Side by Side_ Bündner Tagblatt
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KULTUR M o n t a g , 8. Ju n i 2 0 1 5 Gewaltige Klangsäulen in der Wagenburg Wieder einmal mutierte das Churer Postautodeck zum überdachten Freiluft-Konzertraum. Sogar der Wettergott spielte wohlwollend mit. B ü n d n e r Ta g b l a tt 11 Hölderlin-Literaturpreis für Schriftsteller Michael Kleeberg AUSZEICHNUNG Der deutsche Schriftsteller Michael Kleeberg hat gestern den mit 20 000 Euro dotierten Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg erhalten. Der gebürtige Stuttgarter («Das Amerikanische Hospital») bekam die Auszeichnung für sein Gesamtwerk, darunter eine Romantrilogie über einen Jedermann namens Charly Renn. In der Begründung der Jury heisst es: «Kleeberg traut sich nichts Geringeres, als die Lebenstotalität eines vermeintlichen Jedermanns in emotionale und psychologische Feinheiten zu zergliedern.» Der mit 7500 Euro ausgestattete Förderpreis ging an die Österreicherin Teresa Präauer. Die Stadt Bad Homburg (Hessen) vergibt den Hölderlin-Preis seit 1983. Die feierliche Übergabe findet traditionell am 7. Juni, dem Todestag des Dichters Hölderlin (1770–1843), statt. (SDA) Muse ohne Pomp – aber kraftvoll wie immer So hat man Muse schon lange nicht mehr gesehen: Am Sonisphere Festival in Nidau spielte die britische Rockband, die ihre Konzerte zuletzt zu gigantischen Stadionrockopern heranwachsen liess, so roh, so ursprünglich wie schon lange nicht mehr. Die Kammerphilharmonie Graubünden gibt auf dem Postautodeck in Chur ihr Freiluftkonzert. (FOTOS OLIVIA ITEM) W ▸ CHRISTIAN ALBRECHT Wind, Regen, Kälte: Die ungünstigen Seiten für ein Open-Air-Konzert haben bisher schon oftmals den inzwischen bereits zur alljährlichen Tradition gewordenen Anlass der Kammerphilharmonie Graubünden begleitet. Ein richtig schöner, lauer Sommerabend zeigte sich auch am vergangenen Samstag nicht – immerhin aber entluden sich die Gewitterzellen im Albulatal sowie im oberen St. Galler Rheintal und verschonten die Bündner Hauptstadt. Dabei hätte etwas hintergründiges Donnerrollen durchaus zu Jean Sibelius’ sinfonischer Tondichtung «Finlandia» gepasst. Denn Finnland war seit 1809 ein Teil des russischen Reiches, das die Bürgerrechte und nicht zuletzt die Pressefreiheit stark einschränkte. Anlass zur Entstehung der «Finlandia» bildete eines der «Feste für den Pensionsfonds der Journalisten», eine Veranstaltung, hinter deren eher harmlosem Vordergrund die Unabhängigkeitsbestrebungen gegenüber Russland zunehmend zum grossen Thema wurden. Auf einer jener Feiern wurden im schwedischen Theater in Helsinki die «sechs lebenden Bilder aus der finnischen Vergangenheit und Mythologie» aufgeführt, zu denen Sibelius die Musik beisteuerte. Das Fina- Der Dirigent Sebastian Tewinkel. le, damals noch unter dem Titel «Finnland erwacht», bildete den umjubelten Abschluss: Das Stück etablierte sich umgehend als inoffizielle Nationalhymne, und dessen Aufführung wurde von den russischen Behörden prompt während einiger Jahre verboten. Doch die zwingende Dramatik, die ungeheure Dynamik und der musikantische Überschwang, die sich hier auf dem Boden einer scheinbar spezifischen Nationalromantik entwickelten, sorgten für eine rasche Verbreitung und eine hohe Popularität auch ausserhalb Finnlands. Hymnische Grösse Sebastian Tewinkel, Chefdirigent der Kammerphilharmonie Graubünden, bekannte sich in seiner Interpretation hörbar und ganz offensichtlich zur hymnischen Grösse und stolzen Feierlichkeit der «Finlandia» und vermied gerade durch diese seine authentische und rückhaltlose emotionale Identifikation mit dem Werk jegliches Abgleiten in hohles Pathos. Mitreissend zu erleben, wie sich da über 40 Philharmoniker sowie nochmals ebenso viele Laienmusikerinnen und –musiker eines musikalischen Nationalepos’ annahmen und dieses mitreissend musizierten. Denn immer dann, wenn die Kammerphilharmonie auf dem Postautodeck in der Wagenburg der «Gelben Riesen» konzertiert, spielen «side by side» mit den Berufsmusikern auch Laien mit – aus dem Kammerorchester werden dann über Nacht rein zahlenmässig sozusagen die Berliner Symphoniker. Denn Weltstadtatmosphäre haben und wollen wir ja schliesslich wohl auch keine. Die Berge sind uns nahe, Meer und Sandstrand sind für uns eine Feriendestination, und Kobolde verorten wir allenfalls in den hohen Norden. Wenn Eckart Fritz, seit 2002 Solopaukist der Kammerphilharmonie Graubünden, in seinem «Konzert für Schlagzeug» auf ebendiese Bilder zurückgreift, dann, so gibt er selbst zu Protokoll, seien diese für ihn wie eine Schiene, um ihr entlang seine bildlichen Vorstellungen zu realisieren: Als «Musik in meinem Kopf» beschreibt er denn auch seine neue Leidenschaft des Komponierens (im BT vom 6. Juni). Das klingende Resultat dieser Leidenschaft ist denn auch nicht bloss sehr hübsch, sondern visualisiert