Geburt: «Deine Hormone helfen dir!

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Geburt: «Deine Hormone helfen dir!
F O K U S
Ein Text für Schwangere
Geburt: «Deine Hormone
Wenn eine schwangere Frau das komplexe Zusammenspiel der Geburtshormone versteht, so kann dies das Vertrauen in ihren Körper entscheidend
vertiefen. Die hormonellen Vorgänge zu erklären ist nicht ganz einfach.
Die australische Ärztin Sarah Buckley tut es präzise und anschaulich zugleich.
Ihre Beschreibung können Hebammen für ihre Klientinnen kopieren und
gemeinsam mit ihnen besprechen.
Sarah Buckley
Stellen Sie sich vor, Ihre Katze erwartet
Junge, und diese sollen etwa zur gleichen
Zeit wie Ihr Baby auf die Welt kommen.
Ihr Köfferchen fürs Spital ist gepackt, Sie
warten ungeduldig und auch etwas nervös darauf, dass die Geburt losgeht.
Inzwischen hat sich die Katze ein verborgenes Plätzchen gesucht – in der Schublade, wo die Socken liegen oder im
Wäschekorb – wo sie sich ungestört
glaubt. Sie gehen nachschauen, und die
Katze zieht sofort um. Fasziniert erkennen Sie, dass Ihre Beobachtung, ja nur
schon Ihre Gegenwart den ganzen Geburtsprozess der Katze zu stören scheint.
Und so sehr Sie auch wünschen, einen
Blick auf das Geheimnis der Geburt zu erhaschen, bevor Ihre eigene Geburt beginnt, entdecken Sie Ihre Katze höchstwahrscheinlich am nächsten Morgen im
Wäscheschrank, wo sie ihre vier neugeborenen Kätzchen sauber leckt.
Unsere Säugetier-Wurzeln
Warum scheint das Gebären für unsere
Haustiere so einfach und für uns so
schwierig zu sein? Ein offensichtlicher
Unterschied zwischen Tier und Mensch
betrifft die Form des Beckens und des Geburtskanals, als Folge unseres aufrechten
Gangs. Unsere Babys müssen sich drehen
und biegen, um diese unter den Lebewesen einzigartigen Windungen zu umschiffen, während unsere nächsten Cousins, die Menschenaffen, einen praktisch
geraden Geburtskanal haben.
In jeder anderen Hinsicht hingegen
läuft die Geburt beim Menschen genau
gleich wie bei den Säugetieren ab und
wird von denselben Hormonen – chemischen Botenstoffen im Körper – gesteuert. Diese Hormone, die im tiefstgelegenen und ältesten Teil unseres Gehirns pro-
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Hebamme.ch
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Sage-femme.ch
duziert werden, setzen den physischen
Prozess der Geburt in Gang. Sie üben
aber auch einen grossen Einfluss auf
unsere Emotionen und auf unser Verhalten aus. Forscher wie der französische
Arzt und Pionier der natürlichen Geburt
Michel Odent sind überzeugt: Wenn wir
unsere Säugetier-Wurzeln und die Hormone, die wir mit den Säugetieren gemeinsam haben, besser berücksichtigen,
so steigen unsere Chancen für eine unkomplizierte Geburt.
Wehenarbeit und Geburt sind von
Höchstmengen der Hormone Oxytocin –
manchmal auch Liebeshormon genannt
– und Prolaktin – dem Bemutterungshormon – begleitet. Beide Hormone kennt
man vielleicht am besten im Zusammenhang mit ihrer Rolle beim Stillen. Ausserdem spielen auch das Beta-Endorphin,
körpereigenes Schmerzmittel, und die
Kampf-Flucht-Hormone Adrenalin und
Noradrenalin (Epinephrin und Norepinephrin) eine wichtige Rolle im Geburtsprozess. Viele weitere hormonale Einflüsse
auf die Geburt sind noch immer nicht
vollständig erkannt.
Sicheres «Nest» zum Gebären
Sämtliche Säugetiere suchen sich einen
sicheren Platz zum Gebären aus. Dieser
«Nestinstinkt» geht möglicherweise auf
einen erhöhten Prolaktinspiegel im Blut
zurück. Deshalb nennt man das Prolaktin
manchmal auch das «Nestbau-Hormon».
In dieser Phase, wie Sie bei Ihrer Katze gesehen haben, bewirkt eine Störung des
Nestens beziehungsweise des Sicherheitsgefühls, dass der Geburtsprozess zum Erliegen kommt. Sogar nach Geburtsbeginn können bestimmte Einflüsse den
Geburtsvorgang verlangsamen oder gar
anhalten. Werden die Kampf-FluchtHormone durch Angstgefühle oder eine
drohende Gefahr aktiviert, so verlang-
samen sich die Wehen. Unsere Säugetierkörper wurden dafür geschaffen, in der
Wildnis zu gebären, wo es von Vorteil ist,
bei nahender Gefahr die Geburt aufzuschieben und sich in Sicherheit zu bringen.
Viele Frauen machen die Erfahrung,
dass ihre Wehen aufhören, sobald sie die
unvertraute Spitalumgebung betreten.
Andere Frauen reagieren ebenso sensibel
wie Katzen auf anwesende Beobachter.
Verlegen wir die Geburt weg aus unserem
vertrauten Umfeld, so kann das die gleichen Schwierigkeiten nach sich ziehen
wie es Tiere erleben, die im Zoo gebären.
Michel Odent warnt sogar, dass auch
Hungergefühle, die im Körper KampfFlucht-Hormone auslösen, den Geburtsfortschritt behindern können. Er rät den
Frauen, in den frühen Phasen der Geburt
etwas zu essen, falls sie hungrig sind.
Viele Spitäler haben jedoch Richtlinien, die
das Essen nach der Aufnahme untersagen.
Oxytocin
Das Hormon Oxytocin bewirkt, dass sich
die Gebärmutter unter der Geburt zusammenzieht. Allmählich steigt der Oxytocinblutspiegel an, bis er bei der Geburt des
Kindes Spitzenwerte erreicht und zur
Euphorie und Offenheit führt, mit der eine
Mutter normalerweise nach einer Geburt
ohne Medikamente ihr Neugeborenes begrüsst. Diese Hormonspitze, ausgelöst
durch den Dehnschmerz im Geburtskanal,
bleibt bei einer Geburt mit PDA aus. Untersuchungen haben gezeigt, dass bei
Schafen eine PDA das Bonding mit ihren
neugeborenen Lämmern behindert.
Sind die Wehen nur schwach, wird oft
synthetisches Oxytocin mit einer Infusion
direkt ins Blut abgegeben. Auf diese
Weise verabreichtes Oxytocin erreicht das
Gehirn nicht und kann deshalb auch nicht
zum Hochgefühl nach der Geburt beitragen. Im Gegenteil, manchmal behindert es sogar die körpereigene Oxytocinproduktion. Hingegen kann das Stimulieren der Brustwarzen die Wehen anregen,
weil dabei wie beim Stillen der Oxytocinspiegel zunimmt.
Auch nach der Geburt spielt Oxytocin
eine entscheidende Rolle. Es stimuliert die
Wehen, welche die Loslösung der Plazenta von der Gebärmutter und das Ausstossen der Nachgeburt zur Folge haben. Ist
helfen dir!»
der Oxytocinspiegel hoch, so sind auch die
Wehen kräftig, was das Risiko von Nachblutungen oder postpartalem Blutverlust
vermindert.
Das Anlegen des Neugeborenen an die
Brust ist der einfachste Weg, die Oxytocinproduktion anzuregen. Michel Odent
betont dazu, wie wichtig das Ungestörtsein in der ersten Stunde nach der Geburt
ist. Dies erlaubt den ungestörten Hautzu-Haut- und Auge-in-Auge-Kontakt zwischen der Mutter und dem Neugeborenen, optimale Bedingung für die Ausschüttung von Oxytocin.
Oxytocin unterstützt den emotionalen
und körperlichen Übergang zur Mutterschaft. Ab den ersten Schwangerschaftswochen hilft uns das Oxytocin, emotional
offener und empfänglicher für soziale
Kontakte und Unterstützung zu sein. Als
Hormon des Orgasmus, der Wehen und
des Stillens unterstützt uns das Oxytocin
dabei, uns zu «vergessen», weil wir Zuwendung zum anderen und Liebesgefühle
empfinden.
Kampf-Flucht-Hormone
Die Kampf-Flucht-Hormone, Adrenalin
und Noradrenalin, auch Katecholamine
genannt, stören die ungehinderte Oxytocinausschüttung unter und nach der Geburt. Aber gerade in der Austreibungsphase haben sie eine wichtige Funktion.
Früh in dieser Geburtsphase, wenn der
Muttermund offen aber der Pressdrang
noch schwach ist, empfinden manche
Frauen das Bedürfnis auszuruhen. Man
nennt diese Phase auch die «Ruhe- und
Dankbarkeitsphase». Danach bekommt
sie manchmal schlagartig einen trockenen
Mund, geweitete Pupillen und einen
Energieschub, lauter Hinweise auf einen
hohen Katecholaminspiegel im Blut.
Dieser Adrenalinschub verleiht der Mutter die Kraft, ihr Baby zu gebären. Michel
Odent hat beobachtet, dass Frauen ohne
Medikamente jetzt sehr häufig aufrecht
stehen wollen. In einigen traditionellen
Kulturen wurde dieser Kampf-FluchtEffekt dazu benutzt, die Frau zu erschrecken oder anzuschreien, um ihr über
einen Geburtsstillstand hinweg zu helfen.
Wenn Gefahr oder Angst droht, macht es
Sinn, in diesem unumkehrbaren Moment
des Gebärens die Geburt voranzutreiben,
so dass eine Mutter möglichst rasch ihr
Neugeborenes in den Arm nehmen und
sich und es in Sicherheit bringen kann.
Der Katecholaminspiegel fällt nach der
Geburt rasch ab und die Frau fühlt sich
daher oft kalt und zittrig. In dieser Phase
ist eine warme Umgebung essentiell, sagt
Odent, um die Katecholamine tief zu halten und dafür dem Oxytocin die Möglichkeit zu geben, wirksam eine Blutung zu
verhindern.
Prolaktin
Prolaktin, das andere wichtige Geburtshormon, entfaltet seine Wirkung vor
allem nach der Geburt. Prolaktin ist das
wichtigste Hormon für die Muttermilchproduktion. Das saugende Neugeborene
erhöht die Prolaktinmenge im Blut. Frühes
und häufiges Anlegen kurz nach der Geburt macht die Brust empfänglicher für
die Prolaktinwirkung, was wiederum die
gute und lange dauernde Muttermilchproduktion unterstützt.
Wie die anderen Hormone hat auch das
Prolaktin Auswirkungen auf Emotionen
und Verhalten. Prolaktin hilft uns, in allen
Situationen vor allen anderen Bedürfnissen zuerst diejenigen des Neugeborenen
wahrzunehmen: es macht uns angepasst,
wachsam und ängstlich.
In Kombination mit Oxytocin, also kurz
nach der Geburt und während des Stillens, fördert das Prolaktin die selbstlose
und entspannte Hingabe an das Baby, was
zur Zufriedenheit der Mutter und zum
körperlichen und emotionalen Gesundheitszustand des Kindes beiträgt.
Endorphine
Beta-Endorphin gehört zu den Endorphinen, die das Gehirn in Stress- oder
Schmerzzuständen produziert. Es ist die
körpereigene Entsprechung zu einem
schmerzdämpfenden Medikament wie
z. B. Pethidin. Unter der Geburt dämpft
Beta-Endorphin die Schmerzen und trägt
zu dem Gefühl bei, «sich auf einem anderen Planeten zu befinden», das Frauen
beschreiben, die ohne Schmerzmittel gebären. Denn schmerzlindernde Medikamente senken den Beta-Endorphinspiegel im Blut ab.
Ein sehr stark erhöhter Beta-Endorphinspiegel senkt den Oxytocinspiegel und
kann deshalb die Wehentätigkeit ver-
Dr. Sarah Buckley ist
Hausärztin und Autorin
von Artikeln und Büchern
über sanfte Geburtsmethoden. Ihre vier Kinder
kamen zu Hause auf die
Welt. Sie lebt in Australien.
www.sarahjbuckley.com
langsamen. Dieser Vorgang bringt die Intensität des Geburtsprozesses mit unserem Vermögen, damit umzugehen, in
bessere Übereinstimmung. Ein mittlerer
Beta-Endorphinspiegel hilft uns, die Geburtsschmerzen besser zu ertragen und
ermutigt uns dazu, unserem Instinkt zu
folgen. Als Zutat zum nachgeburtlichen
Hormoncocktail spielt das Beta-Endorphin eine Rolle beim Bonding zwischen
der Mutter und ihrem Neugeborenen,
das wegen des Geburtsvorgangs ebenfalls Endorphine ausgeschüttet hat.
Beta-Endorphin unterstützt Lernen
und Gedächtnis, was vielleicht erklärt,
weshalb wir uns an unsere Geburten bis
ins letzte Detail erinnern können. Wie
das Oxytocin können die Endorphine ein
grosses Glücksgefühl auslösen; sie werden auch beim Sex und beim Stillen ausgeschüttet. Tatsächlich enthält die Muttermilch Endorphin, mit ein Grund für
das Wohlgefühl des Säuglings nach dem
Stillen. Beta-Endorphin unterstützt zusätzlich, dass der Körper Prolaktin ausschüttet – ein weiteres Beispiel für das
ausbalancierte Zusammenspiel zwischen
den verschiedenen Geburts- und Stillhormonen.
Sie stehen an der Türe, den Koffer in der
Hand, und spüren eine kräftige Wehe.
Nun erinnern Sie sich an das Oxytocin
und die Endorphine, die Sie ebenfalls bei
sich haben. Mit dem nächsten entspannten Atemzug atmen Sie Angst und Spannung aus Ihrem Körper. Im Koffer liegt
ein brandneuer Still-BH, und Sie wissen,
dass das Prolaktin Ihnen beim Stillen zur
Seite stehen wird. Noch einmal schauen
Sie zurück und bemerken Ihre Katze. Sie
liegt ausgestreckt in ihrer Kiste, die Jungen hängen saugend an den Zitzen. Jetzt
schaut sie Ihnen direkt in die Augen und
F
zwinkert Ihnen zu.
Dieser Text erschien erstmals in «Australia’s Parents Pregnancy», Herbst 1999, unter dem Titel
«Your Hormones are your Helpers». Der Text
wurde 2005 überarbeitet. Übersetzung: Gerlinde
Michel.
Hebamme.ch
Sage-femme.ch
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