2. Leseprobe - STARK Verlag
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Abiturprüfung Hessen 2016 – Deutsch Leistungskurs Vorschlag C Der Mensch zwischen Natur und Zivilisation Erlaubte Hilfsmittel: 1. ein Wörterbuch der deutschen Rechtschreibung 2. eine Liste der fachspezifischen Operatoren Aufgaben: 1. Fassen Sie den Inhalt der Kurzgeschichte von Sibylle Berg zusammen und interpretieren Sie den vorliegenden Text. (Material 1) (35 BE) 2. Vergleichen Sie die Kurzgeschichte (Material 1) mit dem expressionistischen Gedicht von Alfred Lichtenstein (Material 2) im Hinblick auf das Verhältnis des Menschen zur Natur. (35 BE) 3. „In Sachen Natursehnsucht und Waldliebe hatte bereits die romantische Tradition den Ton vorgegeben. […] Zu diesem kulturellen Muster, wie es in romantischer Literatur, Malerei und Musik vermittelt wird, gehört von Anfang an die Erfahrung des Verlustes. Natürliche Wälder gab es damals längst nicht mehr. Die romantische Natursehnsucht war eine Erfindung von Stadtbewohnern, von Dichtern und Malern, die zu den wirtschaftlich intensiv genutzten, schon damals sorgfältig hergerichteten Waldlandschaften räumlich und emotional auf Distanz gegangen waren. Das war die Voraussetzung dafür, die harmonische Geschlossenheit und geordnete Wildheit der Wälder wahrzunehmen und zu preisen.“ Albrecht Lehmann: Der deutsche Wald, in: Etienne François / Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München: C.H. Beck 2009. Erläutern Sie unter Berücksichtigung des Zitats typische Züge der romantischen Natursehnsucht und überprüfen Sie vor dem Hintergrund Ihrer Epochenkenntnisse, inwieweit die moderne Kurzgeschichte von Sibylle Berg (Material 1) als romantisch gelten kann. (30 BE) LK 2016-23 Material 1 Sibylle Berg: Nacht (2001) 5 10 15 20 25 30 35 Sie waren mit Tausenden aus unterschiedlichen Türen in den Abend geschoben. Es war eng auf den Straßen, zu viele Menschen müde und sich zu dicht, der Himmel war rosa. Die Menschen würden den Himmel ignorieren, den Abend und würden nach Hause gehen. Säßen dann auf der Couch, würden Gurken essen und mit einem kleinen Schmerz den Himmel ansehen, der vom Rosa ins Hellblaue wechseln würde, dann lila, bevor er unterginge. Eine Nacht wie geschaffen, alles hinter sich zu lassen, aber wofür? Sie funktionierten in dem, was ihnen Halt schien, die Menschen in der Stadt, und Halt kennt keine Pausen, Regeln, keine stille Zeit, in der Unbekanntes Raum hätte zu verunsichern mit dummen Fragen. Das Mädchen und der Junge gingen nicht nach Hause. Sie waren jung, da hat man manchmal noch Mut. Etwas ganz Verrücktes müsste man heute tun, dachten beide unabhängig voneinander, doch das ist kein Wunder, denn bei so vielen Menschen auf der Welt kann es leicht vorkommen, dass sich Gedanken gleichen. Sie gingen auf einen Berg, der die Stadt beschützte. Dort stand ein hoher Aussichtsturm, bis zu den Alpen konnte man schauen und konnte ihnen Namen geben, den Alpen. Die hörten dann darauf, wenn man sie rief. Die beiden kannten sich nicht, wollten auch niemanden kennen in dieser Nacht, stiegen die 400 Stufen zum Aussichtsturm hinauf. Saßen an entgegengesetzten Enden, mürrisch zuerst, dass da noch einer war. So sind die Menschen, Revierverletzung nennt man das. Doch dann vergaßen sie die Anwesenheit und dachten in die Nacht. Vom Fliegen, vom Weggehen und Niemals-Zurückkommen handelten die Gedanken, und ohne dass es ihnen bewusst gewesen wäre, saßen sie bald nebeneinander und sagten die Gedanken laut. Die Gedanken ähnelten sich, was nicht verwundert, bei so