Mädchen aus fremden Kulturkreisen

Transcription

Mädchen aus fremden Kulturkreisen
FORTBILDUNG + KONGRESS
MÄDCHEN-SPRECHSTUNDE
Mädchen aus fremden Kulturkreisen
Christine Klapp
Mädchen mit Migrationshintergrund sind oftmals in einer
schwierigen Situation „zwischen den Kulturen“, wenn es um
Fragen der Sexualität geht. Vor allem traditionell streng erzogene türkische Mädchen sind dabei oft in tiefem Zwiespalt: Der
Respekt gegenüber den Eltern verbietet vielen das Thematisieren von Fragen zur Sexualität. Somit findet Aufklärung in der
Familie wesentlich seltener statt. Heimatsprachliche Medien zu
diesem Thema sind kaum verfügbar und der Zugang zum Frauenarzt ist den Mädchen bislang häufig aus falscher Vorstellung
über den Grund für und den Ablauf von solchen Konsultationen
verwehrt. So liegt der Wissensstand meist noch deutlich unter
dem deutscher Mädchen. Wie lässt sich diese Zielgruppe am
besten erreichen?
Die Fakten sprechen eine deutliche
Sprache: In Deutschland leben derzeit
9% Ausländer und 10% Menschen mit
Migrationshintergrund. In absoluten
Zahlen bedeutet dies: 7,5 Millionen
Migranten und deren Nachkommen.
Die stärkste Fraktion sind hierbei Migranten mit türkischer Herkunft. Sie
machen etwa ein Viertel aus, d.h. es
leben derzeit etwa 2 Millionen türkische Migranten in Deutschland, davon
160.000 in Berlin (1).
Da die Bereitschaft, Kinder zu bekommen, in diesen Familien insgesamt immer noch deutlich höher ist
als in deutschen Familien, hat dies
Auswirkungen auf die Zusammensetzung der jüngeren Bevölkerung. So
machen Jugendliche mit Migrationshintergrund ein Drittel der jugendlichen Population Deutschlands aus.
In den Stadtstaaten kommen sie
bei den unter 25-Jährigen
auf 27,2%,
bei den unter 15-Jährigen
auf bis zu 40 % und
bei den unter 2-Jährigen
auf 50% (Berlin) (2, 3).
Dementsprechend verändert sich
auch unsere Klientel in der Sprechstunde.
Wenn wir den Bedürfnissen dieser jungen Patientinnen gerecht werden wol-
326
FRAUENARZT 49 (2008) Nr. 4
len, besteht also im wahrsten Sinn des
Wortes die Not-Wendigkeit, um besondere kulturelle Entwicklungen und Gegebenheiten zu wissen, sie weitestgehend zu respektieren und ein gewisses
Verständnis zu entwickeln.
Ein täglicher Balanceakt
für die Jugendlichen
Zwar erscheint die „Akkulturation“,
von außen betrachtet, besonders in
der zweiten und dritten Migranten-Generation oft schon weit fortgeschritten, doch entstehen gerade für erstere besondere Konflikte mit einem traditionellen Elternhaus. So erfordert
die „kulturelle Doppelerziehung“ von
den Jugendlichen einen beinahe täglichen Balanceakt vor allem bezüglich
der Geschlechterrollen, der generativen Beziehungen und der Beziehungen außerhalb der Familie (4).
Migrations-Situation stellt
hohe Anforderungen
Die Handlungsanforderungen außerhalb der Familie stehen oft im krassen Widerspruch zu denen im Elternhaus. Es gibt Ängste bei den Eltern,
die Kinder zu verlieren und im Alter
allein zu sein. Dies scheint sich durch
die Tatsache zu verschärfen, dass Eltern zwar eine wichtige emotionale
Rolle für die Heranwachsenden spielen, aber als Gesprächspartner in der
Migrationssituation zunehmend Kompetenz verlieren. Durch Verstärkung
des traditionelleren, autoritären Erziehungsstils versuchen die Eltern,
dies zu kompensieren. Da die Loslösung der Kernfamilie aus dem Sippenverband und auch die sprachliche
Überlegenheit der Kinder die (väterliche) Autorität gefährden, wird oft
strenger reagiert, als es im Herkunftsland üblich wäre (4, 5).