in der Musik tonmalerisch das ausgedachte Sujet zutreffend. Von den insgesamt drei Sätzen – «Die Brandung», «Der Kobold» und «Der Bergsturz» – erfuhr vor allem der letzte eine überzeugende musikalische Übersetzung. Die Berge sind dem gebürtigen Karlsruher inzwischen wohl auch sehr nahe. Franz Bach, der als Solist am grossen Marimba, am Cajon sowie an diversen weiteren Perkussionsinstrumenten wirkte, wurde verdientermassen mit grossem Applaus bedacht. Musikalische Bilder Immer wieder im Wortsinn ein starkes Stück ist Modest Mussorgskys Klavierzyklus «Bilder einer Ausstellung», den dieser 1874, inspiriert durch die Gedenkausstellung für seinen Malerfreund Victor Hartmann, komponierte. Allerdings schafften die musikalischen Bilder erst 50 Jahre später, in der an Klangfarben reichen Orchestration von Maurice Ravel, den internationalen Durchbruch. Das instrumentaltechnisch in manchen Stimmenparts anspruchsvolle Stück verlangt von den Laienspielern einige Stunden an Heimtraining. Das Resultat im Gesamtklang des grossen Orchesters – da waren doch unter anderem nicht weniger als vier Harfen mit von der Partie! – war erstaunlich gut. Gewaltig prachtvolle Klangsäulen erstanden mit eruptiver Gewalt gegen Ende des Stückes, wo die Hexe Baba-Yaga in das grosse Tor von Kiew einfliegt. Ist dieses sakrale Symbol nicht (auch) das Tor zu einem mystischen Raum, vielleicht gar zum Neuen Jerusalem? Der Pianist Michail Arkadiev ist überzeugt davon, dass «der letzte hymnische Teil der Bilder im Jenseits stattfindet», wie er letzthin sagte. Das mag ein Grund dafür sein, dass nach dem gewaltigen Schlussakkord eine gespannte Totenstille eintrat, bevor der Applaus losbrandete. Sebastian Tewinkel ist es einmal mehr gelungen, mit seiner Programmierung, aber in ebenso hohem Mass mit seiner persönlichen Ausstrahlung und dem guten Umgang mit Laienspielern, unterschiedlichen Partituren Leben einzuhauchen und ihre musikalische Aura in ungewohnter Umgebung zu entfalten. Franz Bach wirkt als Solist an diversen Perkussionsinstrumenten. SONISPHERE FESTIVAL Dem Trio gelang das Kunststück, sein musikalisches Schaffen auf Gitarre, Bass und Schlagzeug zurückzudeklinieren und dabei weder an Wucht noch an Überzeugungskraft zu verlieren. Die Entschlackung, die Muse im Rahmen ihres neuen Albums «Drones» angekündigt hatte, wandelte sich auf der Bühne zur Freude der rund 35 000 Fans in neue Kräfte um. Diese gingen allein von Frontmann Matthew Bellamy, Drummer Dominic Howard und Bassist Chris Wolstenhome aus – und liessen auch ohne elektronische Dickmacher und die oft kritisierte Techniküberfütterung bis zuletzt nicht nach. Diese Form der Reduktion rief Erinnerungen an die Anfänge der Band wach. Ebenso die Tatsache, dass die Musiker, einmal aus den Fesseln durchgestylter Bühnenshows befreit, wieder mehr Raum für Spontaneität und Publikumsinteraktion schaffen konnten. Matthew Bellamy hat schon lange nicht mehr so oft «Thank you, Merci» und «Dankeschön» gesagt wie an diesem Samstagabend in Nidau. Überhaupt gestalteten sich die Pausen zwischen den Songs auffallend lang. Lichter aus, Ruhe, einmal tief durchatmen bevor die Scheinwerfer wieder aufleuchteten und das Trio zu einer weiteren Höchstleistung ansetzte - man konnte dies ebenfalls als eine Art Rückbesinnung deuten. Erinnerungen wichtiger als Album-Promo Klar, dass «Dead Inside», «Psycho» oder «Mercy» als Kostprobe für das neue Album «Drones» nicht fehlen durften. Ansonsten enthielt die Set-Liste allerdings erstaunlich wenig Aktuelles. Viel mehr sorgten altbekannte Muse-Hits wie «Madness», «Stockholm Syndrome» oder «Newborn» für das Schwelgen in Erinnerungen. Und nicht nur in ganz alten – Muse spielten auch Hits wie «Uprising» von ihrem fünften Album «The Resistance». Aus der Zeit also, in denen man ihnen allmählich Grössenwahnsinn nachzusagen begann. Doch diesmal eben standen die Instrumente, die Musiker, die pure Spielfreude und nicht das Brimborium im Zentrum. Das Beste: An Wucht büssten die Nummern auch in ihren abgespeckten Versionen nicht ein. Drohnen am Himmel und auf der Bühne Auch wenn der Schwerpunkt nicht auf «Drones» lag: Die Show passte perfekt in das Konzept des neusten Muse-Streichs, das nicht nur die perfiden kriegerischen Mittel der heutigen Zeit, sondern auch die damit verbundene Dauerüberwachung beklagt. Die Kontrolle, der wir Menschen unterliegen und die daraus resultierende Gefahr, uns für düstere Machtabsichten instrumentalisieren zu lassen. Ob ein eingeblendeter militärischer Drillmeister («Your ass belongs to me now!») oder das auf Grossleinwand projizierte Drohnenziel, das abwechselnd von der Band und vom Publikum verkörpert wurde - Kontrolle und Überwachung waren die grossen Themen des Abends. Ob die Drohne, die in der ersten Konzerthälfte vor einem über dem Gelände schwebte zum Spektakel dazu gehörte, blieb unklar. MIRIAM LENZ