Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen
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Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen
Katharina Schlender Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen oder Wenn das Herz plötzlich rennt © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH Ich kenne keine Furcht, es sei denn, ich bekäme Angst. Karl Valentin © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 2010 Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt. Alle Rechte am Text, auch einzelner Abschnitte, vorbehalten, insbesondere die der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Buchpublikation und Übersetzung, der Übertragung, Verfilmung oder Aufzeichnung durch Rundfunk, Fernsehen oder andere audiovisuelle Medien. Das Vervielfältigen, Ausschreiben der Rollen sowie die Weitergabe der Bücher ist untersagt. Eine Verletzung dieser Verpflichtungen verstößt gegen das Urheberrecht und zieht zivil- und strafrechtliche Folgen nach sich. Die Werknutzungsrechte können vertraglich erworben werden von: henschel SCHAUSPIEL Marienburger Straße 28 10405 Berlin Wird das Stück nicht zur Aufführung oder Sendung angenommen, so ist dieses Ansichtsexemplar unverzüglich an den Verlag zurückzusenden. F1 © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH Ein Spieler, 20 Jahre Der Jüngste der Söhne Ein Spieler, etwas über 20 Jahre Der Ältere der Söhne Der Fuhrmann Der halbe Mann Sargträger 1 Ein Spieler, 40 Jahre Der Vater der Söhne Ein Kegelspieler 1 Der tote Vetter Ein Spieler, 50 Jahre Der Küster Der König Ein Spieler, 60 Jahre Der Mann beim Galgen Ein schwarzer Kater Ein Kegelspieler 2 Sargträger 2 Der Bärtige Eine Spielerin Die Küsterfrau Eine schwarze Katze Die Prinzessin © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 1 Vor dem Vorhang. Der Jüngste sitzt an einer Schnitzbank und hobelt an einem großen Stück Holz. Der Vater und der Ältere bringen den bereits gedeckten Abendbrottisch. Dann gehen sie wieder ab und kommen nach einer Weile, jeder mit einem Stuhl zurück. VATER Wir essen jetzt. JÜNGSTER Keine Lust. VATER Hol dir deinen Stuhl. Jetzt und sofort. ÄLTERER Alsbald und kurzerhand sogleich. VATER Im Augenblick. Im Handumdrehn. Stracks! ÄLTERER Im Nu! JÜNGSTER Hab aber keine Lust dazu! VATER Umgehend gehst du dir jetzt deinen Stuhl holn. JÜNGSTER Sonst? Der Vater hebt die Hand, dann lässt er sie wieder sinken. Der Jüngste grinst ihn an. Dann haut der Jüngste dem Älteren eine Ohrfeige. Der Ältere schreit auf und hält sich die Wange. ÄLTERER Au. Und du machst nichts? Aua. Papa. Der Jüngste macht Fratzen und steckt dem Vater die Zunge raus. Der Vater ignoriert ihn. VATER Gibt es keinen Wein? ÄLTERER In der Küche ist kein Wein mehr da. VATER Im Keller sind noch Flaschen. ÄLTERER Im Keller. Ach. Ach nein Vater. JÜNGSTER Er geht nicht in den Keller. ÄLTERER Nein. Ich geh nicht dahin. Es gruselt mir. JÜNGSTER Huhu! Huhu! Huhu! VATER Jetzt hör auf und bring die Füße untern Tisch! © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH JÜNGSTER Hab keine Lust dazu. VATER Ich bin satt! Pappensatt! Der Ältere stopft sich schnell noch ein Würstchen in den Mund. ÄLTERER Jetzt wart doch. Gleich. Moment. Augenblick noch. Der Vater und der Ältere tragen den Tisch wieder aus dem Raum. Der Jüngste schleudert die zwei Stühle hinterher. JÜNGSTER Ha! Und weg! Und noch mal ha! Und wieder weg! Haha! 2 Vor dem Vorhang. Die zwei Brüder unter einer Bettdecke. JÜNGSTER Und der Schlaf der kommt und drückt dir deine Augen ein. Ganz rein in deinen Kopf. So dass die zwei ne ganze Nacht brauchen um da wieder draus hervorzukommen. Stell dir vor die Augen schaffens nicht. Die schaffens nicht mehr aus dem Kopf heraus in dein Gesicht zurück. Ganz dunkel bleibt dir dann der nächste Tag. VATER Ach nein. Vor dem Schlaf brauchst du dich nicht gruseln. Der Schlaf ist doch schon jede Nacht bisher gekommen und am nächsten Tag geht er wieder fort. Weil der Tag dem Schlaf zu laut ist. Der Schlaf der mag wenns leise ist. Drum pscht. Leise. Still. JÜNGSTER Und wenn ich gar nicht will dass er kommt? Wenn ich nicht schlafen will? Wenn ich gern laut sein will? Bla! Blabla! Blablabla! Blabla! Bla! Der Vater gibt dem Älteren einen Gutenachtkuss. Und ich? Küsst du mich nicht? VATER Einen Frechling küss ich nicht. Einen der mit Stühlen schmeißt. Einen der auf die Straße spuckt und Leuten die Zunge rausreckt. Nein. Der Vater geht. © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH JÜNGSTER Manchmal ist der Zunge das zu nass in meinem Mund. Ich häng sie eben ab und zu mal an die Luft. Zum Trocknen. So. Oder so. Oder auch mal so. ÄLTERER Man streckt Leuten nicht die Zunge raus. Mit dem wird der Vater noch seine Last haben sagen sie. Dich meinen sie damit. Mit der Last. JÜNGSTER Wer? ÄLTERER Der von umme Ecke und der in der Querstraße und auch die vom Balkon. Allen hast du Fratzen hingeworfen. Denen deine Zunge hingestreckt. Der Jüngste zieht immer wieder die Bettdecke weg. Lass. JÜNGSTER Wenn so ein Bein im Dunkel so ganz so ohne Decke liegt. Dann sehn die ungeheuren Dunkeltiere das. So eine Decke zu haben ist da ganz gut. ÄLTERER Lass doch. JÜNGSTER Wenn das Bein nicht unter der Decke ist dann sehn die das sofort. ÄLTERER Jetzt hör doch auf! Der Ältere weint und jault vor Wut und Angst. Der Vater kommt. VATER Was ist nun schon wieder. ÄLTERER Der nimmt sich zu viel Decke. Das gruselt mir. Und die Tiere. Die Tiere komm und könn mich sehn. Der Vater streicht dem Älteren durch die Haare. Der Jüngste beobachtet das eine Weile. JÜNGSTER Ich hab auch ein bisschen Angst. Der Jüngste hält dem Vater seinen Kopf zum Streicheln hin. VATER Du hast doch vor nichts ansonsten Angst. JÜNGSTER Oh. Was ganz Schreckliches ist das. Ich hab so Angst. Huh. ÄLTERER Na wovor denn Angst. Was denn? © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH JÜNGSTER Dass du wieder schnarchst. Huh! Der Jüngste lacht und ahmt das Schnarchen nach. Der Vater würdigt ihn keines Blickes und geht. VATER Ich lass die Tür ein Spalt weit offen. So kommt ein wenig Licht hinein. Da haben Dunkeltiere kein Erfolg. Ein Lichtstrahl fällt durch den leicht geöffneten Vorhang. ÄLTERER Wenn du mir die Decke jetzt nicht lässt schrei ich so was von ganz fürchterlich. Der Jüngste steht auf und legt sich ohne Decke in die andere Seite des Raumes. JÜNGSTER Immer sagt er es gruselt mir. Alle sagen immer es gruselt mir! Bei mir da gibts kein Gänsehäuten. Dieses Gruseln das. Das ist wirklich eine Kunst von der ich nichts verstehe. Beide schlafen. 