Und auch die jungen Menschen selbst
suchen Kompensation: Studien zur
Religiosität ergeben, dass jugendliche Muslime auf der Suche nach authentischer Lebensführung in der
Moderne offenbar bewusst auf den
Islam zurückgreifen. Die betonte Zugehörigkeit zum Islam ermöglicht es
ihnen, in einem gemeinsamen Erlebnisbereich mit den Eltern zu bleiben,
und die beibehaltene gemeinsame
Sprache bedeutet für sie und die Eltern Trost und Erinnerung.
Besonderheiten in der gynäkologischen Versorgung
Borde, David und Kentenich (6) haben für in der Klinik behandelte türkische Frauen ermittelt: Sie nutzen
häufiger die gynäkologische Notfallambulanz und früh eine Sterilitätstherapie. Außerdem sind die soziodemographischen Unterschiede zu
deutschen Patientinnen von einiger
Relevanz, z.B. sind bei türkischen
stationären Patientinnen in Berlin
34% Hausfrau (gegenüber 9%
bei Deutschen),
43% Arbeiterin (gegenüber 12%
bei Deutschen) und
6% Angestellte (gegenüber 63%
bei Deutschen).
Das bedeutet, dass das Gros der türkischen Patientinnen – und das trifft
auch auf Migrantinnen einiger ande-
türkische Mädchen mit streng muslimischem, vom Vater dominiertem
Elternhaus, im Konflikt zwischen
heimatlichen und deutschen Normen.
„Die Migrantin“ gibt es nicht
Auch wenn dies nicht so häufig zutrifft, leben doch viele Migrantinnen
in einer fest gefügten „Community“
mit entsprechend gut funktionierenden Kontrollmechanismen:
Verpflanzung der Dorfstruktur in
die Großstadt,
Ghettoisierung,
jeder kennt jeden, jeder fühlt
sich für jeden verantwortlich,
gegenseitige Kontrolle der Kinder,
kaum Gelegenheit, etwas zu
„erleben“.
Dies bedeutet jedoch auch: Die feste Gemeinschaft gibt Halt, es wird
gemeinsam gefeiert, untereinander
geheiratet.
Migrantinnen, wie wir sie in unseren Praxen und Kliniken treffen, sind
keinesfalls eine homogene Gruppe.
Zum einen bestehen große Unterschiede interkulturell, d.h. zwischen
den Herkunftsländern (Türkei, ehemaliges Jugoslawien, Italien, Griechenland, Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion, Migrantinnen
aus afrikanischen Ländern etc.),
zum anderen aber auch intrakulturell, d.h. innerhalb der jeweiligen
Kultur: ob die Familie aus der Stadt
oder dörflichen Strukturen kommt,
wie der Bildungsstand ist, und natürlich auch bezüglich ihrer Religion – und selbst hier gibt es erhebliche Unterschiede, je nachdem, ob
eine streng konservative oder eine
liberalere Auffassung gelebt wird.
Doch greifen wir nicht selten auf ein
Stereotyp zurück: Die „junge Migrantin“ wird allzu oft gesehen als das
Zu wenig Aufklärung
zum Thema Sexualität
Eine Befragung zum Thema Sexualität ist bei dieser Zielgruppe besonders schwierig. Daher bestehen besonders zu jungen Mädchen Forschungslücken. Üblicherweise wer-
den Mädchen fern gehalten vom
männlichen Geschlecht, somit fehlen
Erfahrungen, und wenn sie Erfahrung
haben, sind sie wegen des strengen
Verbots kaum bereit, darüber Auskunft zu geben. So greifen wir klischeehaft verallgemeinernd – im
Rahmen subjektiver Wahrnehmung –
oft auf unsere einseitigen negativen
Erfahrungen zurück (7).
Relativ gut erforscht ist inzwischen
das Wissen erwachsener Frauen über
Körperfunktionen. Oftmals sehr lückenhaft sind Kenntnisse über Sexualität, den Körper, das andere Geschlecht, dessen Wünsche, Probleme,
Selbstbefriedigung, Zeugung, Verhütungsmethoden, HIV/AIDS und andere Krankheiten und ihre Schutzmöglichkeiten. Bei den türkischen Frauen haben 30%, bei den deutschen
62% „mittlere Kenntnisse“. Keine
Antwort zu den Themen wussten 30%
der türkischen und 10% der deutschen Frauen. Die Kenntnisse der
zweiten Generation sind „einigermaßen gut“. Hier sind die deutschen Begriffe für Geschlechtsorgane eher bekannt als die türkischen. Das Wissen
steigt mit deutschen Sprachkenntnissen und dem Bildungsgrad deutlich
(8). Doch findet in vielen Migrantenfamilien nach wie vor zu wenig Aufklärung statt.
