfehler gehandelt
habe. Der auswärtige Belegarzt haftete schließlich nach Vertragsgrundsätzen ohne Exkulpationsmöglichkeit, weil das eingesetzte Personal
und damit auch dessen Fehler nach
Vertragsgrundsätzen ihm als Erfüllungsgehilfen zugerechnet wurde.
Alles in allem ein tragischer Fall, der
wieder einmal deutlich macht, wie
wichtig die enge fachliche und zeitliche Interaktion zwischen Hebamme
und Gynäkologie in der Praxis ist.
Dies meint jedenfalls
Ihr
Dr. Rudolf Ratzel
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Keine erkennbare Alternative zum IGeL-Prinzip
Kommentar zum Leserbrief „IGeLn um jeden Preis ist kurzsichtig!“ von Dr. Friedrich-G. Haag, FRAUENARZT 5/2003, S. 483
Gerda Enderer-Steinfort
Wenn eine Praxis ihren Schutzbefohlenen den Eindruck eines „IGeLns um
jeden Preis“ vermittelt, dann stimmt
die Atmosphäre nicht. In einem solchen Fall lässt sich der Praxisinhaber
mit Sicherheit von unangemessener
Panik leiten, deren Überwindung offensichtlich nur mittels Nötigung,
Verweigerung und Verprellung gelingt. Anders lässt sich das im Leserbrief von Herrn Dr. Haag beschriebene Szenario (Untersuchung nur gegen
„Cash“) nicht erklären. Es verstößt
gegen jede „IGeL-Etikette“.
Nach wie vor scheint bei vielen Kollegen noch nicht angekommen zu
sein, dass zwischen dem coolen Kaufmann und dem selbstlosen Heiler und
Helfer der Typ des sachverständigen,
freundlichen Arztes steht, der bereit
und in der Lage ist, einen Teil seiner
Patientinnen am gemeinsamen Konflikt des Ressourcenmangels zu beteiligen und ihnen sinnvolle Leistungen anzubieten, die er nicht mehr
routinemäßig allen zum Nulltarif geben kann und möchte und die er andererseits nicht zu Lasten der Kollegen auf Chipkarte erbringen darf.
Diesen Konflikt können wir nicht einfach unter den Teppich kehren! Natürlich kann mit windigen Diagnosen
alles und jedes irgendwie abgerechnet werden. Das hilft uns und unseren Patientinnen auf Dauer aber
nicht weiter! Man kann Fachliches
und Ökonomisches nicht mehr getrennt voneinander betrachten. Dies
wird zwar von uns erwartet, aber es
ist eine einzige Falle.
Die Tatsache, dass die meisten Patientinnen in einer offenen und ent-
spannten Atmosphäre selbstverständlich bereit sind, ihren Teil zu einer angemessenen Diagnostik beizutragen,
wenn vonseiten der Kassen ihre Beiträge ständig zweckentfremdet werden, ist gesundheitspolitisch viel
wichtiger als die mögliche Einführung
eines vaginalsonographischen Screenings zum erwarteten Wert von vielleicht 10 €.
Wir sind übrigens deshalb in den zweifelhaften Genuss eines Primärarztstatus gekommen, weil niemand daran
zweifelt, dass für die meisten Patientinnen der Frauenarzt naturgemäß der
erste Ansprechpartner in allen frauenspezifischen Belangen ist und es für
die nächsten Jahre auch bleiben wird.
Insofern ist jede Angst, die Patientin
könnte mit ihren Problemen zum Allgemeinarzt gehen, völlig unberechtigt.
Man kann nur hoffen, dass sich hinter dem Plädoyer des Kollegen Haag
für ein routinemäßiges Vaginal-Scanning (zu wessen Lasten?) nicht die
alte ärztliche Furcht vor freiberuflicher Konfliktbewältigung verbirgt.
Autorin
Dr. Gerda Enderer-Steinfort
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