ARMENIEN – EIN BLICK IN EINE ANDERE WELT
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ARMENIEN – EIN BLICK IN EINE ANDERE WELT
Hilfsprojekt Günter Peter ARMENIEN – EIN BLICK IN EINE ANDERE WELT I ch hatte im März 2001 gerade meine Geschäfte als Kaufmännischer Direktor des Krankenhauses Scheibbs an meinen Nachfolger übergeben, um in Pension zu gehen. Genau zu diesem Zeitpunkt wurde ich vom gemeinnützigen „Verein zur Förderung des Österreichischen Kinderspitals in Gyumri“ in Wien gebeten, als ehrenamtlicher Konsulent an der Neuorganisation des Kinderspitals in Armenien mitzuwirken. Allgemeine Rahmenbedingungen Im Mai 2001 besuchte ich zum ersten Mal Armenien. Ich finde mich allein in einem Land mit einer sehr bewegten und manchmal schmerzlichen Geschichte wieder. In einem Land mit uralter christlicher Tradition und mit liebenswürdigen Menschen. Das kleine Land mit rund drei Millionen Einwohnern, nicht einmal halb so groß wie Österreich, kämpft ums Überleben. Die Loslösung von der Sowjetunion im Jahr 1992 hatte katastrophale wirtschaftliche Folgen. Hinzu kommt die Isolation in der Kaukasusregion. Die innenpolitische Situation Georgiens im Norden, die noch immer geschlossene Westgrenze zur Türkei und der jahrelange Krieg mit Aserbaidschan um das Gebiet Berg Karabach zerren und bluten das Land und seine Menschen aus. Armenien zählt heute zu den ärmsten Ländern der Welt. Das BIP beträgt pro Kopf nur etwa 600 Euro, das ist ein Vierzigstel (!) des österreichischen Vergleichswertes. Der Norden Armeniens hat außerdem noch immer mit den schrecklichen Folgen eines schweren Erdbebens zu kämpfen. In der Stadt Gyumri (damals Leninakan) gab es zehntausende Tote und Verletzte. Weit über 500.000 Menschen wurden durch das Erdbeben obdachlos. Rund neun Millionen Quadratmeter Wohnraum waren zerstört worden, darüber hinaus 450 Schulen und Kindergärten für zusammen rund 250.000 Kinder, Krankenhäuser und Polykliniken für rund 21.000 Patienten sowie 230 Fabriken. Das entsprach rund einem Viertel der gesamten armenischen Industriekapazität. In Gyumri leben heute noch immer mehr als 10.000 Menschen in Notunterkünften. 38 ÖKZ :: Der Mensch ist nicht nur dafür verantwortlich, was er tut, sondern auch dafür, was er nicht tut (Laotse) Das armenische Gesundheitswesen Die extrem schlechte Finanzlage des Staates hat in sachlogischer Konsequenz substantielle Auswirkungen auf das Gesundheitswesen und den Gesundheitszustand der Bevölkerung. Die öffentlichen Gesundheitsausgaben pro Kopf belaufen sich auf etwa 15 € (in Österreich ist es das Hundertfache). Es gibt keine gesetzliche Krankenkasse. Die Säuglingssterblichkeit beträgt in Armenien etwa 41 pro 1000 Lebendgeborenen (in Österreich 4,3). 20% aller Kinder und Jugendlichen leiden an Asthma bronchiale. Aufgrund von Fehl- oder Mangelernährung besteht bei 30% der Kinder und bei 16% der Frauen ein anämisches Zustandsbild. Die Zahl der Arztbesuche pro Einwohner beträgt nur mehr 3,2, früher waren es 10,5. Für 1.000 Einwohner stehen 7,6 Krankenhausbetten zur Verfügung. Es gibt etwa 150 Krankenhäuser mit rund 25.000 Betten sowie etwa 500 Polykliniken. Allerdings gibt es derzeit noch kaum niedergelassene Ärzte. Die größte Änderung im armenischen Gesundheitssystem gab es 1997. Damals schaffte die Regierung aufgrund der katastrophalen Finanzlage die kostenlose medizinische Behandlung ab. Seither müssen ärztliche Leistungen sowie Medikamente von den Patienten selbst bezahlt werden. Es gibt allerdings Ausnahmen, wie z.B. Behinderte, Alleinerziehende, Waisen, Kriegsveteranen, Kinder unter 7 Jahren und minderjährige Kinder aus kinderreichen Familien. Kostenlos ist die Behandlung einiger spezieller Krankheiten (z.B. TBC, Leukämie, Herzinfarkt, AIDS, Malaria, Krebs, Diabetes etc). Aber selbst in den Fällen, in denen der Staat die Behandlungskosten übernimmt, ist es allgemein üblich, dass von