FORTBILDUNG + KONGRESS
rer (meist nichteuropäischer) Nationalitäten zu – zur so genannten „bildungsfernen“ Schicht gehören. Die
Arbeitslosigkeit ist doppelt so hoch
wie bei Deutschen.
Über das Thema Sexualität wird in
Migrantenfamilien je nach Herkunft
sehr unterschiedlich häufig gesprochen:
italienisch: 62%,
griechisch/jugoslawisch: 33%,
türkisch: 8%.
Bei türkischstämmigen Familien ist
die Aufklärung durch Eltern unüblich
aus Scham und Respekt der Jüngeren
gegenüber den Älteren (7). Selbst
Fachkolleginnen türkischer Abstammung, die in Deutschland zur Schule
gegangen sind und studiert haben,
berichten von diesem starken Tabu.
Mehr noch als bei deutschen Mädchen fehlt oft Wissen zu physiologischen Abläufen.
Was bedeutet dies für die MädchenSprechstunde? Die wichtigsten Quellen für die Sexualaufklärung sind
die ältere Schwester,
FRAUENARZT 49 (2008) Nr. 4
327
FORTBILDUNG + KONGRESS
der Freund,
die Medien,
der Lehrer/die Lehrerin.
Für die meisten jugendlichen Migrantinnen ist (bis jetzt) die Frauenärztin/der Frauenarzt unwichtig, weil man
eigentlich (besonders als muslimisches
Mädchen) nicht hingeht. Wenn man
aber hingeht, kommt ihrer/seiner Beratung große Bedeutung zu!
Unsere Erfahrungen in der
„Arztstunde“ zur gynäkologischen Prävention in Schulen
Junge Migrantinnen wissen meist
nicht, dass sie zwischen den Beinen
drei Öffnungen haben, sondern fantasieren eine Art „Kloake“. Sie wissen meist auch nicht, wozu es die
Regel gibt und woher das Blut
kommt. Insgesamt kennen sie die
Zusammenhänge zwischen Zyklus
und Fruchtbarkeit noch weniger als
deutsche Mädchen und haben kaum
korrektes Wissen zur Verhütung von
Schwangerschaft und sexuell übertragbaren Infektionen.
Unter den Mädchen kursieren auch
eine Menge Mythen und Legenden.
Hier eine Auswahl:
Die Pille macht (dauerhaft)
unfruchtbar.
Tampons und manchmal auch
Sport verletzen den Hymen.
Man kann vielleicht doch durch
Küssen schwanger werden.
Die menstruierende Frau ist „unrein“, das Menstrualblut macht
Männer krank und ist schmutzig.
Beim Sex kann der Mann „aufpassen“ und damit verhüten.
Der Hymen muss beim ersten Geschlechtsverkehr bluten und man
kann unterscheiden, ob das Blut
vom Hymen oder woanders her
kommt.
Fallbeispiel: Ayse, 14 Jahre
Die 14-Jährige kommt nachmittags
mit ihrer Freundin in die Mädchensprechstunde. Drei Wochen zuvor
war sie zu einem Projekttag mit der
Klasse in der Praxis und hat sich
deshalb getraut zu kommen. Sie
habe mit ihrem kleinen Bruder
(6 Jahre) im Bett gekuschelt, der
habe auch schon öfter nachts,
wenn er schlecht geträumt hatte,
bei ihr weiter geschlafen, und nun
ist sie nicht sicher, ob sie davon
schwanger werden könnte.
Auch gebildete, erwachsene Frauen
berichten von solchen Unsicherheiten und Befürchtungen: Frau C., eine 30-jährige Biologielehrerin an einer Hauptschule, streng gläubige und
konservativ erzogene Muslima aus einer Familie, die seit drei Generationen in Deutschland lebt, dachte mit
Anfang 20 jedes Mal, wenn sie ein
paar Kilo zugenommen hatte, sie
könne schwanger sein – ohne einen
Mann berührt zu haben.
