Ein kleines Stück Heimat

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Ein kleines Stück Heimat
Ein kleines Stück Heimat
Es war Mitte November 1944. Auch als Kinder spürten wir die Aufregung, Unruhe
und große Angst, die in unserer Heimatgemeinde Mariakemend (Baranya) von Tag
zu Tag immer größer wurde. Es wurde bekannt, dass aus anderen Teilen Ungarns
schon große Flüchtlingsströme unterwegs waren. Auch wir fürchteten uns vor dem
Einmarsch der Russen, denn man hörte von schrecklichen Vorfällen. Hauptsäch-lich
um die jungen Frauen hatte man Angst. Meine Mutter war 45 und meine Schwester
Rosa 20 Jahre alt und wahrscheinlich wären beide mit Sicherheit nach Russland
deportiert worden. Aus der Gemeinde Mariakemend wurden 155 Personen
verschleppt und viele haben ihre Heimatgemeinde nie wieder gesehen.
Meine Mutter wusste lange Zeit nicht, was sie machen sollte, soll sie bleiben oder
soll sie mit uns flüchten. Doch dann hat sie sich für die Flucht entschieden. Es war
eine sehr schwere Entscheidung, die die Frauen damals ganz alleine treffen mussten.
Die Männer waren im Krieg und niemand wusste ob man je wieder zueinander
finden würde.
Am 18. November 1944 war es dann soweit. Schnell hat meine Mutter ein
paar Bündel mit warmen Sachen, mit Bettzeug und Lebensmitteln zusammengeschnürt. Im Garten hat sie noch einen Topf mit Schweineschmalz vergraben, Denn
wir wollten ja unbedingt nach dem Vorbeimarsch der Russen wieder heim in unser
geliebtes Mariakemend. Niemand hat auch nur im Geringsten geahnt, welches
Schicksal auf uns wartete. Niemand ahnte, dass es kein Zurückkommen mehr geben
würde.
Während des Packens sagte meine Mutter: "Kind, du kannst mitnehmen was du
willst, du musst es jedoch selber tragen." So nahm ich in die eine Hand meine
geliebte Puppe Lissi, die mir mein Vater bei einem Fronturlaub mitgebracht hatte. Es
war eine wunderschöne Puppe mit Porzellankopf, Schlafaugen, langen blonden
Haaren und einem schönen rosaroten Kleid. Mit dieser Puppe haben meine Kinder
noch gespielt. In die andere Hand nahm ich meinen Schulranzen, einen kleinen
braunen Koffer aus Pappe, mit dem ich am Tag zuvor noch in der Schule in
Mariakemend war. Ich nahm den Koffer mit dem gesamten Inhalt mit auf die Flucht
ins Ungewisse. Das deutsche und das ungarische Lesebuch für die dritte Klasse und
auch der Katechismus und verschiedene andere Sachen befanden sich in dem Koffer,
eben alles, was ich für die Schule brauchte.
Da wir so lange gezögert hatten, waren die meisten Fahrzeuge schon unterwegs.
Doch mit viel Glück hat meine Mutter noch einen älteren Mann aus der "Evereck"
überreden können, dass er uns zum Bahnhof nach Deutschbol (Boly) fährt.
Ich weiß noch, dass wir mit einem Einspänner gefahren sind und dass der Mann
nicht mehr ganz nüchtern war, was mir sehr viel Angst eingeflößt hatte.Der Mann
hatte aus Verzweiflung getrunken, da er selbst nicht wusste was er machen soll, soll
er bleiben oder soll er flüchten. Doch wer dieser Mann war, das weiß ich heute nicht
mehr und meine Mutter kann ich leider nicht mehr fragen. Es würde mich aber sehr
interessieren.
Ich kann mich auch noch gut erinnern, wie wir mit dem Einspänner aus dem Dorf
hinausgefahren sind. Ich saß auf dem Wagen, auf den Bündeln und hielt meine
Puppe und meinen kleinen braunen Koffer an mich gedrückt. Unser Hund Daxi ist
lange Zeit heulend dem Wagen gefolgt. Ich habe ihn immer wieder aufgefordert, er
solle heim gehen, wir kommen doch bald wieder. Der Hund hatte es gespürt, dass
dies ein anderes Fortgehen war als sonst. Wir haben den lieben Daxi nie wieder
gesehen. Er ging zurück und setzte sich vor unsere Haustüre. Meine Nani-Wos hat
ihn zu sich genommen, doch er ging immer wieder heim zu unserem Haus und hat
nicht mehr gefressen. Kurze Zeit später hat ihn meine Tante tot vor unserer Haustüre
gefunden. Er ist vor lauter Heimweh gestorben.
In Deutschbol wurde ein Transport zusammengestellt, der sich hauptsächlich aus
Frauen und Kindern zusammensetzte. Wir Kinder hatten damals das Ganze noch
nicht in der ganzen Tragweite begriffen, denn neben der Angst war auch Neugier auf
das Neue, das uns erwartete, dabei. Wir fühlten uns ja geborgen und beschützt in der
Nähe unserer Mütter. Doch was die Frauen durchlitten haben, das konnte ich erst
viel später begreifen. Die Fahrt mit dem Zug ging immer weiter weg von unserem
Heimatort. Würde es jemals ein Wiedersehen geben? Was erwartet uns noch alles?
