Thema: Interpretation einer Kurzgeschichte „Die Kurzgeschichte ist

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Thema: Interpretation einer Kurzgeschichte „Die Kurzgeschichte ist
Thema: Interpretation einer Kurzgeschichte
„Die Kurzgeschichte ist das Chamäleon der literarischen Gattungen.“ Sagt Hans
Bender einmal. Die Geschichte „Hauptsache weit“ von Sibylle Berg ist in
hervorragendes Beispiel für die Komposition und Wirkungsweise einer
Kurzgeschichte. Diese erkennt man meist an ihrer Offenheit. Der Leser wird ohne
große Einleitung direkt in die Erzählung gestoßen. Hier wird außerdem der Name der
Hauptperson nicht genannt und man erfährt sehr wenig von seinem früheren Leben.
Auch das Ende ist offen. Ein weiteres Merkmal ist der Zeitpunkt, zu dem die
Handlung stattfindet. Es ist wahrscheinlich einer der bedeutendsten Punkte im
bisherigen Leben der Hauptperson. Es handelt sich wohl um einen Wendepunkt, der
sein weiteres Leben erheblich beeinflussen wird. Trotzdem ist der Protagonist, wie
das in vielen Kurzgeschichten der Fall ist, kein Held. Es handelt sich um einen recht
normalen Jungen, der gerade erwachsen wird oder geworden ist. Dies und der
fehlende Name tragen dazu bei, dass man die Geschichte universell sehen kann. Sie
kann auf andere Menschen übertragen werden, denn dieser Text wurde nicht
geschrieben, als wäre sie ein besonderer Einzelfall. Ein weiteres Merkmal der
Kurzgeschichte ist die Simultaneität der Handlung. Die Autorin springt in ihrer
Erzählung mehr als einmal in die Vergangenheit, indem sich der Junge an die Zeit
vor seiner großen Reise erinnert. So kann sich der Leser besser in seine Gefühlswelt
hineinversetzen.
Die Geschichte handelt von einem „Jungen“ (Z. 4) oder jungen Mann von 18 Jahren,
der ab der ersten Zeile von der Autorin bzw. dem auktorialen Erzähler nur „er“
genannt wird. Er ist mit der Schule fertig und möchte nun sein Leben genießen,
indem er seine dreimonatige Reise durch Asien antritt. Allerdings macht ihm die
Fremde zu schaffen: das Essen, die Kultur, der Schmutz. Er vermisst seine Sprache
und wünscht sich nichts sehnlicher, als aus seiner Anonymität zu fliehen. Er vermisst
Dinge, die ihm früher nicht so wichtig waren: deutsches Fernsehen,
„Klatschgeschichten“ (Z. 36) und das Internet. Dann entdeckte er ein Internetcafé
und während er am Computer sitzt, fühlt er sich nach langer Zeit wieder geborgen.
Sibylle Berg wurde 1962 geboren, die Geschichte schrieb sie 2001. In dieser
Zeitspanne unterlag Deutschland einiger sowohl technischer als auch mentaler
Veränderungen. Es entstand ein neuer Zeitgeist, der ständig neue Fortschritt rückte
gerade um die Wende zum Jahr 2000 besonders in den Vordergrund. Doch dem
Thema werde ich mich später erneut zuwenden.
Die Geschichte beginnt mit den Worten „Und weg, hatte er gedacht.“. Dies ist der
tragende Gedanke, der Gedanke, mit dem die Misere des Jungen beginnt. Er fand
die Vorstellung verlockend, ein fremdes Land zu entdecken. Er hatte das Gefühl,
„sein Leben hatte noch nicht begonnen“ (Z. 2). Er wollte der Enge entfliehen, die in
seinen Augen von der Schule ausging und von seiner Heimat. „Das ist so eng, so
langweilig.“ (Z. 18). Die Anapher verstärkt den Eindruck, den der Leser vom
Lebensgefühl des Jungen bekommt. Er wollte etwas Besonderes erleben und „mit
1000 Dollar durch Thailand, Indien, Kambodscha“ reisen (Z. 16) und hielt das
wahrscheinlich für eine recht romantische Vorstellung. Danach wollte er „wohl später
nach London gehen, was Kreatives machen“ (Z. 6f). Das zeigt seine Vorstellung vom
Leben. Er will seine Volljährigkeit, seine gewonnene Freiheit auskosten. „Später“
(Z.7) einen Beruf auszuüben hatte er ja vor, doch bis dahin wollte er seine neue
Freiheit nicht mit Verantwortung zerstören. Er wollte Spaß haben und das Gefühl,
kreativ, abenteuerlustig und weltoffen zu sein. Würde er jetzt mit 18 Jahren in
Deutschalnd bleiben, würde er wohl denkne, er hätte etwas verpasst. Auch kannte er
bis dato „noch keine Enttäuschung“ (Z. 4), was bereits vermuten lässt, dass er sich
zu naiv auf den Weg macht, ohne an mögliche negative und ernüchternde Folge zu
denken. Dann springt die Handlung ins Jetzt. Der Absatz beginnt direkt mit zwei
rhetorischen Fragen: „Und nun? Warum kommt der Spaß nicht?“ Hier bekommt der
Leser die Ratlosigkeit des Protagonisten vermittelt, der in einem Zimmer „hockt“
(Z.9), das grün von einer Neonleuchte ist. Es hat keine Fenster, dafür aber einen
lauten Ventialtor (Z. 10f). Es entsteht ein negatives Wortfeld, in dem die Bedrängnis
des Kungen deutlich wird. Die Autorin führt den Leser so in seine jetzige Gefühlswelt
ein. „Schatten huschen“ (Z. 11) personifiziert durch den Raum, ein immer größeres
Unbehagen wird erzeugt, was schließlich recht nüchtern mit den Worten
zusammengefasst wird: „Das Glück ist das nicht“ (Z. 12). Obwohl man das Gefühl
hat, er sei noch nicht allzu lang unterwegs, hat der Junge offenbar schon all seine
romantischen Vorstellungen verloren. Es folgt ein Rückblick. Er erinnert sich an die
Zeit, bevor er losgezogen ist. Neben der bereits genannten Enge wrid auch sein Bild
von der Heimat, also Deutschland mit seinen „blassen Freunde[n]“ (Z. 19f) deutlich.