Für viele ein zentrales
Thema: die Virginität
Das häufigste Thema bei Beratungsbedarf in der Schule, in Beratungsstellen und in der Mädchen-Sprechstunde bei Migrantinnen ist das magische Stückchen Haut, das für die
meisten Muslime die Virginität – als
wichtigstes Element von Weiblichkeit und Zeichen eines ehrenhaften
Lebenswandels – darstellt. Die Ehre
der Familie ist einer der höchsten
Werte – Frauen sind die Träger dieser Ehre, Männer die Wahrer. Die Ehre des Mannes hängt somit davon
ab, ob er seine Aufgaben erfüllt:
Seine Familie zu ernähren und vor
Angriffen auf ihre Ehre zu schützen.
Männer sind verantwortlich für Frauen – Väter für die Töchter, Brüder für
die Schwestern.
Alles zum Hymen – wo er liegt, wie
er aussieht, woraus er besteht, Art,
Konsistenz, Verletzungsmöglichkeiten, Reparabilität usw. – wird erfragt.
Die Fantasie sieht darin fast immer
eine Art „Verschlussteil“ der Scheide
nach außen.
Virginität ist für viele Mädchen aus Migrantenfamilien außerordentlich wichtig. Doch die
damit verbundenen Vorstellungen sind oft sehr vage.
328
FRAUENARZT 49 (2008) Nr. 4
Auch der schulische Biologie-Unterricht kann dieses Bild selten korrigieren. Erst einer Ärztin/einem Arzt
wird schließlich die einfache Erklärung geglaubt, dass er eine Öffnung
hat, da ja sonst die Regel gar nicht
nach außen könnte. Dem ging voraus, dass die Mädchen die physiologischen Vorgänge erstmals auf positive Weise erläutert bekamen und
verstanden haben, woher die Blutung kommt und wofür sie da ist.
Fallbeispiel: Semra, 19 Jahre
Die 19-jährige Semra kommt mit
Mann und Schwiegermutter zwei
Tage nach der Hochzeit, weil es
„nicht geblutet hat“. Die Frauenärztin lobt den Ehemann für die Bereitschaft, sie in die Praxis zu begleiten. Besonders aber hebt sie
sein rücksichtsvolles und vorsichtiges Vorgehen hervor, das Semra
eine Verletzungsblutung erspart
hat und damit das erste Miteinander-Schlafen für sie keine so unangenehme Erinnerung bleibt.
(Kling-Mondon, 9)
Es lastet ein ungeheurer Druck auf
solchen Mädchen und jungen Frauen,
denn nur 15% der befragten türkischen Jungen würden eine Nicht-Virgo als Ehefrau akzeptieren. Tatsächlich sind 70% bei der Heirat Virgines,
von den 30%, die vorehelichen Geschlechtsverkehr hatten, hat ein
Drittel eine operative Wiederherstellung hinter sich (10, 11).
Häufigkeit und Gründe für
die Frauenarzt-Konsultation
Boos-Nüning und Karakasoglu (7)
fanden bei den befragten 14- bis 19jährigen Migrantinnen je nach Abstammung deutliche Unterschiede
beim regelmäßigen Frauenarztbesuch:
griechische Abstammung: 42%,
Aussiedlerinnen: 39%,
jugoslawische Abstammung: 36%,
italienische Abstammung: 35%,
türkische Abstammung: 14%.
Wenn die Mädchen in die übliche
Sprechstunde kommen, dann fast ausschließlich in Begleitung der Mutter
und oft nach längerer Symptomatik.
Hauptgründe für die Facharzt-Konsultation sind:
Blutungsstörungen,
Fluor, Hygienefragen,
(unklare Unterbauch-)Schmerzen,
Hormonstörungen (Amenorrhoe,
PCOS usw.),
Abklärung der Virginität,
Verhütung oder Kinderwunsch/
fragliche Sterilität erst vor Eheschließung.
Hauptgründe für die Vermeidung sind:
Scham und Angst vor der vaginalen Untersuchung,
die Überzeugung, dass nur verheiratete Frauen zum Frauenarzt
gehen,
die Überzeugung, dass eine Frau,
die zum Frauenarzt geht, schon
Geschlechtsverkehr hatte und
sich damit „outet“,
Ängste, der Nachbarin zu begegnen.