Wir waren eine Woche unterwegs. Mal ging es vorwärts, dann wieder rückwärts mit
dem Zug. Der Zug wurde beschossen und die Angst war riesengroß. Als wir in
Österreich die ersten großen Berge erblickten, da wurde die Angst noch viel größer.
So etwas hatten wir noch nie gesehen. „Wie kann man hier leben? sagte meine
Mutter, „von was soll man sich hier ernähren?“ Wir waren das fruchtbare Land in
der Baranya gewohnt. Die großen Felder, die Weingärten und die unend-liche Weite.
Hier war alles so eng, nur Berge, Berge, Berge.
Unsere Endstation war St. Michael bei Leoben in der Steiermark. Das große
Schulhaus wurde zu einem Auffanglager umgestaltet. Dort waren viele Mariakemender bis zum Kriegsende, dann wurden sie von den Russen wieder nach
Ungarn verfrachtet.
Meine Mutter, meine Schwester und ich waren bis Februar 1945 in dem Lager in St.
Michael. Dann fanden wir eine Wohnung in St. Lorenzen bei Murau.
Dort ging es uns sehr gut, wir wurden von der Bevölkerung freundlich
aufgenommen, wir waren die "Ungarn".
In dem kleinen Dorf wären wir zu gerne geblieben, doch das Gebiet war von den
Engländern besetzt und ein Jahr später mussten wir alle Österreich verlassen. Über
das Lager Kapfenberg kamen wir mit einem Transport, in "Viehwaggons", in das
Lager Kienlesberg nach Ulm. Von dort wurden wir auf die verschiedenen Dörfer
verteilt und so kam unsere Familie Ende Februar 1946 nach Staig-Altheim, wo ich
auch heute noch wohne. Mein Vater kam leider nicht mehr aus dem Krieg zurück. Er
ist vermisst und sein Schicksal ist bis heute ungeklärt. Zeit ihres Lebens hat meine
Mutter sehr darunter gelitten. Auch ich kann bis heute noch nicht ohne Emotionen
über meinen Vater sprechen, da ich durch sein ungewisses Schicksal dieses Kapitel
nicht abschließen kann.
Dies sind in kurzen Worten die Stationen unserer Flucht. Und dies hat mein kleiner
brauner Koffer alles mitgemacht. Ich muss mich selber wundern, dass ich ihn nie
weggeschmissen habe. Er kam ja nie mehr zu seinem eigentlichen Einsatz. In der
Steiermark und auch hier hätte ich ihn nie mit in die Schule nehmen können. Meine
Mitschüler hätten mich ja ausgelacht. Denn wer kam schon mit einem Koffer in die
Schule? Man hätte ja sofort gesehen, das ist ein Flüchtling.
Vor vielen Jahren hörte ich im Radio von einer Aktion, dass der Süddeutsche
Rundfunk den ältesten Schulranzen sucht. Wer diesen einsendet, der bekommt
300 DM. Nur ganz kurz habe ich darüber nachgedacht, doch dann war es schnell
klar, nicht für viel Geld würde ich meinen kleinen, behüteten Schatz hergeben. Auf
dem Dachboden unseres Hauses war er gut aufgehoben, gefüllt immer noch mit den
Schulsachen aus Mariakemend für die dritte Klasse.
Im Laufe der Zeit wurden auch noch andere Dokumente aus der alten Heimat
in dem Koffer verwahrt, z. B. das Notizbuch meines Vaters, sowie seine Briefe aus
dem 2. Weltkrieg. Auch zwei Briefe aus dem 1. Weltkrieg von ihm an meine Mutter,
sie waren damals noch ledig, habe ich nach dem Tod meiner Mutter in ihren
Unterlagen gefunden. In diesen Briefen befanden sich noch getrocknete Blumen von
1918 und die Anrede war damals: "Meine herzallerliebste Augustin". In den Briefen
aus dem 2. Weltkrieg lautete die Anrede auch liebevoll, doch nicht mehr ganz so
romantisch: "Meine liebe Alte." Mit so wertvollen Erinnerungs-stücken ist der kleine
Koffer gefüllt.
So ist mein erster Schulranzen, mitsamt seinem wertvollen Inhalt, mir so ans Herz
gewachsen. Er gehört einfach zu mir. In der Zwischenzeit sieht er auch schon ein
wenig ramponiert aus, die Ecken sind abgestoßen und das Schloss ist verrostet, doch
dies alles mindert nicht im Geringsten den Wert, den er für mich besitzt.
Doch als vor einigen Jahren Herr Rill vom Donauschwäbischen Zentralmuseum in
Ulm bei mir auftauchte und mich um Erinnerungsstücke aus der alten Heimat
gebeten hat, da habe ich ihm schweren Herzens meinen Koffer mitsamt seinem
Inhalt als Leihgabe ausgehändigt. Denn ich dachte mir, wenn ich nicht mehr bin, wer
hat dann noch Interesse an dem Koffer und an seinem Inhalt. Dies würde bestimmt
alles sehr schnell in einem Container landen. Und so ist sein Fortbestand doch noch
für längere Zeit gesichert.
So habe ich mir mit meinem braunen Köfferchen aus Pappe ein kleines Stück Heimat
bewahrt. Und so oft ich will, kann ich ihn im Donauschwäbischen Museum
besuchen, denn so manches Mal habe ich schon Heimweh nach meinem kleinen
Koffer, dann würde ich gerne in einer stillen Stunde meine Gedanken in längst
vergangene Zeiten entfliehen lassen.

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