Projektleiterin Prof. Dr. Claudia Derichs (Phillips

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Projektleiterin Prof. Dr. Claudia Derichs (Phillips
Derichs: Transnational Advocacy Networks muslimischer Frauen
Projektleiterin
Prof. Dr. Claudia Derichs (Phillips-Universität Marburg)
Bearbeiterin
Dana Fennert
Thema
Transnational Advocacy Networks muslimischer Frauen: Organisation, Ziele und Gegenbewegungen auf nationaler und transnationaler Ebene.
Gegenstand und Fragestellung
Erfolgreiche Zusammenschlüsse von Frauen seit dem Beginn der UN-Frauendekade im Jahr
1975 haben gezeigt, dass mittels internationaler Institutionen und Regelwerke auf nationaler
Ebene Druck zur Durchsetzung von Reformforderungen erzeugt werden kann.1 Folgerichtig
haben Gründung und Proliferation transnationaler Kooperationsforen zugenommen und sind
als neue Akteurskonstellationen auch in der Forschung zu einem Untersuchungsgegenstand
avanciert, der über das gängige Repertoire der Analyse sozialer Bewegungen („Bewegungsforschung“) hinausgeht. Der jüngeren Kategorisierung in der Forschung zufolge werden
transnationale Kollaborationsformate, die sich einem bestimmten Thema widmen, als transnational advocacy networks (TAN) charakterisiert.2 Als TAN können demzufolge auch die
transnationalen islamischen Frauennetzwerke bezeichnet werden, die sich vornehmlich der
Reform der islamischen Familiengesetze widmen. Das Projekt richtet den Blick auf solche
Netzwerke und wählt als Fallbeispiel das im Jahr 2007 gegründete Netzwerk Musawah aus,
welches von international führenden muslimischen Reformerinnen getragen wird und sich
als „globale Bewegung für Gleichheit und Gerechtigkeit in der muslimischen Familie“ versteht.3 Der Fokus der Bewegung ist auf die Verankerung von Gleichheits- und Gerechtigkeitsprinzipien in der islamischen Familiengesetzgebung (Personenstandsrecht) gerichtet.
Die Familiengesetze werden indes auf der nationalen Ebene formuliert und implementiert,
so dass der Impetus der transnationalen Bewegung klar auf eine Veränderung der nationalen Gesetzgebung zielt. Beispielgebend für eine gelungene Reform auf nationaler Ebene ist
Marokko, welches das derzeit „frauenfreundlichste“ Familiengesetz innerhalb der Staaten-
1
Siehe u.a. Moghadam, Valentine M: Globalization and Social Movements. Islamism, Feminism, and the Global
Justice Movement. Lanham 2009; Marx-Ferree, Myra: Global Feminism. Transnational Women's Activism, Organizing, and Human Rights. New York 2006; Ruppert, Uta: Die bessere Hälfte transnationaler Zivilgesellschaft? FrauenNGOs und die Politik der FrauenMenschenrechte. In: Brunnengräber, Achim/Klein, Ansgar/Walk, Heike (Hg.): NGOs
als Akteure der internationalen Zivilgesellschaft - Hoffnungsträger einer demokratischen Globalisierung. Bonn 2005,
S. 214-242; The Global Women's Rights Movement: Power Politics around the United Nations and the World Social
Forum, http://www.unrisd.org/unrisd/website/ document.nsf/(httpPublications)/59E3AF8FB95F929FC1257230002
F43C1?OpenDocument (12.07.2007).
2
Die Debatte über die Begrifflichkeiten ist noch nicht abgeschlossen. Prägend für die Kategorisierung der transnationalen Formationen aber wurden die Termini von Khagram, Sanjeev/James V. Riker/Kathryn Sikkink (eds.):
Restructuring World Politics. Transnational Social Movements, Networks, and Norms. Minneapolis and London
2002. Siehe auch Christa Wichterich: Transnationale Frauenbewegung und Global Governance, in: gender…politik…online, März 2007, http://web.fu-berlin.de/gpo/christa_wichterich.htm (14.05.08) sowie „Stand der
Forschung“ in diesem Antrag.
3
www.musawah.org (23.05.09).