3 Am nächsten Morgen. Der Ältere reckt und streckt sich und springt auf. Er streift einen Kittel über und setzt eine Kappe auf und tritt immer wieder mit dem Fuß gegen den Jüngsten. ÄLTERER Nu mach schnell. Na nu hoch mit dir. JÜNGSTER Diese Mütze steht dir überhaupt nicht. ÄLTERER Faulpelz du. Bummelant du. Drückeberger. Der Vorhang zieht auf. Das Innere einer Konditorei wird sichtbar. Verschiedenste kleine Kuchen in Regalen. Bleche mit Pralinen. Vielleicht ein Schokoladenbrunnen. Eine Art TortenbackChoreographie beginnt. Musik. Der Vater ist schon am Arbeiten. Er steht an einem Fließband, dessen Anfang und Ende nicht zu sehen ist. Es läuft quer durch den Raum. Ähnlich wie beim Computerspiel für Kinder „Purble Place“ läuft eine Tortenbackmaschinerie ab. Es fahren auf dem Fließband verschiedenste Tortenformen herein; rund, oval, eckig, dreieckig. Der Vater zieht an verschiedenen Schnüren. Aus Teigbeuteln über dem Fließband gießen so die Zutaten in die Tortenformen. Der Ältere setzt ein drittes Tortenrund auf bereits schon zwei vorhandene. Nun steht dort eine riesige Dreistufentorte. Der Ältere nimmt eine Sahnespritze und beginnt sogleich kunstvolle Formen auf die Torte zu bringen. Am Ende dieser Arbeit wird die Torte eine buntsüße Hochzeitstorte sein. Der Jüngste hat sich aus der Bettdecke gequält und schleckt gelangweilt am Schokoladenbrunnen. Der Vater schiebt ihn hinter das Fließband. Der Jüngste arbeitet lustlos an den Torten. Er hält mit dem Fließband nicht mit und alles wird ein großes Tortengematsche. Der Vater versucht immer wieder auszubessern, bis er genug hat und den Notstopschalter drückt. © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH VATER Ha! Haal! Haaalt! Halt an! Das Fließband hält an. Die Musik endet abrupt. 4 VATER Hör mir mal zu. Auch du wirst einmal groß und stark. Du wirst groß und stark und du musst auch etwas lernen. Etwas womit du dein Brot verdienst. Schau wie dein Bruder sich Mühe gibt. Und jetzt schau mal zu dir. Schau nur richtig hin. JÜNGSTER Ich mag halt nicht Konditor sein. Kuchen sind mir viel zu süß und Torten viel zu viel mit Sahne. Pralinen sind sowieso immer zu klein und Schokolade ess ich nur aus Langeweile. VATER Du sitzt doch so gern an der Schnitzbank. Vielleicht magst du ja Drechsler werden. Was mit Holz. JÜNGSTER Ich will gern was lernen. Ja. Wenns ginge so möcht ich lernen dass mirs gruselt. Jeder scheint zu wissen wie das geht. Aber ich. Vom Gruseln versteh ich gar nichts. VATER An dir ist Hopfen und Malz verlorn. Der Vater lässt den Jüngsten einfach stehen und kommt dem Älteren zu Hilfe, der gerade dabei ist, das Brautpaar aus angemaltem Zucker unter Zuhilfenahme einer Leiter auf die riesige Torte zu hieven. JÜNGSTER Ich will das Gruseln lernen. Und auch das Fürchten. Und ich will auch lernen Angst zu haben. Ist das Gruseln eigentlich fürchterlicher als die Angst oder macht vielleicht doch das Fürchten mehr Angst als das Gruseln? Ist die Angst grusliger als das Fürchten oder ist das Gruseln fürchterlicher? Er sieht zu, wie der Ältere und der Vater damit beschäftigt sind, die riesige Torte einzupacken. Konditor ist auf jeden Fall nichts für mich. VATER Das Gruseln das sollst du schon lernen. Aber dein Brot wirst du damit nicht verdienen. Der Vater zieht auf einem Rollwagen die eingepackte Hochzeitstorte hinter sich her. Ab. © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH