Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen

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Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen
Katharina Schlender
Märchen von einem,
der auszog, das Fürchten zu lernen
oder
Wenn das Herz plötzlich rennt
© henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH
Ich kenne keine Furcht, es sei denn, ich bekäme Angst.
Karl Valentin
© henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 2010
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F1
© henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH
Ein Spieler, 20 Jahre
Der Jüngste der Söhne
Ein Spieler, etwas über 20 Jahre
Der Ältere der Söhne
Der Fuhrmann
Der halbe Mann
Sargträger 1
Ein Spieler, 40 Jahre
Der Vater der Söhne
Ein Kegelspieler 1
Der tote Vetter
Ein Spieler, 50 Jahre
Der Küster
Der König
Ein Spieler, 60 Jahre
Der Mann beim Galgen
Ein schwarzer Kater
Ein Kegelspieler 2
Sargträger 2
Der Bärtige
Eine Spielerin
Die Küsterfrau
Eine schwarze Katze
Die Prinzessin
© henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH
1
Vor dem Vorhang. Der Jüngste sitzt an einer Schnitzbank und hobelt an einem großen Stück Holz. Der Vater
und der Ältere bringen den bereits gedeckten Abendbrottisch. Dann gehen sie wieder ab und kommen nach
einer Weile, jeder mit einem Stuhl zurück.
VATER
Wir essen jetzt.
JÜNGSTER
Keine Lust.
VATER
Hol dir deinen Stuhl. Jetzt und sofort.
ÄLTERER
Alsbald und kurzerhand sogleich.
VATER
Im Augenblick. Im Handumdrehn. Stracks!
ÄLTERER
Im Nu!
JÜNGSTER
Hab aber keine Lust dazu!
VATER
Umgehend gehst du dir jetzt deinen Stuhl holn.
JÜNGSTER
Sonst?
Der Vater hebt die Hand, dann lässt er sie wieder sinken. Der Jüngste grinst ihn an. Dann haut der Jüngste
dem Älteren eine Ohrfeige. Der Ältere schreit auf und hält sich die Wange.
ÄLTERER
Au. Und du machst nichts? Aua. Papa.
Der Jüngste macht Fratzen und steckt dem Vater die Zunge raus. Der Vater ignoriert ihn.
VATER
Gibt es keinen Wein?
ÄLTERER
In der Küche ist kein Wein mehr da.
VATER
Im Keller sind noch Flaschen.
ÄLTERER
Im Keller. Ach. Ach nein Vater.
JÜNGSTER
Er geht nicht in den Keller.
ÄLTERER
Nein. Ich geh nicht dahin. Es gruselt mir.
JÜNGSTER
Huhu! Huhu! Huhu!
VATER
Jetzt hör auf und bring die Füße untern Tisch!
© henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH
JÜNGSTER
Hab keine Lust dazu.
VATER
Ich bin satt! Pappensatt!
Der Ältere stopft sich schnell noch ein Würstchen in den Mund.
ÄLTERER
Jetzt wart doch. Gleich. Moment. Augenblick noch.
Der Vater und der Ältere tragen den Tisch wieder aus dem Raum. Der Jüngste schleudert die zwei Stühle
hinterher.
JÜNGSTER
Ha! Und weg! Und noch mal ha! Und wieder weg! Haha!
2
Vor dem Vorhang. Die zwei Brüder unter einer Bettdecke.
JÜNGSTER
Und der Schlaf der kommt und drückt dir deine Augen ein. Ganz
rein in deinen Kopf. So dass die zwei ne ganze Nacht brauchen
um da wieder draus hervorzukommen. Stell dir vor die Augen
schaffens nicht. Die schaffens nicht mehr aus dem Kopf heraus
in dein Gesicht zurück. Ganz dunkel bleibt dir dann der nächste
Tag.
VATER
Ach nein. Vor dem Schlaf brauchst du dich nicht gruseln. Der
Schlaf ist doch schon jede Nacht bisher gekommen und am
nächsten Tag geht er wieder fort. Weil der Tag dem Schlaf zu
laut ist. Der Schlaf der mag wenns leise ist. Drum pscht. Leise.
Still.
JÜNGSTER
Und wenn ich gar nicht will dass er kommt? Wenn ich nicht
schlafen will? Wenn ich gern laut sein will? Bla! Blabla! Blablabla! Blabla! Bla!
Der Vater gibt dem Älteren einen Gutenachtkuss.
Und ich? Küsst du mich nicht?
VATER
Einen Frechling küss ich nicht. Einen der mit Stühlen schmeißt.
Einen der auf die Straße spuckt und Leuten die Zunge rausreckt.
Nein.
Der Vater geht.
© henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH
JÜNGSTER
Manchmal ist der Zunge das zu nass in meinem Mund. Ich häng
sie eben ab und zu mal an die Luft. Zum Trocknen. So. Oder so.
Oder auch mal so.
ÄLTERER
Man streckt Leuten nicht die Zunge raus. Mit dem wird der Vater
noch seine Last haben sagen sie. Dich meinen sie damit. Mit der
Last.
JÜNGSTER
Wer?
ÄLTERER
Der von umme Ecke und der in der Querstraße und auch die vom
Balkon. Allen hast du Fratzen hingeworfen. Denen deine Zunge
hingestreckt.
Der Jüngste zieht immer wieder die Bettdecke weg.
Lass.
JÜNGSTER
Wenn so ein Bein im Dunkel so ganz so ohne Decke liegt. Dann
sehn die ungeheuren Dunkeltiere das. So eine Decke zu haben
ist da ganz gut.
ÄLTERER
Lass doch.
JÜNGSTER
Wenn das Bein nicht unter der Decke ist dann sehn die das sofort.
ÄLTERER
Jetzt hör doch auf!
Der Ältere weint und jault vor Wut und Angst. Der Vater kommt.
VATER
Was ist nun schon wieder.
ÄLTERER
Der nimmt sich zu viel Decke. Das gruselt mir. Und die Tiere.
Die Tiere komm und könn mich sehn.
Der Vater streicht dem Älteren durch die Haare. Der Jüngste beobachtet das eine Weile.
JÜNGSTER
Ich hab auch ein bisschen Angst.
Der Jüngste hält dem Vater seinen Kopf zum Streicheln hin.
VATER
Du hast doch vor nichts ansonsten Angst.
JÜNGSTER
Oh. Was ganz Schreckliches ist das. Ich hab so Angst. Huh.
ÄLTERER
Na wovor denn Angst. Was denn?
© henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH
JÜNGSTER
Dass du wieder schnarchst. Huh!
Der Jüngste lacht und ahmt das Schnarchen nach. Der Vater würdigt ihn keines Blickes und geht.
VATER
Ich lass die Tür ein Spalt weit offen. So kommt ein wenig Licht
hinein. Da haben Dunkeltiere kein Erfolg.
Ein Lichtstrahl fällt durch den leicht geöffneten Vorhang.
ÄLTERER
Wenn du mir die Decke jetzt nicht lässt schrei ich so was von
ganz fürchterlich.
Der Jüngste steht auf und legt sich ohne Decke in die andere Seite des Raumes.
JÜNGSTER
Immer sagt er es gruselt mir. Alle sagen immer es gruselt mir!
Bei mir da gibts kein Gänsehäuten. Dieses Gruseln das. Das ist
wirklich eine Kunst von der ich nichts verstehe.
Beide schlafen.
3
Am nächsten Morgen. Der Ältere reckt und streckt sich und springt auf. Er streift einen Kittel über und setzt
eine Kappe auf und tritt immer wieder mit dem Fuß gegen den Jüngsten.
ÄLTERER
Nu mach schnell. Na nu hoch mit dir.