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gemeinschaft der OIC (Organization of Islamic Conference) aufweist. Einen Rückschritt hat
hingegen Malaysia gemacht, indem die Regierungen der einzelnen Bundesstaaten des Landes sukzessive „Reformen“ ihrer Familiengesetze verabschiedeten, welche im Vergleich
zum vorher geltenden Recht erhebliche Benachteiligungen von Frauen etwa im Bereich des
Scheidungsrechts mit sich bringen. Dies ist umso bemerkenswerter, als von Malaysia in den
letzten beiden Dekaden eine Reihe von Frauen(-rechts-)initiativen innerhalb und über die
Region Asien-Pazifik hinaus ausgegangen ist, die sich dem Thema der Geschlechtergerechtigkeit widmen. Ungeachtet der signifikanten Unterschiede im jeweiligen nationalen politischen und rechtlichen Kontext haben sich 2007 zahlreiche islamische Reformerinnen auf
Initiative der malaysischen NGO Sisters in Islam zum Netzwerk Musawah zusammengeschlossen, um kraft transnationaler Advocacy-Arbeit in ihren jeweiligen Nationalstaaten (verstärkten) Reformdruck im Bereich der islamischen Familiengesetzgebung auszulösen.
Gleichwohl sprechen die Musawah-Aktivistinnen keinesfalls für die überwältigende Mehrheit der Frauen in ihren Heimatländern, denn traditionalistisch oder konservativ-islamistisch
ausgerichtete Organisationen4 vermögen – in Reaktion auf die Aktivitäten von Organisationen wie Sisters in Islam oder Netzwerken wie Musawah – ebenfalls eine beachtliche Anhängerschaft zu mobilisieren und für ihre jeweilige Auslegung des Konzeptes Familie zu
werben. Die Forschung bezeichnet diese Bewegungen als countermovements (Gegenbewegungen). Auch sie sind in der Literatur behandelt worden, allerdings primär als Phänomen
auf nationaler Ebene.5
Projektziele
Das Projekt untersucht das Netzwerk Musawah als Fallbeispiel für eine transnationale zivilgesellschaftliche Organisationsform, die sich für Reformen in einem Jurisdiktionsbereich
einsetzt, der ausschließlich auf Muslime und Musliminnen Anwendung findet (= islamische
Familiengesetze). Im Unterschied zu Netzwerken wie Women Living Under Muslim Laws
oder der Women's Islamic Initiative in Spirituality and Equity, welche eine weitaus umfassendere Agenda aufweisen, richten sich die Aktivitäten vom Musawah dezidiert auf das
Konzept der muslimischen Familie. Im Unterschied zu Süd-Süd-Netzwerken wie Development Alternatives for a New Era, welche ungeachtet jedweder religiösen Affiliation Themen
aufgreifen, die insbesondere die Frauen im globalen Süden / in Entwicklungsländern beschäftigen, adressiert Musawah all diejenigen Frauen (und Männer), die im Bereich der Familiengesetzgebung einer islamischen Jurisdiktion unterstehen – ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zum globalen Norden oder Süden. Die themenbezogene Aufgabe macht Musawah zu
einem geeigneten Fallbeispiel für ein transnational advocacy network muslimischer Frauen.
Während die Forschung zu transnationalen Bewegungen und advocacy networks unterschiedlicher Ausrichtung und Provenienz kein Novum darstellt,6 stellt die Beziehung zwi4
Die Adjektive traditionalistisch, islamistisch, konservativ, liberal, moderat, modernistisch, säkular, reformistisch,
progressiv, kritisch, fundamentalistisch etc. werden im wissenschaftlichen Diskurs nach wie vor kontrovers diskutiert und unterschiedlich definiert bzw. mit diversen Referenzobjekten belegt. Der vorliegende Antrag folgt Holger
Albrecht/Kevin Köhler (Hg.): Politischer Islam im Vorderen Orient. Zwischen Sozialbewegung, Opposition und Widerstand. Baden-Baden 2008, S. 12f. im Verständnis von Islamismus und Meena Sharify-Funk: Encountering the
Transnational. Women, Islam and the Politics of Interpretation. Aldershot 2008, S. 23-30 u. 62-68 im Verständnis
der reform-orientierten Begriffe progressiv, modernistisch, liberal, kritisch, moderat sowie der (zunehmend weniger
trennscharfen) Dichotomie religiös-säkular. Eine ausgezeichnete, historisch-kontextualisierende Diskussion des
Terminus „säkular“ bietet José Casanova: Religion, Politics and Gender Equality. Public Religions Revisited. UNRISD Draft Working Document 2009.
5
Siehe David S. Meyer/Suzanne Staggenborg, Movements, Countermovements, and the Structure of Political
Opportunity, in: The American Journal of Sociology 101(1996)6: 1628-1660.
6
So etwa Lydia Alpízar Durán/Noël D. Payne/Anahi Russo (eds.): Building Feminist Movements and Organizations.
Global Perspectives. London/New York 2007; Marx-Ferree 2006, a.a.O.; Valentine Moghadam: Globalizing Women.
Transnational Feminist Networks. Baltimore 2005; Khagram/Sikkink 2002, a.a.O.; Margaret Keck/Kathryn Sikkink:
Activists Beyond Borders. Advocacy Networks in International Politics. Ithaka 1998.
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schen islamischen TANs und den ihnen entgegenstehenden countermovements einen noch
relativ wenig beachteten Untersuchungsgegenstand dar.7 Das Projekt möchte diese Lücke
füllen und zunächst das Organisationsformat und die Zielerreichungsstrategien des TAN
Musawah im Vergleich zu anderen islamischen Frauennetzwerken analysieren; auf dieser
Basis die Diffusion der Musawah-Aktivitäten in die nationalen Arenen der „Mitgliedsländer“
anhand qualitativer Methoden (leitfadengestütze Interviews und Dokumentenanalyse) und
unter Zuhilfenahme quantitativer Erhebungsdaten (vorliegende und zugängliche Umfragedaten) untersuchen; sowie mittels der Befunde für die nationale und transnationale Ebene die
Organisationsformen von countermovements erfassen; um in Verbindung mit der Analyse
des TAN Musawah auch Aussagen über den Charakter von countermovements zu treffen:
Sind sie primär national organisiert oder stellen sie einen genuinen transnationalen Gegenpart dar? Auf welchen gemeinsamen islamischen Nenner beruft sich eine (mögliche) transnationale Gegenbewegung?
Am Beispiel Musawahs sollen Erkenntnisse über die Beziehung zwischen einer transnationalen islamischen Reformbewegung und ihren konservativ-islamistischen Gegenströmungen erzielt werden. Auf der nationalen Ebene sind diese Gegenströmungen gut identifizierbar: In Malaysia bildet die Islamische Partei (PAS) den Nukleus der Gegenbewegung; in Marokko ist es die von Sheikh Abdesslam Yassine gegründete Wohlfahrtsvereinigung Al Adl
Wal Ihsan (Vereinigung für Gerechtigkeit und Spiritualität), die immer wieder Demonstrationen gegen die Familienreform ins Leben gerufen haben. Über die transnationale Dimension
der Gegenbewegung(en) indes lassen sich nur Vermutungen äußern.8
Die Antagonismen zwischen pro und contra Familiengesetzreform verlaufen weder entlang
der Linie religiös-säkular noch entlang der Sunni-Shi’a-Demarkation. Auch die Geschlechterdichotomie ist von untergeordneter Bedeutung, da auf beiden Seiten stets auch Männer die
Argumente und Positionen der Frauen vertreten und/oder unterstützen.9 Die für das geplante Projekt zu identifizierenden Gegenströmungen weisen eine komplexe Struktur auf, die
mit den gängigen Dichotomien von religiös-säkular, moderat-radikal oder reformistischtraditionalistisch nicht adäquat zu erfassen ist und auch nicht ohne weiteres in eine progressiv-konservativ-Typologie eingeordnet werden kann. So fallen die Forderungen islamistischer
countermovements einerseits häufig hinter den Status quo der nationalen Gesetzgebung
zurück, beispielsweise in Fragen von Heiratsalter für Mädchen/Frauen, Scheidungsrecht,
Polygamie u.a.m. Andererseits – und dies macht die Typologisierung eines islamischen
countermovement nach den gängigen Kriterien der Theorie so schwierig – erheben Vertreter
islamistischer Gruppierungen auch Forderungen für die sexuelle, reproduktive usw. Selbstbestimmung der Frau, die denen von Bewegungen wie Musawah in kaum einer Weise
nachstehen. Eine Analyse der indischen Jamaat-e-Islami belegt dies eindrucksvoll.10 Deutlich
wird demnach, dass die Beziehungen zwischen dem islamischen TAN Musawah und ihren
konservativ-islamistischen Gegenströmungen sich wesentlich vielschichtiger gestalten als,
beispielsweise, die antagonistische Beziehung einer Anti-Atomkraftbewegung und ihrer
7
Eine dezidiert auf dieses Thema eingehende Studie legte Louise Chappell, Contesting Women’s Rights. Charting
the Emergence of a Transnational Conservative Counter-network; in: Global Society 20(2006)4: 491-520 vor. Wichterich 2007, a.a.O., S. 16, erwähnt den „Gegenwind“, den die globale Frauenbewegung schon vor der Weltfrauenkonferenz in Peking seitens anti-emanzipatorischer und religiös-fundamentalistischer Strömungen (Vatikan, konservative Regierungen u.a.) erfuhr, geht aber nicht weiter auf diese Art von countermovement ein. Valentine Moghadam: Globalization and Social Movements. Islamism, Feminism, and the Global Justice Movement. Lanham u.a.
2009, S. 37-61, geht auf islamistische Bewegungen ein, bleibt aber auf der nationalen Ebene.
8
Die globale Reichweite des Netzwerks Al Qaida wird hier bewusst ausgeblendet, denn es geht um legale Opposition im Rahmen von weitgehend formalisierten Konfliktaustragungsmechanismen (z.B. Verurteilung einer Kampagne mittels einer Fatwa oder legale Lobbyarbeit in nationalen und internationalen Foren).
9
Im Planungsausschuss von Musawah ist z.B. Sohail Akbar Warraich aus Pakistan als männliches Mitglied vertreten.
10
Irfan Ahmad, Cracks in the ‘Mightiest Fortress’: Jamaat-e-Islami’s Changing Discourse on Women; in: Modern
Asian Studies 42(2008)2/3: 549.-575.
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Gegner. Insofern ist es folgerichtig, die bislang vorliegenden theoretischen Befunde zu
transnationalen Bewegungen und countermovements einer Prüfung am empirischen Fall
islamischer Bewegungen zu unterziehen und dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu
identifizieren, welche eine transnationale Vernetzung ermöglichen, erschweren oder auch
verhindern.
Theoretischer Hintergrund und Stand der Forschung
Die Erforschung sozialer Bewegungen oder die Bewegungsforschung, wie sie prägnant
abgekürzt wird, richtete ihr Augenmerk lange Zeit auf die nationalen Schauplätze des „Bewegungsgeschehens“. In den theoretischen Zugängen unterschieden sich europäische
Ansätze deutlich von nordamerikanischen. Erst in späten 1980er Jahren fanden Bewegungsforscher aus verschiedenen Weltregionen (allerdings immer noch ausnehmend Europa- und
USA-zentriert) zusammen, die sich um integrative Analyseinstrumente bemühten und soziale Bewegungen weltweit dem wissenschaftlichen Vergleich zugänglich machen wollten.11
Ein wegweisendes Werk, welches dieser Stoßrichtung nachkam, war der 1996 erschienene, von internationalen Autoren verfasste Band „Comparative Perspectives on Social Movements“.12 Seine drei analytischen Dimensionen der politischen Gelegenheitsstrukturen
(political opportunity structures), der Ressourcenmobilisierung (resource mobilization) und
der ideellen/ideologischen Einbettung von Themen (framing) werden auch heute noch angewandt, um nationale wie auch trans- und internationale Bewegungen zu analysieren.13
Paradigmatische Weiterentwicklungen folgten, die dem „neuen“ Phänomen der transnationalen sozialen Bewegungen Rechnung trugen, indem sie eine systematischere Typologisierung von Akteuren vorschlugen, als es die relativ wenig differenzierenden Sammelbezeichnungen NGO (Non-Governmental Organization) oder Soziale Bewegung erlaubten. Zu den
Vertretern dieser Richtung zählten „Veteranen“ der Bewegungsforschung, wie Sidney Tarrow, Dieter Rucht und Hanspeter Kriesi, oder Repräsentanten der Transnationalitätsforschung, unter ihnen Margaret Keck und Kathryn Sikkink.14 Insbesondere Tarrow monierte die
mangelnde begriffliche Differenzierung und legte als Konsequenz seiner Kritik eine Reihe
von Unterscheidungsmerkmalen für transnationale soziale Bewegungen (TSMs), internationale NGOs (INGOs) und transnationale Advocacy-Netzwerke (TANs) vor.15 Einen anderen
Strang bildete die Forschung zur Interaktion zwischen zweckorientierten Bewegungen und
ihren Gegenbewegungen, den sog. countermovements. Zu den prominenten Autoren der
Richtung, die nahezu gleichzeitig mit der komparativen Bewegungsforschung Einzug in die
Diskussion hielt, zählen Mayer N. Zald, Bert Useem, Suzanne Staggenborg, David Meyer
u.a.m.16 Ihre Untersuchungsplattform bildete die nationale Ebene, doch ihre Typologisierung
11
Für eine kurze Skizzierung der Ansätze und ihrer jeweiligen Parameter siehe
12
Doug McAdam/John D. McCarthy/Mayer N. Zald (eds.), Comparative Perspectives on Social Movements. Political
Opportunity Structures, Mobilizing Structures and Cultural Frames. Cambridge 1996.
13
Siehe etwa Chappell 2006, a.a.O.; Claudia Derichs, Transnationale Frauenbewegung in Malaysia; in: Asien
111(2009): xx-yy. Zum state of the art der derzeitigen Bewegungsforschung siehe Thomas Kern, Soziale Bewegungen. Ursachen, Wirkungen Mechanismen. Wiesbaden 2007; sowie Simon Teune: „Gibt es so etwas überhaupt
noch?“ Forschung zu Protest und sozialen Bewegungen, in: Politische Vierteljahresschrift 49(2008)3: 528-547.
14
Viel zitiert in diesem Kontext warden Sidney Tarrow, Transnational Politics: Contention and Institutions in International Politics, in: Annual Review of Political Science 4(2001): 1-20; Dieter Rucht, The Transnationalization of Social
Movements: Trends, Causes, Problems, in: Donatella della Porta/ Hanspeter Kriesi/Dieter Rucht (eds.), Social Movements in a Globalizing World. Basingstoke 1999, S. 206-222; Keck/Sikkink 1998, a.a.O. – Zur Transnationalitätsforschung generell und mit Bezug auf andere Schwerpunktthemen (transnationale Migration, transkulturelle Räume, transnationales Recht usw.) liegt eine mittlerweile kaum mehr überschaubare Anzahl von Werken vor. Auf sie
kann hier nicht näher eingegangen werden.
15
Tarrow 2001, Transnational Politics, a.a.O.
16
Siehe Meyer/Staggenborg 1996, a.a.O.; Mayer N. Zald/Bert Useem, Movement and Countermovement Interaction: Mobilization, Tactics and State Involvement, in: Mayer N. Zald/John D. McCarthy, Social Movements in an
Organizational Society. Collected Essays. New Brunswick 1987.
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bzw. Unterscheidung zwischen einer Bewegung und einer Gegenbewegung hat bis heute
analytische Relevanz und findet daher auch in Bezug auf trans- und internationale Bewegungen Anwendung.17 Für das vorliegende Projektvorhaben wird er ebenfalls in Anspruch genommen.
Keck und Sikkink zufolge zeichnen sich transnationale Advocacy-Netzwerke durch Akteure
aus, die gemeinsam an einem bestimmten Thema (issue) arbeiten, dabei bestimmte Wertvorstellungen teilen (shared values) und über einen gemeinsamen Diskurs (common discourse) sowie über den intensiven Austausch von Informationen und Dienst(leistung)en in
Verbindung stehen.18 Die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen/nongouvernementalen Akteuren hat im Falle der TANs zunehmend an Relevanz verloren, denn
das Verhältnis zwischen einem Netzwerk und dem Staat muss nicht zwingend oppositioneller Natur sein. Der oppositionelle Charakter hingegen spielt im Blick auf die Gegenströmungen zu einer Bewegung/einem Netzwerk eine zentrale Rolle. Während das Verständnis von
counter-movements als konservativen oder gar reaktionären Bewegungen in der Forschung
dominierte, hoben Meyer und Staggenborg hervor, dass diese Gleichung nicht auf alle Fälle
zutrifft und das zentrale Charakteristikum eher darin besteht, dass sich Gegenbewegungen
als Opponenten einer existierenden Bewegung identifizieren – egal, ob mit konservativer,
reaktionärer oder progressiver Ausrichtung.19 Chappell wendet indes ein, dass Gegenbewegungen immer ein gewisser Konservatismus anhaftet, namentlich dergestalt, dass stets die
Bewahrung des Status quo angestrebt und Veränderung oder Wandel ja gerade verhindert
werden sollen.20 Im vorliegenden Projektvorhaben wird keine klare Trennung zwischen konservativ und progressiv erfolgen können, wohl aber zwischen der Bewegung bzw. dem TAN
Musawah und den gegen die Reformen der islamischen Familiengesetze opponierenden
Gegenströmungen. Denn wenngleich die meisten der als islamistisch einzuordnenden countermovements eine konservative und rückwärtsgewandte Aura verbreiten, weisen verschiedene Autoren doch mit Nachdruck darauf hin, dass sorgfältige Differenzierungen notwendig sind. Auf eine umgangssprachliche Formel gebracht, wird die Position vertreten,
auch islamistische Bewegungen könnten progressiv sein.21 Der konkrete Charakter des
countermovements zum Netzwerk Musawah wird Gegenstand der Analyse des geplanten
Projektes sein.
In der Literatur zur (trans-)nationalen islamischen Frauenbewegungen haben Valentine M.
Moghadam, Leila Ahmed, Fatima Mernissi, Ziba Mir-Hosseini, Asra Nomani, Amina Wadud,
Lila Abu-Lughd, Nadje al-Ali, Margot Badran, Cassandra Balchin, Asma Barlas, Dawn Chatty,
Annika Rabo u.v.a.m. die Forschung vorangetrieben und Wegweiser aufgestellt. Auch die
inzwischen immens angewachsene Anzahl von Werken zum islamischen Feminismus hat
die Diskussion beeinflusst.22 Hinzu kommen Studien zu transnationalen Frauenbewegungen
generell (nicht beschränkt auf islamische Bewegungen)23 und zum Einfluss internationaler
Institutionen und Regelwerke auf Organisation, Strategien, Aktions- und Kooperationsfor-
17
18
19
20
Vgl. Chappell 2008, Contesting Women’s Rights, a.a.O.
Keck/Sikkink 1998, Activists beyond Borders, a.a.O., S. 2.
Meyer/Staggenborg 1996, Movements, S. 1631f.
Chappell 2008, Contesting Women’s Rights, a.a.O., S. 498.
21
Vgl. Ahmad 2008, Crack in the Fortress, a.a.O.; Lara Deeb, Piety politics and the role of a transnational feminist
analysis, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 15(2009): 112-126.
22
An vieler anderer Statt: Margot Badran: Feminism in Islam: Secular and Religious Convergences. Oxford 2008;
Qudsia Mirza: Islamic Feminism: Possibilities and Limitations; in: Haidah Moghissi (ed.): Women and Islam. Crisitcal
Concepts in Sociology. Vol III. Women’s Movements in Muslim Societies. London 2005; Haidah Moghissi: Feminism and Islamic Fundamentalism. London 1999.
23
Inklusive einer Darlegung der Entwicklung der globalen Frauenbewegung und zahlreicher Literaturhinweise:
Wichterich 2007, a.a.O.
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men von Frauen.24 All diese Werke weisen – bei aller Unterschiedlichkeit – einige Gemeinsamkeiten auf:25
Sie betonen die Pluralität der Bewegungen;
sie heben die Bedeutung einer differenzierten Perspektive auf „Frauen“ als Geschlecht wie
auch auf Bewegungen, Netzwerke und Organisationen hervor; und
sie warnen vor simplifizierenden Dichotomien, Gleichungen und Kontrastierungen (z.B. vor
feministisch = säkular, westlich versus islamisch usw.).
Das Netzwerk Musawah bietet eine Projektionsfläche für die Aspekte a) bis c) und spiegelt
ein Resultat eines vor allem auch innerislamischen Dialog- und Integrationsprozesses wider:
Die früheren feministischen Bewegungen muslimischer Frauen waren der MusawahMitgründerin Zainah Anwar zufolge „utterly secular“.26 Dies führte zu ihrer Stigmatisierung
als „unauthentisch“, „unislamisch“ und „westlich beeinflusst“ seitens anderer Muslime
und Musliminnen – bzw. seitens der countermovements.27 Musawah versucht, diesem Label zu entgehen, indem seine Mitglieder erklären: “We hold the principles of Islam to be a
source of justice and equality.”28 Inwieweit dieses Bekenntnis Anhängerinnen oder Gegnerinnen zu mobilisieren vermag und mit welchen Argumenten die nationalen Gegenbewegungen sich transnational organisieren, ist Gegenstand des geplanten Projektes.
Länderauswahl und methodisches Vorgehen
Die Diffusionseffekte der transnationalen Musawah-Aktivitäten auf der jeweiligen nationalen
Ebene zu untersuchen, würde die Erforschung der Situation in mindestens elf Ländern bedeuten. Da dies in einem Projektteam von zwei Personen im Rahmen von zwei Jahren nicht
leistbar ist, sollte eine methodisch sinnvolle Fallauswahl erfolgen. In der vergleichenden
Politikwissenschaft (= Fachgebiet der Antragstellerin) käme für solche Auswahlprozesse der
Ansatz des most similar oder des most different systems design in Frage. Da es sich im
vorliegenden Fall allerdings nicht um eine vergleichende Zwei-Fälle-Untersuchung im klassischen Sinne der komparativen Politikwissenschaft handelt, sondern die transnationale Dimension im Mittelpunkt steht, bietet sich der Ansatz der Bewegungsforschung mit den
genannten drei Dimensionen der politischen Gelegenheitsstrukturen, der Ressourcenmobilisierung und des framings an. Gleichwohl manifestieren sich Erfolg und Widerstand im Falle
Musawahs jeweils am ehesten auf der nationalen Ebene, d.h. die transnationale Ebene kann
nur mittelbar über die empirische Vor-Ort-Arbeit auf nationaler Ebene erfasst werden. Die
Forschungsarbeit sollte daher in mindestens zwei Ländern erfolgen, in denen MuswahAktivistinnen tätig sind. Die Auswahl dieser Länder ist vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte des TAN Musawah sowie dem Bestreben, vor allem auch den nichtarabischen Islam ins Blickfeld zu rücken, nach folgenden Kriterien vorgenommen worden:
24
Einen rezenten Überblick bietet Wendy Harcourt: The Global Women’s Rights Movement. Power Politics around
the United Nations and the World Social Forum. UNRISD Civil Society and Social Movements Program Paper
25(2006).
25
Die nachfolgend genannten Aspekte a) bis c) kommen nicht in allen Werken expressis verbis vor. Ihre Zusammenfassung unter a) bis c) stellt eine essenzialisierte Schnittmenge der Lektüre dar.
26
Interview der Antragstellerin mit Zainah Anwar, Petaling Jaya, Malaysia, 08.03.2007.
27
Nadje Al-Ali: Secularism, Gender and the State in the Middle East: The Egyptian women’s movement. Cambridge
2000, S. 1-16; Zum Dilemma der Frauen zwischen „westlich und islamisch“ siehe auch Claudia Derichs: Frauen
und Frauenrechte in muslimisch geprägten Gesellschaften; in: Hippler, Jochen (Hg.): Von Marokko bis Afghanistan.
Krieg und Frieden im Nahen und Mittleren Osten. Hamburg: Konkret Literatur Verlag, 2008, S. 197-212.
28
www.musawah.org (Abruf: 22.05.09).
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Marokko:
Marokko stellt das Erfolgsbeispiel für die Reform des nationalen islamischen Familiengesetzes dar.29 Es repräsentiert ein Land der MENA-Region (= Middle East and North Africa) und
ist die Heimat international bekannter islamischer Frauenrechtlerinnen wie Fatima Mernissi
oder Jamila Hassoune.
Malaysia:
Malaysias Sisters in Islam (SIS) sind mittlerweile weltweit bekannt und haben die Initiative
zur Gründung des transnationalen Netzwerks Musawah ergriffen. Zentrale Persönlichkeiten
der Organisation sind Zainah Anwar und Norani Othman; auch Amina Wadud gehört zum
engeren Kreis, wenngleich sie nicht mehr in Malaysia lebt. Gleichwohl war die malaysische
Kampagne gegen die Änderungen des Familiengesetzes im Unterschied zu Marokko nur
von wenig Erfolg gekrönt.30 Malaysia repräsentiert ein Land der asiatisch-islamischen Region.
29
Fatima Sadiqi: The Central Role of the Family Law in the Moroccan Feminist Movement; in: British Journal of
Middle Eastern Studies 35(2008)3: 325-337.
30
Rose Ismail: The Modern Malay Woman’s Dilemma, in: Far Eastern Economic Review, March 2006,
http://www.feer.com/essays/2006/march/the-modern-malay-womans-dilemma (26.03.2008).
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