Nikolaus Heidelbach

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Nikolaus Heidelbach
Nikolaus Heidelbach
Beltz 2008
je 60 Seiten • je 14,90
26 Jungen, deren Namen fortlaufend mit den Buchstaben des Alphabets beginnen, werden in Wort und Bild mit typischen “Jungen-Beschäftigungen” vorgestellt.
Gibt es das, typische Jungen-Beschäftigungen? Heute möchte man manchmal fast fragen:
Darf es das geben? Denn zumindest einige Schulen innerhalb der Pädagogik versuchen
mit allen Kräften den Eindruck zu vermeiden, es gäbe Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die nicht nur auf Prägung, Erziehung und “schlechten Vorbildern” basieren.
Die daraus resultierende Rollenverunsicherung bei den Jungen kann man täglich erleben.
Nikolaus Heidelbach sieht das anders. Er kennt typische Jungen-Beschäftigungen und er
stellt sie öffentlich dar, sicher auch um sie zu propagieren. Aber er wäre nicht er, wenn
er das verkopft und pseudowissenschaftlich aufziehen würde. Nein, er zeigt uns praktische Beispiele, beispielhafte Jungenfiguren mit beispielhaften Namen bei beispielhaften
Tätigkeiten. Das ist oft überspitzt und karikiert, optisch wie inhaltlich, das reizt oft zum
Lachen, aber es macht auch nachdenklich, spätestens auf den zweiten Blick. Denn diese
Jungen sind keine Prototypen, sie entsprechen keinen Mustern, keinen Klischees, obwohl
sie sicher alle ihre Vorlagen haben.
Jede Doppelseite dieses Buches präsentiert auf der linken Seite ein ebenfalls sehr individuelles “Nummerngirl”, das sich mit dem farbigen Anfangsbuchstaben des Namens beschäftigt, diesem folgt der Name und die Tätigkeit in einem kurzen, prägnanten Satz. Die
rechte Seite führt in einem liebevoll gemalten Bild auf weißem Passepartout den (oder
die) Knaben bei seiner Beschäftigung vor. Dabei fällt sofort auf, dass sich die Wortbeschreibung und die abgebildete Tätigkeit oft nur bedingt entsprechen, manchmal eher
auf einem Missverständnis zu beruhen scheinen. Doch diese Diskrepanz zeigt schon den
wahren Sinn der ganzen Vorführung: Sprache, Wörter und Vorstellungen sind ebensowenig klar und eindeutig, wie es die Vorurteile über typisches, gar richtiges oder falsches Verhalten sind.
Dabei gibt es echte Doppelbedeutungen (“Charles macht ein Geschäft”) ebenso wie
nichtssagende Sätze (“Martin und Moritz langweilen sich”) oder gar bewusste falsche
Fährten (“Nikolaus spielt Gitarre” oder “Uwe übt”). Die Bilder dazu zeigen dann (und
auch das zunächst vor allem vordergründig) einen Handel mit einem kleinen Teufel, ei-
nen Schwertkampf mit verbundenen Augen, eine Kitzelattacke auf den kleinen Bruder
oder ein Probeliegen auf dem Friedhof. Nie findet sich also im Bild das, was das Gehirn
beim Lesen als Vorstellung vorschlägt, jede bildhafte Umsetzung ist überraschend, irritierend und manchmal schockierend. Sie regt aber Phantasie und Denken an, Verhalten,
Rolle und Hintersinn genauer zu beleuchten und zu hinterfragen.
In allen Fällen stellt sich heraus, dass die Vorprägung des Lesers (vor allem im Erwachsenenalter) viel einengender ist als der Einfallsreichtum der Kinder, keine neue, aber
eine immer wieder bedenkenswerte Erfahrung. Für Kinder selbst existiert auch die eventuelle Diskrepanz gar nicht, sie stören sich weder an Ironie noch an Zweideutigkeit, weil
das eben erwachsene Denkmethoden sind. Das gilt vor allem auch für sexuelle Anspielungen, bei denen der erwachsene Betrachter stutzt und sich fragt, ob man “das” denn
darstellen müsse – für Kinder gar keine Frage. Es ist ja auch höchst unschuldig, wenn
Gerd beim Anblick weiblicher Dessous nachdenkt, Oliver beim Wettpinkeln gewinnt
oder Sam abends unter der Bettdecke eine Entdeckung macht.
Eigentlich vielsagender sind die Bezüge auf angeblich so gar nicht kindgemäße Hintergründe, die in manchen Bildern vorkommen, Ängste bei moderner Kunst, Fremdheitsgefühle beim Essen mit den Eltern oder Unbekümmertheit beim Sammeln von Totenschädeln. Hier öffnen sich Zugänge zu Tiefenpsychologie und assoziativem Denken, bei denen erwachsene Menschen zusammenzucken – nicht so Kinder.
Nikolaus Heidelbach ist hier – wieder einmal – gelungen, Realität und Phantasie fast unentwirrbar zu verquicken, mit sanft-farbigen, manchmal fast fotorealistisch ausgearbeiteten Bildern die Brüchigkeit von Wahrnehmung und verbalen wie optischen Signalen zu
zeigen. Er legt damit gleichzeitig ein amüsantes und nachvollziehbares Bilderbuch für
Kinder wie ein anregendes und kultverdächtiges Vexierbild für erwachsene Leser vor,
bei dem vieles hinterher anders ist als vorher. Beschäftigung damit ausdrücklich erwünscht und sehr reizvoll!
‘
26 Mädchen, auch sie nach den Buchstaben des Alphabets benannt und geordnet, zeigen
typische Mädchenbeschäftigungen in Satz und Bild.
Wenn man die schriftliche Liste von Tätigkeiten und Beschäftigungen der Mädchen in
diesem Buch durchgeht, scheint fast alles “normal”, durchschnittlich und gänzlich unspektakulär zu sein. Man könnte sich fragen, warum über diese alltäglichen und harmlosen Dinge überhaupt ein Buch verfassen? Wohl gibt es ein paar Stolpersteine, etwas irritierende Vorschläge wie “Heike lernt ein Nilpferd kennen” oder “Norma kritzelt Nadine”, wo sich der vordergründige Sinn nicht sofort erschließt. Doch auch wenn in allen
anderen Fällen alles klar zu sein scheint – der erste Blick auf die Illustrationen belehrt
den Betrachter, wie falsch man mit raschen Schlüssen liegen kann.
Oder hätte man erwartet, dass “Flora schläft gut” bedeutet, im nächtlichen Bett von einem riesigen Fisch geküsst zu werden? Oder dass Margit, während sie staubsaugt, von
einem kleinen behelmten Wesen, das auf Besen und Schaufel fliegt, “Besuch kriegt”?
Noch ärger, wenn Patricia “auf ihren Bruder aufpasst”, was einfach bedeutet, dass sie, ihn
an einem Arm festhaltend, Schleuderübungen neben der Straße mit ihm veranstaltet.
4 | 2008 © www.alliteratus.com • Nachdruck frei unter Angabe der Quelle • Seite 2 von 3 (Bernhard Hubner)
All das ist ja, das scheint klar, nicht wörtlich gemeint und schon gar nicht typisch “für
alle”. Aber in der Sicht seiner ironisch überspitzten, farblich delikaten und bewegungsreichen Bilder erweisen sich kleine Mädchen (und um diese allein geht es ja) als undurchschaubar geheimnisvoll, stets für Überraschungen gut, manchmal hinterhältige und
zickige kleine Biester. Auch das ist sicher nicht die wortgetreu zu übernehmende Deutung, erkennbar hat Heidelbach viel zu viel Freude und Liebe für seine kleinen Heldinnen, aber dass er sie wirklich versteht – davon ist keine Rede.
Und so gibt er sich redlich (und mit eindrucksvollem Erfolg) Mühe, auf seinen ganzseitigen, in weißem Passepartout angelegten Bildern möglichst viele verschiedene Aspekte
und ganz konträre Verhaltensweisen zu schildern, rätselhaft und fantasievoll, manchmal
mit einem Hang zu leiser Brutalität, aber auch zu Melancholie und schlichter Verspieltheit. Die komplementären Jungs, die sich auf der jeweils linken Seite mit den Anfangsbuchstaben der Namen spielen dürfen, wirken im Vergleich eindimensional, direkt und
praktisch veranlagt.
Wiederum vorschnell geurteilt könnte man sagen, dass viele gängige Vorurteile bestätigt werden, aber das wäre tatsächlich voreilig. Denn vor allem beweisen die 26 Variationen zum Thema Mädchen, dass keine Zwei gleich sind oder sich verhalten, dass jedes
Kind (denn das gilt für die Jungs genau so) einzigartig und individuell ist, fantasiebegabt
und ausdruckstark, unverwechselbar und doch “verwandt”. Ebenso wie das “Jungs”–
Buch also ein Plädoyer gegen Pauschalurteile und Verallgemeinerungen, für das Recht
auf Persönlichkeit, Selbstverwirklichung und auch Exotik. Stoff jedenfalls für viele Gedanken und Erkenntnisse – einfach schön mit kleinen Widerhaken.
Bernhard Hubner
4 | 2008 © www.alliteratus.com • Nachdruck frei unter Angabe der Quelle • Seite 3 von 3 (Bernhard Hubner)