JÜNGSTER
Diese Mütze steht dir überhaupt nicht.
ÄLTERER
Faulpelz du. Bummelant du. Drückeberger.
Der Vorhang zieht auf. Das Innere einer Konditorei wird sichtbar. Verschiedenste kleine Kuchen in Regalen.
Bleche mit Pralinen. Vielleicht ein Schokoladenbrunnen. Eine Art TortenbackChoreographie beginnt. Musik.
Der Vater ist schon am Arbeiten. Er steht an einem Fließband, dessen Anfang und Ende nicht zu sehen ist.
Es läuft quer durch den Raum. Ähnlich wie beim Computerspiel für Kinder „Purble Place“ läuft eine Tortenbackmaschinerie ab. Es fahren auf dem Fließband verschiedenste Tortenformen herein; rund, oval, eckig,
dreieckig. Der Vater zieht an verschiedenen Schnüren. Aus Teigbeuteln über dem Fließband gießen so die
Zutaten in die Tortenformen. Der Ältere setzt ein drittes Tortenrund auf bereits schon zwei vorhandene. Nun
steht dort eine riesige Dreistufentorte. Der Ältere nimmt eine Sahnespritze und beginnt sogleich kunstvolle
Formen auf die Torte zu bringen. Am Ende dieser Arbeit wird die Torte eine buntsüße Hochzeitstorte sein.
Der Jüngste hat sich aus der Bettdecke gequält und schleckt gelangweilt am Schokoladenbrunnen. Der Vater
schiebt ihn hinter das Fließband. Der Jüngste arbeitet lustlos an den Torten. Er hält mit dem Fließband nicht
mit und alles wird ein großes Tortengematsche. Der Vater versucht immer wieder auszubessern, bis er genug
hat und den Notstopschalter drückt.
© henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH
VATER
Ha! Haal! Haaalt! Halt an!
Das Fließband hält an. Die Musik endet abrupt.
4
VATER
Hör mir mal zu. Auch du wirst einmal groß und stark. Du wirst
groß und stark und du musst auch etwas lernen. Etwas womit
du dein Brot verdienst. Schau wie dein Bruder sich Mühe gibt.
Und jetzt schau mal zu dir. Schau nur richtig hin.
JÜNGSTER
Ich mag halt nicht Konditor sein. Kuchen sind mir viel zu süß
und Torten viel zu viel mit Sahne. Pralinen sind sowieso immer
zu klein und Schokolade ess ich nur aus Langeweile.
VATER
Du sitzt doch so gern an der Schnitzbank. Vielleicht magst du ja
Drechsler werden. Was mit Holz.
JÜNGSTER
Ich will gern was lernen. Ja. Wenns ginge so möcht ich lernen
dass mirs gruselt. Jeder scheint zu wissen wie das geht. Aber ich.
Vom Gruseln versteh ich gar nichts.
VATER
An dir ist Hopfen und Malz verlorn.
Der Vater lässt den Jüngsten einfach stehen und kommt dem Älteren zu Hilfe, der gerade dabei ist, das Brautpaar aus angemaltem Zucker unter Zuhilfenahme einer Leiter auf die riesige Torte zu hieven.
JÜNGSTER
Ich will das Gruseln lernen. Und auch das Fürchten. Und ich will
auch lernen Angst zu haben. Ist das Gruseln eigentlich fürchterlicher als die Angst oder macht vielleicht doch das Fürchten mehr
Angst als das Gruseln? Ist die Angst grusliger als das Fürchten
oder ist das Gruseln fürchterlicher?
Er sieht zu, wie der Ältere und der Vater damit beschäftigt sind, die riesige Torte einzupacken.
Konditor ist auf jeden Fall nichts für mich.
VATER
Das Gruseln das sollst du schon lernen. Aber dein Brot wirst du
damit nicht verdienen.
Der Vater zieht auf einem Rollwagen die eingepackte Hochzeitstorte hinter sich her. Ab.
© henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH