Auf Besuch in Armenien
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Auf Besuch in Armenien
A V E N I R S O C I A L | IFSW Europe Auf Besuch in Armenien Impressionen anlässlich der Delegiertenversammlung 2012 von IFSW Europe in Jerewan Text: Stéphane Beuchat und Klaus Kühne Die diesjährige Delegiertenversammlung der «International Federation of Social Workers Europe» (IFSW Europe) fand auf Einladung des armenischen Sozialarbeiterverbandes in der dortigen Hauptstadt Jerewan statt. Vertreten waren 22 der 39 Mitgliedsländer. Stéphane Beuchat nahm als Schweizer Dele gierter teil, Klaus Kühne als Vorstandsmitglied von IFSW Europe. Neben der Delegierten versammlung blieb auch Zeit für Einblicke in die reichhaltige alte Kultur, die leidvolle Ge schichte und die aktuellen Herausforde rungen Armeniens. Die Delegiertenversammlung dauerte insgesamt drei Tage. Schwerpunkt war die Berichterstattung, Beratung und Weiterentwicklung des Arbeitsprogramms in den vier Tätigkeitsbereichen des Verbands: Menschenrechte, Sozialpolitik, Professions- und Organisationsentwicklung. Der ehrenamtliche Vorstand von IFSW Europe vertritt ca. 40 nationale Verbände mit über 170 000 Sozialarbeitenden. Er leistet eine immense Arbeit im Lobbying für eine europäische Sozialpolitik und für die Professionalisierung der Sozialen Arbeit in der EU und im Europarat. Die Delegiertenversammlung verabschiedete eine Stellungnahme zur Finanzkrise und zu deren Auswirkungen auf die So zialsysteme Europas. IFSW Europe sieht dabei die stetig wachsende Kluft zwischen Reichen und Armen in Europa als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Statt ausschliesslich auf Sparbemühungen zu setzen, verlangt der IFSW mehr «soziale Investitionen». Die Aufgaben der Sozialen Arbeit nehmen im Zeichen der Krise stetig zu. Ohne ausreichende Ressourcen kann sie ihren Auftrag, die Grundsicherung für die BürgerInnen wahrzunehmen, aber nicht erfüllen. Für die Vorstandsarbeit trat Klaus Kühne nicht mehr an, da er neu Hauptrepräsentant von IFSW World bei den Vereinten Nationen in Genf ist. Stéphane Beuchat wurde per Akklamation in die «Global Commission on Human Rights» gewählt und wird diese Aufgabe zusammen mit der portugiesischen Kollegin Maria Graça übernehmen. 42 SozialAktuell | Nr. 7/8 _Juli/August 2012 Delegierte aus ganz Europa vor dem Genozid-Denkmal für die Opfer des Völkermords von 1915: Mit dabei sind IFSW-Generalsekretär Nicolai Paulsen (mit blauem Hemd, in der Mitte), der Schweizer Delegierte Stéphane Beuchat (mit weissem Hemd, in der Mitte), Gastgeberin Mira Antonyan vom armenischen Berufsverband (sechste Person von rechts, im orangen Shirt) sowie der aus dem IFSW-Vorstand austretende Klaus Kühne (Fünfter von rechts). Soziale Arbeit in Armenien Nach dem Ende der Sowjetunion, in der es keine professionelle Soziale Arbeit gab, brach in Armenien in vielen Bereichen auch die staatliche soziale Absicherung zusammen. Das traditionelle Familien system, kirchliche und internationale Organisationen sowie staatliche Notprogramme für die vielen Flüchtlinge und Kriegsopfer halfen in der ärgsten Krisenzeit über die grösste Not hinweg. Erste Ausbildungen im Sozialbereich wurden nach dem grossen Erdbeben von 1988 von ausländischen Hilfswerken angeboten, die lokal qualifiziertes Personal brauchten. Daraus entstanden die heutigen Studiengänge in Sozialer Arbeit und in Sozialpädagogik gemäss dem Bologna-Modell. In der Sozialhilfe im staatlichen Sektor sind in Armenien häufig Beamte ohne Fachausbildung tätig. Ausgebildete Sozialarbeitende finden vorwiegend Anstellungen in NGO, die meist von der Diaspora, von ausländischen Hilfswerken oder aus internationalen Entwicklungsprogrammen finanziert werden. Ein Schwerpunkt der Sozialen Arbeit liegt im Kinder- und Jugendschutz, wobei staatliche Stellen, aber auch Diasporaorganisationen vor al- lem die Versorgung in Kinderheimen anstreben. NGO bemühen sich um moderne Formen der Familienhilfe und ambulanter Versorgung. Das Sozialwesen wird zurzeit reorganisiert, da die Aufnahme internationaler Kredite Einsparungen bei den Sozialausgaben verlangt. Ein Land voller Gegensätze Armenien ist der erste Staat, der das Christentum als offizielle Religion angenommen hat. Zahlreiche alte Kirchen und Klöster zeugen von dieser Geschichte. Nach siebzig Jahren Sowjetherrschaft nimmt die Kirche wieder eine wichtige Stellung ein, was sich in neu errichteten Priesterseminaren und kirchlichen Sozialeinrichtungen zeigt. Armenien muss in einer feindlichen islamischen Umgebung bestehen. Zur Türkei sind die Grenzen geschlossen. Der Genozid an den Armeniern (1915) ist noch immer sehr präsent, und dessen politische Auf arbeitung und Anerkennung durch die Türkei steht immer noch aus. Mit dem östlichen Nachbarland Aserbaidschan besteht nach dem offenen Krieg um die von Armeniern bewohnte, aber zu Aserbaidschan gehörende Region Berg Karabach Verbandsnachrichten | A V E N I R S O C I A L mit Massenvertreibungen und vielen Toten weiterhin ein latenter Kriegszustand. 1988 erschütterte ein katastrophales Erdbeben weite Teile des Landes. Eine grosse Zahl von Flüchtlingen und Opfern musste notdürftig untergebracht werden. Die eilig hochgezogenen, unfertig erscheinenden Hochhaussiedlungen und riesige zerfallende Industrieanlagen aus der Sowjetzeit prägen die Aussenbezirke von Jerewan. Grosszügige Boulevards, weitläufige Grünanlagen und massive Repräsentativbauten kennzeichnen die Innenstadt, in der Reichtum protzig zur Schau gestellt wird. In der pulsierenden Hauptstadt Jerewan lebt rund ein Drittel der Bevölkerung, die restlichen 2 200 000 Armenier verteilen sich auf einer Fläche, die der deutschsprachigen Schweiz entspricht. 40% der Bevölkerung leben noch von der Landwirtschaft. Die Armut und die Arbeitslosigkeit sind gross. Das Durchschnittseinkommen beträgt unter 150 Franken im Monat. Viele Armenier, aber auch soziale, kulturelle und öffentliche Einrichtungen werden durch die grosse Diaspora unterstützt. Mehr als zwei Drittel aller Armenier leben im Ausland, vorwiegend in Russland, Nordamerika, Europa und im Nahen und Mittleren Osten. Mehr Informationen zu IFSW Europe unter http://ifsw.org/europe Nr. 7/8 _Juli/August 2012 | SozialAktuell 43