den Krankenhäusern und behandelnden Ärzten zusätzliche Zahlungen von den Patienten gefordert werden. Dies ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Krankenhausmitarbeiter extrem schlecht entlohnt werden. Laut Angaben der UNICEF sind 14% der armenischen Kinder unter fünf Jahren unterernährt, in einzelnen Regionen sogar 30%. Die häufigsten Krankheiten bei Kindern sind Erkrankungen der Atemwege sowie Darminfektionen. Allein Österreichische Krankenhauszeitung (ÖKZ) 46. Jg. (2005), 01-02 http://www.oekz.at Hilfsprojekt 17% der kindlichen Todesfälle sind auf Darminfektionen zurückzuführen. Hier ist ein Zusammenhang mit den sanitären Verhältnissen (allgemeine Hygiene, Trinkwasser, Abwasserentsorgung etc.) nahe liegend. Einer Publikation der Deutsch-Armenischen Gesellschaft ist zu entnehmen, dass derzeit eine Behandlung von komplexen psychischen Krankheiten nicht möglich ist, moderne Verfahren nicht ausreichend bekannt sind, Medikamente und Therapien in aller Regel von den Patienten selbst bezahlt werden müssen und ein soziales Netz kaum vorhanden ist. In Armenien gibt es mehr als 100.000 körperlich und/oder geistig Behinderte, darunter 8.400 Kinder. Ihre Lage ist aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation des Landes Besorgnis erregend. Es fehlen viele technische Hilfsmittel, die bei uns längst selbstverständlich sind. Ein spezielles Problem stellt zum Teil noch immer die prothetische Versorgung bein- oder armamputierter Erdbebenopfer dar. Die Ausgangssituation im ÖKS stellte sich bei meinem ersten Besuch etwa wie folgt dar: Die allgemeine Situation des Kinderspitals scheint nahezu ausweglos. Die materielle Not ist für österreichische Verhältnisse unvorstellbar groß und bedrückend. Nur 30 von 130 Betten sind belegt. Ein Arzt ist als Direktor des ÖKS gesamtverantwortlich. Der Personalstand ist trotz massivem Personalabbau noch immer zu hoch. Wichtige betriebswirtschaftliche Instrumente (Controlling, Marketing, Informations- und Kommunikationsmanagement etc.) fehlen weitgehend. Es gibt kaum Geld für Medikamente, EDV-Unterstützung im klinischen Bereich fehlt gänzlich. Die Küche ist geschlossen, weil es kein Budget für Lebensmittel gibt – Angehörige müssen für Essen und Medikamente selbst aufkommen. Die Beheizung ist mangelhaft und es gibt kein Warmwasser, weil Energie zu teuer ist. Medizinische Geräte sind außer Betrieb, weil Ersatzteile oder die notwendigen Verbrauchsgüter fehlen. Das Österreichische Kinderspital (ÖKS) Das Österreichische Kinderspital liegt in der Stadt Gyumri im Norden Armeniens. Es ist ein staatliches Krankenhaus, als GmbH organisiert und hat 130 Betten. Die Stadt selbst liegt auf 1.500 m Seehöhe und das Klima ist extrem kontinental (sehr heiße Sommer, sehr kalte Winter). Das ÖKS wurde nach dem schweren Erdbeben von österreichischen Organisationen völlig neu errichtet und finanziert. Es zählt zu den modernsten Krankenhäusern in der gesamten Kaukasusregion. Österreichische Krankenhauszeitung (ÖKZ) 46. Jg. (2005), 01-02 http://www.oekz.at Die Mitarbeiter werden sehr schlecht bezahlt. Der karge Monatslohn von etwa 15 bis 20 € (das reicht gerade für ein paar Kilo Fleisch) wird mit zweijähriger Verspätung ausbezahlt. Es gibt kaum Weiterbildung – Unternehmenskultur und Motivation der Mitarbeiter lassen daher sehr zu wünschen übrig. Kundenorientierung und Eigeninitiativen fehlen weitgehend. Eklatantes Misstrauen zwischen den Mitarbeitern und ausgeprägte Einzelegoismen bestimmen den Krankenhausalltag. :: ÖKZ 39 Hilfsprojekt (Obmann ist Franz Karl Prüller, Caritas Österreich) konnte im Vorjahr mit finanzieller Unterstützung der österreichischen Bundesregierung umfangreiche Investitionen im ÖKS durchführen. Unter anderem wurde die Heizung auf Gas umgestellt, wichtige Instandsetzungsarbeiten durchgeführt, medizinische Verbrauchsgüter angekauft und ein umfangreiches