Sie spiegeln auch die damalige Ansicht von seiner Heimat wider: blass und
langweilig. Damals war er sich noch sicher, dass er viele neue Menschen kennen
lernt. Doch auhc diese Vorstellung hat sich weitestgehend geklärt. Er hatte
„hauptsächlich Mädchen kennen gelernt“ (Z. 22), die auch auf der Reise waren, wie
er. Sie seien zwar „nett“ (Z. 22), aber auch „komisch“ (Z. 26). Was ihm am meisten
auffällt, ist die tatsache, dass sie zwar auch erst so alt sind wie er, sich jedoch nicht
so benehmen, sondern als wären sie viel älter. Es drängt sich ihm der Gedanke auf,
dass er in wenigen Tagen in Laos sein wird, die nächste Station seiner Reise. Doch
er möchte nicht weiter. Ihm ist nach Weinen zumute, doch nicht mal aufs Bett werfen
kann er sich, weil er sich zu sehr vor dem Dreck ekelt. Auch fernsehen kann er nicht,
weil er ja nichts versteht und ihm alles fremd ist. Das ist in seinen Augen „das
Zeichen, dass man einsam ist“ (Z. 31). Hier kommt zum Ausdruck, wie sehr alle
Menschen heute an das Zeitalter der modernen Technik gewöhnt sind. Ein junger
Mann ist mit dem ständigen Informationsüberfluss aufgewachsen und vollkommen
damit vertraut. Er vermisst es sogar, ständig mit unwichtigen Neuigkeiten versorgt zu
werden. Er sehnt sich nach „Stefan Raab, nach Harald Schmidt“, die ihm zwar in
seiner Situation absolut nicht helfen könnten, aber das Gefühl der Fremdheit nehmen
würden, ihm etwas geborgenheit schenken könnten. Er hat das Gefühl, „dass er gar
nicht existiert, wenn es nichts hat, was er kennt“ (Z. 35). Dieses Gefühl entsteht
durch die ständige Fremde. Er kann niemanden verstehen und wird von niemandem
verstanden und dieser Gedanken bedrängt ihn noch mehr. Die Autorin fügt jedoch oft
Sätze an wie: „Denkt er“. Damit will sie dem Leser scheinbar vermitteln, dass dem
nicht so ist. Dass der Junge eigentlich gar nicht so unbedeutend und fremd ist, wie er
denkt.
Während er seinen Gedanken nachhängt, geht der Junge scheinbar
traumwandlerisch auf die Straße und betritt ein Cafe, wo er sich allerdings auch nicht
besser oder gebrogener fühlt, sondern trotz Menschen wie der Serviererin weiterhin
fremd. Schließlich spricht niemand seine Sprache und es gibt kein ihm vertrautes
Essen. Seine Gefühle, seine Einsamkeit werden dem Leser deutlich durch die
Wiederholung des Wortes „fremd“ (Z. 40). Er steigert sich in die Verzweiflung hinein.
Würde er sterben, würde es niemanden interessieren „und niemand würde weinen
darum“. Bei dem Gedanken, dass er hier weit und breit niemanden hat, dem er
wichtig sein könnte und der sich für ihn interessiert, muss er nun doch weinen und
denkt verzweifelt daran, wie lange noch die Zeit ist, bis er seine drei Monate endlich
hinter sich hat. Es folgt wieder ein melancholischer Rückblick, wie toll er sich alles
vorgestellt hat. Und wie „cool“ alles sein sollte (Z: 50) bzw. wie cool er sein wollte auf
dieser Entdeckungsreise. Spätestens hier wird ein Wandel der Bedeutung, die die
Länder für ihn haben, sichtbar. Zu Hause fühlte er sich eingeengt und nicht fähig,
sich zu entfalten. Diese Sicht veränderte sich jedoch in der Zeit, die er bereits im
Ausland verbracht hat. Für ihn bedeutet Asien jetzt Enge, Bedrängnis und
Einsamkeit. Seine Heimat würde jedoch größte Geborgenheit und Frieden bedeuten.
Doch er ist weit entfernt von seiner Heimat, ausgelaugt und desillusioniert „mit
Sonnenbrand und Heimweh nach den Stars zu Hause“ (Z. 50f). Sie wären für ihn
eine Hilfe durch diese Zeit, ein Stück vertrautheit, mit der er seine Reise leichter
fortsetzen könnte. Und dann plötzlich mitten in seinen Gedanken über die Fremde
erfährt die Geschichte eine Wendung, von der sowohl der Protagonist als auch der
Leser überrascht wird. Der Junge „sieht […] etwas, sein Herz schlägt schneller“.
Diese heftige Aufregung wird verursacht durch ein Internetcafe, für ihn eine
Verbindung zur Realität, also zu seiner Heimat, ein Seil, an dem er sich aus seiner
Melancholie ziehen kann. Und plötzlich ist alles halb so schlimm und ganz
selbstverständlich begibt er sich in die ihm gut vertrauten Weiten des Internets, wo er
durch E-Mails endlich in seiner Sprache Kontakt zu seinen Freunden aufnehmen
kann. Ihnen schreibt er, „dass es ihm gut gehe“ (Z. 56) und seine ganzen bisherigen
Probleme werden auf einmal ganz klein. Er ist auch plötzlich völlig unbeeindruckt von
den „Insekten so groß wie Meerkatzen“ (Z. 58) auf dem Boden. Diese Hyperbel zeigt,
wie schlimm sie noch vor wenigen Augenblicken für ihn waren und dass sie ihm auf
einmal egal sind. Er fühlt sich so geborgen in dieser virtuellen Realität, dass „die
fremde Welt um ihn verschwimmt“ (Z. 61). Es ist für ihn eine solche Wohltat aus der
echten Welt zu flüchten, dass der Bildschirm sogar mit einem „weichen Bett“
verglichen wird (Z. 62f). Wie er noch vor einigen Wochen dachte, er würde sich
lebendig fühlen, wenn er durch Asien reise, so fühlt er sich jetzt lebendig, wenn er
Sachen tut, die ihm früher nie so wichtig, sondern nur kleine Details seines Alltags
waren. Das Internet hat für ihn in dem Moment allerdings keine Bedeutung von Spiel
und Spaß, wie man das von vielen Jugendlichen kennt. In dieser Nacht ist das World
Wide Web tatsächlich so wichtig, weil es weltweit ist. Er nutzt seine Funktion als
grenzenübergreifende Einrichtung, durch die der Nutzer, egal in welchem Land er
sich befindet, da sein kann, wo er möchte. Es überbrückt die Distanz zur Heimat und
schafft Vertrautheit.
In den letzten Jahren sind in unserer Gesellschaft zwei Dinge sehr wichtig geworden,
besonders bei Jugendlichen: ständiger Anschluss und telekommunikative
Vernetzung und der Anspruch, anders zu sein. Jugendliche träumen davon, etwas
Besonderes zu sein, bemerken dabei allerdings oft nicht, dass es zum
Gruppenzwang wird, außergewöhnlich zu sein. So singt auch der Musiker Farin
Urlaub schon sehr treffend: „Alles, was wir so anstellen, um anders zu sein als die
anderen, ist nichts als Schein.“ Ein ähnlicher Gedanke muss auch den Protagonisten
überkommen haben. Aber ich denke, gerade eine solche Erfahrung kann sehr
förderlich für die Reife eines Menschen sein. Jeder Mensch braucht schlechte
Erfahrungen, um sie später vermeiden zu können. Dabei meine ich nicht, dass eine
Erfahrung wie eine Ländertour schlecht ist. Sie ist zwar in dieser Geschichte ein
negatives Erlebnis, doch kann sie mitunter auch eine sehr schöne Erfahrung sein.
Doch dabei geht es weniger in „Hauptsache weit“. Die Geschichte handelt vielmehr
von enttäuschten Erwartungen, von Einsamkeit und vom Internet als Retter in der
Not. Wir sprechen zwar immer vom technischen Fortschritt, doch ist es tatsächlich
eine Errungenschaft, abhängig von digitalen Medien zu sein, wo man sich auch
befindet? Kann es tatsächlich gut sein, mehr Freunde im Internet zu haben, als in der
Realität? Und ich denke auch nicht, dass sich die Situation des Jungen in dieser
Nacht verbessert. Wenn er den Computer ausschaltet, wird er wieder genauso
einsam sein wie vorher und das ist das Problem. So sehr in einer Sache zu
versinken, die nur so kurze Befriedigung verschafft, ist sicherlich keine
Errungenschaft.
Ich denke, Sibylle Berg wollte den Leser mit der Geschichte auf ebendiesen
Sachverhalt und die bereits erwähnte Sehnsucht junger Menschen, etwas
Besonderes zu sein, aufmerksam machen.

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