vielen Menschen auf der Welt, und doch ist es wie Schicksal, einen zu treffen, der spricht, was du gerade sagen möchtest. Und die Worte wurden weich, in der Nacht, klare Sätze wichen dem süßen Brei, den Verliebte aus ihren Mündern lassen, um sich darauf zum Schlafen zu legen. Sie hielten sich an der Hand, die ganze Nacht, und wussten nicht, was schöner war. Die Geräusche, die der Wind machte, die Tiere, die sangen, oder der Geruch des anderen. Dabei ist es so einfach, sagte der Junge, man muss nur ab und zu mal nicht nach Hause gehen, sondern in den Wald. Und das Mädchen sagte, wir werden es wieder vergessen, das ist das Schlimme. Alles vergisst man, das einem gut tut, und dann steigt man wieder in die Straßenbahn, morgens, geht ins Büro, nach Hause, fragt sich, wo das Leben bleibt. Und sie saßen immer noch, als der Morgen kam, als die Stadt zu atmen begann. Tausende aus ihren Häusern, die Autos geschäftig geputzt, und die beiden erkannten, dass es das Ende von ihnen wäre, hinunterzugehen ins Leben. Ich wollte, es gäbe nur noch uns, sagte der Junge. Das Mädchen nickte, sie dachte kurz: So soll das sein, und im gleichen Moment verschwand die Welt. Nur noch ein Aussichtsturm, ein Wald, ein paar Berge blieben auf einem kleinen Stern. Aus: Sibylle Berg: Das Unerfreuliche zuerst. Herrengeschichten, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001, S. 115 f. LK 2016-24 Material 2 Alfred Lichtenstein: Der Ausflug (1912) 5 10 15 Du, ich halte diese festen Stuben und die dürren Straßen Und die rote Häusersonne, Die verruchte Unlust aller Längst schon abgeblickten Bücher Nicht mehr aus. Komm, wir müssen von der Stadt Weit hinweg. Wollen uns in eine sanfte Wiese legen. Werden drohend und so hilflos Gegen den unsinnig großen, Tödlich blauen, blanken Himmel Die entfleischten, dumpfen Augen, Die verwunschnen, Und verheulte Hände heben. – Aus: Alfred Lichtenstein: Der Ausflug, in: Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus, hrsg. v. Kurt Pinthus, Hamburg 1959, S. 60. Hinweise zu Material 1 und 2: Sibylle Berg, geboren 1962, ist Autorin zahlreicher Romane, Kolumnen und Theaterstücke. Alfred Lichtenstein (1889 –1914) war ein deutscher Schriftsteller des Expressionismus. Die Rechtschreibung beider Texte entspricht den Textvorlagen. Hinweise und Tipps r Die Textgrundlagen für den Ihnen aufgegebenen Motivvergleich sind überschaubar. r Sie sind davon entlastet, umfangreiche Lektüren zusammenfassen und einbeziehen zu r müssen, und einige Vergleichsmomente liegen unmittelbar auf der Hand. Umso mehr r kommt es darauf an, dass Sie differenziert und sorgfältig arbeiten und etwa auf den r Erzählton der Kurzgeschichte achten und den lyrischen und klanglichen Charakter r des Gedichts ansatzweise zu würdigen verstehen. r Lesen Sie beide Texte (M 1 und M 2) mehrfach, hören Sie sich ein, stellen Sie Fragen r zu Struktur und Entwicklung des Geschehens und markieren Sie sprachliche Besonr derheiten, die in der Kurzgeschichte vielleicht auch syntaktischer Art sind. Der Text r von Sibylle Berg ist in seiner anscheinenden Schlichtheit ziemlich vertrackt: Nehmen r Sie sich Zeit dafür. Ein Ausschnitt aus einem Roman dieser Autorin war im Abitur r 2013 LK-Thema. Auch darin wurden Abend, Himmel und Nacht als Aufforderung r verstanden, sein Leben zu ändern. Verlieren Sie während der Beschäftigung mit dem r Gedicht in Aufgabe 2 den geforderten Vergleich nicht aus den Augen. r Da in Aufgabe 3 Material 1 auf romantische Literatur und Denkweise zurückzuber ziehen sind, empfiehlt es sich, sich in einem Brainstorming zu notieren, welche ror mantischen Dichter und Werke Ihnen einfallen, in denen insbesondere die Opposition r von Arbeitswelt und Natur, Nacht, Wald und Waldesrauschen gestaltet sind. Günstig r wäre es, wenn Ihnen ein paar Gedichtzeilen zum Thema in den Sinn kämen. LK 2016-25 Lösungshinweise 1. Die 2001 erschienene Kurzgeschichte Nacht von Sibylle Berg (geb. 1962) erzählt davon, wie ein Mädchen und ein Junge nach der Monotonie des Arbeitsalltags eines Abends nicht nach Hause gehen wie das Heer der anderen Berufstätigen Tag für Tag, sondern unabhängig voneinander die Stadt verlassen, den Weg zum Wald hin einschlagen und auf einem Berg einen Aussichtsturm besteigen. Sie kennen sich nicht, und zunächst ärgert es jeden von ihnen, dass sie die Aussichtsplattform nicht für sich alleine haben. Aber unversehens erleben sie den Einklang ihrer Gedanken, sie bleiben Hand in Hand die ganze Nacht lang zusammen auf dem Turm, und als es Morgen wird, wünschen sie sich, nie mehr hinunter- und zurückgehen zu müssen ins gewöhnliche Leben. Der Schluss ist ambivalent. Es bleibt in der Schwebe, was aus ihnen werden wird oder gerade geworden ist. Die Kurzgeschichte ist dreiteilig. Im ersten Absatz charakterisiert der auktoriale Erzähler (ab jetzt: die Erzählerin) distanziert und missbilligend Rushhour und Feierabend in einer großen Stadt. Die Menschen ergießen sich zu Tausenden aus Geschäften und Büros auf die Straßen, ohne selber eigentlich beteiligt zu sein, sie „waren“ vielmehr „in den Abend geschoben“ (Z. 1). Sie sind zu viele, das Gedränge ist zu groß, um darin stehenbleiben und auf die Schönheit des Abendrots achten zu können. Sie sind müde und stumpf. Die Erzählerin kann sich genau vorstellen, wie es nun weitergehen wird; und sie weiß, wie diese Menschen „funktionieren“, denn es ist das immer Gleiche: Sie würden zu Hause noch etwas auf dem Sofa sitzen, Gurken essen und mit einer ihnen kaum bewusst werdenden Wehmut registrieren, wie sich der Abendhimmel verdunkelt, bis nichts mehr von ihm zu sehen ist. Sie urteilt (vgl. Z. 2.), kommentiert (vgl. Z. 7 ff.) und wertet. Die anbrechende Nacht etwa ist in ihren Augen etwas Kostbares und „wie geschaffen, alles hinter sich zu lassen“ (Z. 6). Die Antwort auf die Frage, wofür man diese Nacht besser hätte gebrauchen können, als Gürkchen zu knabbern, findet sich im zweiten Absatz. Zwei junge Leute verlassen die Stadt. Jeder von ihnen spürt das Verlangen, an diesem Abend etwas „ganz Verrücktes“ (Z. 11) zu machen. Es ist für beide also wie eine Revolte, in die Natur zu gehen, Stille zu finden, nachzudenken, zu sich zu kommen und zu träumen. Ihr Aufbruch wird als „Mut“ gewürdigt (Z. 11), denn sie setzen sich dem Erleben aus, während die anderen diesen Mut nicht aufbringen, sondern „Halt“ (Z. 7 f.) suchen und Schutz vor vielleicht irritierenden existenziellen Fragen. Die Natur als offener, vielleicht sogar gefährlich offener Raum steht also in Opposition zur Stadt mit ihren berechenbaren Abläufen. Es ereignet sich, was beide unabhängig voneinander wohl dunkel ersehnt haben: Sie finden Zugang zu ihren Gefühlen (vgl. Z. 20 ff.), und sie finden zusammen. Der dritte Absatz gilt dem Erwachen ihrer Wahrnehmungsfähigkeit. In der Stille der Nacht werden ihre Sinne für das Leben der äußeren Natur um sie herum wach (vgl. Z. 28) und zugleich für ihre zuvor verschüttete innere Natur: für ihre eigenen tiefen Bedürfnisse und Empfindungen. Es tue gut, so einträchtig Hand in Hand zu sitzen (vgl. Z. 31); etwas Schöneres können sie sich nicht vorstellen (vgl. LK 2016-26