Weiterbildungsprogramm für Ärzte realisiert. Auch ein Kooperationsvertrag mit dem KH Scheibbs wurde abgeschlossen. Ziele meiner Arbeit Das Ziel meiner Arbeit ist die Unterstützung, das Österreichische Kinderspital in Gyumri am regionalen Gesundheitsmarkt besser zu positionieren und neu zu organisieren. Im Konkreten geht es darum, die Auslastung zu erhöhen, neue Geschäftsfelder (endoskopische Operationen, erwachsene Patienten) zu realisieren, die Aufbau- und Ablauforganisation zu modernisieren und die Wirtschaftlichkeit nachhaltig zu verbessern. Dies natürlich alles im Rahmen von wesentlichen äußeren Einflussfaktoren (strategische Vorgaben der armenischen Gesundheitsbehörden, Mitbewerber am Gesundheitsmarkt, Intentionen des Vereinsvorstandes). Es ist ein Weg der kleinen Schritte, den es in Armenien zu akzeptieren und zu begehen gilt. Zu Beginn war es wichtig, das Vertrauen der Mitarbeiter des Kinderspitals zu erlangen. Wir mussten bereit sein, voneinander zu lernen. Ich musste begreifen, dass ich in einer ganz anderen „Welt“ als der mir vertrauten war. Ich musste berücksichtigen, dass die Menschen in Armenien einen anderen kulturellen und politischen Erfahrungshintergrund haben. Vieles von dem, was in Österreich selbstverständlich ist, gibt es in Armenien überhaupt nicht oder es stellt sich ganz anders dar. Auch Korruption ist ein Thema. Aktueller Stand der Entwicklung Auch einfache Controllingstrukturen wurden aufgebaut. Zwanzig gebrauchte Personalcomputer wurden vom Verein geliefert. Sie werden schrittweise in Betrieb genommen und vernetzt. Mein Sohn Roland war im Vorjahr mit mir auf Einsatz. Er hat (in Anlehnung an das KH Scheibbs) eine Pflegedokumentation eingeführt. Im April dieses Jahres war ein Facharzt des Krankenhauses Scheibbs mit mir im ÖKS, um seine Erfahrungen in Bezug auf Operationstechniken, Hygiene und Organisation des ärztlichen Dienstes weiterzugeben. Ein Kinderarzt aus Lienz war vor kurzem einen Monat lang im ÖKS und hat seine armenischen Kollegen instruiert und im Rahmen von Vorträgen informiert. Schlussbemerkungen Ich wirke nunmehr seit mehr als drei Jahren ehrenamtlich im Auftrag des „Vereins zur Förderung des Österreichischen Kinderspitals in Gyumri“ mit. Inzwischen konnte ich bei zehn Einsätzen in Armenien ein wenig von meinen beruflichen Erfahrungen weitergeben und gemeinsam mit den armenischen Mitarbeitern vor Ort manches verändern. Hilfe braucht nicht nur den karitativen Zugang. Auch Professionalität ist unverzichtbar, wenn die Hilfe nachhaltig sein soll. Meine Arbeit in und für Armenien erlebe ich in einem großen Spannungsfeld zwischen unserem Überfluss und der Not, die in Armenien oft in sehr bedrückender Weise allgegenwärtig ist. Ich bin mir der Begrenztheit bewusst, all das Erlebte in eigenen Worten auszudrücken. Dieser Bericht stellt vor allem den persönlichen Versuch dar, relativierende Einblicke in die Lebensumstände von Menschen zu geben, denen ich in Dankbarkeit verbunden bin. Spendenkonto: Armenienprojekt von Prof. G. Peter, KontoNr. 40899, Sparkasse Scheibbs, Blz 20257, BIC: SPSBAT21, IBAN: AT192025700000040899 WEBT!PP www.oeffentlicherdienst.at/free/armenia (Verein zur Unterstützung des Öster- Trotz der schwierigen Bedingungen konnte einiges im positiven Sinne verändert werden. So ist die Auslastung innerhalb von drei Jahren sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich um etwa 50% gestiegen. Mit der Behandlung von Erwachsenen wurde begonnen. Es gibt seit kurzem einen neuen engagierten Leiter, der in den Krankenhäusern Feldkirch und Scheibbs Praktika absolviert hat. Der Verein 40 ÖKZ :: reichischen Kinderspitals in Gjumry, Armenien) Prof. Günter Peter A 3270 Scheibbs, Schmelzergasse 19 Tel.: +43 / (0)7482 / 42202 Mobil: +43 / (0)664 / 3378065 [email protected], www.gpeter.at Österreichische Krankenhauszeitung (ÖKZ) 46. Jg. (2005), 01-02 http://www.oekz.at