Wenn Mädchen allein kommen, sind
es deshalb bisher nicht selten „Notfall-Situationen“:
Fallbeispiel: Arzu, 16 Jahre
Die eingebürgerte Türkin mit verdrängter/verheimlichter Schwangerschaft nach Vergewaltigung
kommt in der 25. SSW nach Suizidversuch und „Entdeckung“ durch
die Mutter erstmals zum Facharzt.
Mutter und Tochter sind in Todesangst vor dem Vater bzw. Bruder,
erwarten von der Klinik in der 29.
SSW die Sectio und Freigabe zur
Adoption. Das Mädchen sieht deutlich schwanger aus, doch der Vater
scheint bis zur ihm verheimlichten
Geburt in der 35. SSW (Sectio bei
IUGR und vorzeitiger Plazentalösung) mit der Vorstellung eines
„Tumors“, der dann operiert werden musste, zufrieden zu sein.
Offenbar musste er nicht handeln,
solange er nichts merken musste.
Eine längere ambulante Psychotherapie konnte das Mädchen auffangen und stabilisieren.
Besonderheiten der
Arzt-Patientin-Beziehung
Fallbeispiel: Hatice, 17 Jahre
Die 17-jährige Hatice hat heimlich
einen (deutschen) Freund, mit dem
sie auch schlafen möchte. Sie
braucht sichere Verhütung und will
die Pille. Die kann sie allerdings
nicht mit nach Hause nehmen, weil
der Vater u.a. alle Taschen kontrolliert. Sie hat vor, die Pille beim
Freund zu „deponieren“.
Wie dieses Beispiel zeigt, sind bei der
Kommunikation mit jungen Migrantinnen in der Praxis einige Besonderheiten zu berücksichtigen:
Aufklärungsmaterial oder gar die
Pille dürfen manchmal nicht zu
Hause entdeckt werden.
Es bestehen eine positive Einschätzung und hohe Erwartungen
an das deutsche Gesundheitswesen, besonders im Krankenhaus.
Die Anamnese wird signifikant
kürzer gehalten (Verständigungsprobleme und vorgefasste Meinungen).
Die Informationen über Dienste
und Angebote sind ungenügend.
Kulturelle und sprachbedingte
Barrieren erschweren die Kommunikation.
Dem Personal fehlt die transkulturelle Kompetenz (Einfühlungsvermögen, Selbstreflexion, Wissen).
FORTBILDUNG + KONGRESS
Fallbeispiel: Serpil, 16 Jahre
Die 16-jährige Serpil wird von ihrer
Mutter gebracht, weil sie von Nachbarn gesehen wurde, wie sie am
Nachmittag mit Jungen auf der
Straße stand. Die Mutter fürchtet,
dass sie Sex hatte und verlangt
die Untersuchung des Hymen. Die
türkische Arzthelferin ist bei der
Untersuchung dabei und berichtet
der Familie nachher genau, wie die
Ärztin bei Serpil mit dem Wattestäbchen entlang dem offenbar
unverletzten Hymen fuhr.
Zugangswege zum Frauenarzt
öffnen
Da junge Migrantinnen oft wenig
über das Angebots-Spektrum am jeweiligen Wohnort wissen, sind sie
auch nicht in der Lage, dieses zu nutzen.
Streng erzogene muslimische Mädchen werden deshalb wohl kaum von
sich aus in die Sprechstunde und
vielleicht zunächst auch nicht in eine Mädchen-Sprechstunde kommen.
Sie sind am ehesten im Rahmen eines Schulprojekts einzuladen – in
Praxis oder Klinik. Gut erreichbar
sind einige über „Mädchentreffs“
FRAUENARZT 49 (2008) Nr. 4
329
FORTBILDUNG + KONGRESS
oder wenn Ärztinnen (wie die ÄGGFKolleginnen) in Schulen regelmäßig
entwicklungsbegleitend aufklären
und so die Schwelle zum niedergelassenen Frauenarzt senken helfen.
Viel versprechend ist auch, die Mütter über die Mädchen-Sprechstunde
zu informieren, wenn diese in die
Praxis zur Untersuchung kommen.
Kompetenz kommt die Mutter mit der
Tochter oft doch ins Gespräch.
In unseren Veranstaltungen mit Migranten-Müttern in Frauentreffs wird
die Möglichkeit zur ärztlichen Information meist begeistert in Anspruch
genommen. Über den Zugewinn an
Schon Kleinigkeiten können
das Vertrauensverhältnis
verbessern
Die Untersuchung beim
Frauenarzt/bei der Frauenärztin
Wird immer eine gynäkologische Untersuchung gemacht?
Eine gynäkologische Untersuchung ist wichtig, wenn du Beschwerden hast oder wenn du schon
die Pille nimmst. Voraussetzung ist, dass du mit der Untersuchung einverstanden bist. Bei einem
ersten Termin beim Frauenarzt ist oft keine Untersuchung notwendig.
Das Jungfernhäutchen:
Viele Mädchen machen sich Sorgen, ob bei der gynäkologischen Untersuchung das Jungfernhäutchen verletzt werden könnte: Dies ist ganz sicher nicht der Fall. Frauenärztinnen und
Frauenärzten ist bekannt, dass ein intaktes Jungfernhäutchen für viele Mädchen sehr wichtig
ist und sind deshalb besonders vorsichtig.
Oft wissen Mädchen nicht, was das Jungfernhäutchen überhaupt ist, wo es liegt und wie es aussieht. Jedes Mädchen/
jede Frau hat zwischen den Beinen 3 Öffnungen (von vorn
gesehen):
Kitzler (Klitoris)
Harnröhren Öffnung
1. Öffnung: Harnröhren-Öffnung zum Wasserlassen, 2. Öffnung: Scheideneingang damit das Menstrualblut abfließen
Scheideneingang mit
Jungfernhäutchen
kann, später für Sexualität und zur Geburt eines Babies,
3. Öffnung: Darmausgang.
Darmausgang
(After)
Das Jungfernhäutchen umschließt die 2. /mittlere Öffnung: Den Scheidenein- und –ausgang.
In der (Einzel-)Mädchen-Sprechstunde ist hilfreich:
Respekt und Verständnis,
ein paar Worte auf türkisch/
arabisch etc. (hoş geldiniz,
merhaba),
ausführliche Anamnese,
wenn möglich: Arzthelferin mit
Migrationshintergrund einsetzen,
Anamnesebogen
deutsch/türkisch (Grünenthal)
schon im Wartezimmer ausgeben,
vaginale Untersuchung beim ersten Besuch nur bei unbedingter
Notwendigkeit,
respektieren der besonderen
Schamhaftigkeit (Tuch mit in die
Kabine geben),
ausführlich erklären, dass und
warum der Hymen bei der vaginalen Untersuchung nicht beschädigt wird (z.B. Grünenthal),
Adressen über spezielle Beratungsstellen für türkische oder
arabische Mädchen bereithalten
bzw. im Wartezimmer aushängen,
Mutter/Vertrauensperson zu Beginn und zum Abschlussgespräch
einbeziehen, aber Zeit zum Gespräch mit dem Mädchen allein
einbauen (z.B. erfragen: Erfahrung mit Gewalt?),
türkische Info-Blätter mitgeben.
Es ist eine elastische, oft halbmond- oder ringförmige Hautfalte die eine etwa 1 cm große Öffnung in der Mitte hat und schon vor der Geburt so angelegt ist. Deshalb geht eine gynäkologische Untersuchung – wenn sie doch mal gemacht werden muss – mit kleineren Instrumenten
oder mit dem Finger sogar schon bei kleinen Kindern, ohne dass es weh tut und ohne das
Jungfernhäutchen zu verletzen.
Beim ersten Geschlechtsverkehr kann das Junfernhäutchen einritzen und es kann bluten.
Das geschieht aber nur bei der Hälfte aller Frauen, d.h. bei der anderen Hälfte dehnt sich die
Öffnung, obwohl sie Jungfrauen sind.
Im Notfall
Person des Vertrauens zum Übersetzen bereitstellen;
Zufluchtsmöglichkeiten kennen
und vermitteln:
Verlust sozialer Bindungen
ansprechen;
Nachbetreuung ermöglichen/
vermitteln.
Ausblick
Mit Informationsmaterialien wie denen von Grünenthal lässt sich anschaulich erklären, wie
die Untersuchung beim Frauenarzt vor sich geht und warum die Virginität dadurch nicht in
Gefahr ist. Dieses Infoblatt ist auch in türkischer Sprache erhältlich.
330
FRAUENARZT 49 (2008) Nr. 4
Inzwischen bestehen deutliche Tendenzen zu Selbstständigkeit, zur
Auseinandersetzung mit den tradi-
FORTBILDUNG + KONGRESS
tionellen Vorstellungen der Eltern
und Entwicklung einer „eigenen“
Moderne (12, 13). Und auch die Lebensentwürfe und Zukunftswünsche
der jungen Frauen sind vielfältig und
meist optimistisch: Die meisten sehen in Familienbindung, finanzieller
Unabhängigkeit, Bildungsaufstieg
und Mutterschaft, Gleichberechtigung der Geschlechter und Religiosität keinen Widerspruch. 75% der
jugoslawischen und türkischen Mäd-
chen fühlen sich in Deutschland
wohl und ihre künftige Lebensplanung ist auf Deutschland gerichtet
(7).
Ein Stück „interkulturelle Kompetenz“ auch in der Mädchen-Sprechstunde ist eine wichtige Voraussetzung, damit Mädchen aus anderen
Kulturen sich bei Frauenärztinnen
und -ärzten gut beraten, sicher und
respektiert fühlen und damit deren
Broschüren und Informationsmaterial
Aus dem Angebot an Info-Materialien der Firma Grünenthal:
– Leaflet zur gynäkologischen Untersuchung (deutsch/türkisch)
– Anamnesebogen (deutsch/türkisch)
Zu beziehen über die Mitarbeiter der Grünenthal GmbH oder per Fax 0241569-1112 oder per Mail [email protected].
Landesarbeitsgemeinschaft Mädchenarbeit in NRW:
– Zeitschrift „Betrifft Mädchen“, Ausgabe vom Januar 2007 zum Thema Migration.
Herausgegeben von der Landesarbeitsgemeinschaft Mädchenarbeit in NRW e.V.,
www.maedchenarbeit-nrw.de. Zu bestellen beim Juventa-Verlag, www.juventa.de.
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung:
– Zeitschrift „Forum Sexualaufklärung und Familienplanung“: Ausgabe 3/2007
„Jugend“, Ausgabe 3/2006 „Migration“, Ausgabe 2/1999 „Interkulturell“.
Unter www.bzga.de/ kostenlos zu bestellen bzw. herunterzuladen.
– Broschüre „Verhüten – aber wie?“. Kurzinformationen über Verhütungsmittel
und -methoden für Jugendliche aus osteuropäischen Ländern. 56-seitige
Broschüren, in 3 Sprachen erhältlich (polnisch/deutsch, russisch/deutsch,
rumänisch/deutsch).
Unter www.bzga.de/ Infomaterialien/Bestellung Sexualaufklärung
kostenlos zu bestellen und herunterzuladen.
– Broschüre „HIV-Übertragung und Aids-Gefahr“. 24-seitige Broschüre, in
mehreren Sprachen erhältlich (u.a. türkisch und russisch).
Unter www.bzga.de/ Infomaterialien/Bestellung Aidsaufklärung
kostenlos zu bestellen und herunterzuladen.
332
FRAUENARZT 49 (2008) Nr. 4
Eltern sie uns – nicht nur in Krisensituationen – anvertrauen.
Literatur bei der Autorin
Literatur zum Weiterlesen
Cagliyan M: Sexuelle Normenvorstellungen und Erziehungspraxis
von türkischen Eltern. Interkulturelle Pädagogik Bd.4. LIT-Verlag, Berlin 2006.
Boos-Nüning U, Karakasoglu Y:
Viele Welten leben. Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen
Frauen mit Migrationshintergrund. Waxmann Verlag, Münster
2005.
Akashe-Böhme F: Sexualität und
Körperpraxis im Islam. Brandes &
Apsel Verlag, Frankfurt/Main
2006.
Autorin
Dr. med.
Christine Klapp
Klinik für Geburtsmedizin
Universitätsklinikum Charité
Campus Virchow Klinikum
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin
[email protected]
ÄGGF e.V.
www.aeggf.de