Ein ganz anderes Italien-Erlebnis
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Ein ganz anderes Italien-Erlebnis
Wiener Zeitung del 16.12.03 Turin, Millionenstadt am Po und Zentrum des Piemont, bekämpft ihr Image als Industriemetropole. Ein ganz anderes Italien-Erlebnis von Brigitte Suchan Ein Reiseführer empfiehlt, den Turin-Besuch damit zu beginnen, mit der Zahnradbahn vom Vorort Sassi aus zur Kathedrale Superga hinaufzufahren und Turin von oben zu betrachten. Sehr gute Idee. Denn von hier bekommt man den rechten Eindruck von der imposanten Kulisse, die die Westalpen der Hauptstadt des Piemont geben. Das Piemont liegt – wie der Name schon sagt – zu Füßen der Berge. Hinter Turin wachsen die 4.000er ansatzlos hervor, sind am Ende vieler Ausfallstraßen ständiger Blickfang – vorausgesetzt es ist nicht neblig, was im Herbst leider ziemlich oft vorkommt. Schuld daran ist der Po, der durch die Stadt fließt, sagen die Einheimischen. Gegen solche Tage gibt es die richtige Medizin: „Bicerin“ heißt sie und ist ein belebendes Gebräu aus heißer Schokolade, Kaffee und Schlagobers. Schon immer war die einstige Hauptstadt Italiens innovativ: Im 15. Jahrhundert als technisch-militärisches Zentrum, später Mittelpunkt der Textilindustrie, politische Triebfeder im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts Herzstück der Automobilherstellung. Römische Tore, mittelalterliche Burgen, barocke Schlösser und Wolkenkratzer aus der Mussolini-Zeit sind die nunmehr friedlich nebeneinander existierenden Versatzstücke einer wechselvollen Geschichte. Wer Turin nicht ausschließlich mit Fiat und Fußball verbindet, ist wahrscheinlich schon einmal hier gewesen. Statt Klein-Detroit trifft man auf eine elegante Barockstadt mit vielen außergewöhnlichen Museen, schicken Geschäften unter insgesamt 18 Kilometern Arkaden, 13 historischen Lokalen und noch mehr Kaffeehäusern, in denen dem Vernehmen nach alle wichtigen Entscheidungen die Stadt und die Weltpolitik betreffend vereinbart wurden. Auf der Piazza Carignano befindet sich das „del Cambio“, eines der ältesten Restaurants der Stadt aus dem Jahre 1757. Zwischen roten Samtvorhängen, barocken Spiegeln, vergoldeten Holzverkleidungen und zu nicht ganz moderaten Preisen kann man an jener Stelle dinieren, an der schon der berühmte Staatsmann Cavour typisch piemontesische Gerichte speiste. Untrennbar verbunden mit Turin ist der Agnelli-Konzern Fiat. Fiat wurde 1899 von Giovanni Agnelli gegründet. Der Name ist eine Abkürzung und steht für „Fabbrica Italiana Automobili Torino“, was übersetzt „Italienische Automobilfabrik Turin“ heißt. Die Autos, entwickelt als Luxus-Artikel für eine Konsumer-Elite, wurden sowohl in Italien als auch im Ausland schnell populär. 1917 gab Fiat Gründer Agnelli nach amerikanischem Vorbild ein riesiges Autoproduktionswerk in Turin in Auftrag. Der Lingotto – einen halben Kilometer lang und fünf Stockwerke hoch – wurde mit der legendären Teststrecke am Dach des Gebäudes zum Inbegriff der Fabrik und zur Ikone des Industriezeitalters. Als Fiat Ende der 70er Jahre auszog, drohte dem Lingotto das Schicksal der Industrieruine. 1 Gelungenes Miteinander von Alt und Neu Unter der Ägide des Genueser Stararchitekten Renzo Piano wurde die einstige FiatFabrik zum Kultur-, Kongress- und Shopping-Center mit Geschäften, Cafés, einem Hotel und der Agnelli-Pinakothek. Dort kann man direkt neben berühmten Kunstwerken von Matisse, Picasso und Dalí die alte Fiat-Teststrecke besichtigen. Über den in die Krise geschlitterten Konzern, der einst Zehntausenden Turinern einen sicheren Arbeitsplatz verschafft hat, spricht man derzeit in Turin nicht so gern. „Wer weiß wie’s weiter geht,“ meint ein Buschauffeur und zuckt resigniert die Achseln. Den jüngeren Turinern ist es sowieso ein Anliegen die Stadt vom Image der Autometropole zu befreien. „Es gibt so viel zu sehen bei uns“, meint Silvia vom Turiner Tourismusbüro. Tatsächlich präsentiert sich die Millionenstadt ganz modern und lebendig. Zeitgenössische Kunst ist in alte Gemäuer eingezogen wie etwa das Museo d’arte Contemporanea ins Castello di Rivoli, ein niemals fertiggestelltes Barockschloss des Filippo Juvarra – eine überzeugende Symbiose aus Altem und Neuem. Oder die „Mole Antonelliana“, das Wahrzeichen von Turin, das im Jahr 1862 als Synagoge geplant wurde und seit einigen Jahren das Nationalmuseum des Kinos beherbergt. Unvergleichlich ist die Fahrt im Aufzug in die Spitze des Turms von wo aus man auf die Terrasse der Mole gelangt. Von dort hat man nicht nur einen wunderbaren Blick auf die zu Füßen liegende Stadt sondern auch auf die Alpenkette. [Didascalia immagine:] Wahrzeichen Turins: die Mole Antonelliana, das höchste Gebäude Turins, und die FiatTeststrecke von Lingotto. 2