„Liebe und ein starker Geist kennen kein Alter – Phantasie hat keine

Transcription

„Liebe und ein starker Geist kennen kein Alter – Phantasie hat keine
Jürgen Minz (Hg.)
„Liebe und ein starker
Geist kennen kein Alter –
Phantasie hat keine Zeit”
Materialien zur Erinnerung
an Charlotte Wolff
Seite 1
Copyright
Charlotte-Wolff-Kolleg
an der VHS Charlottenburg
und
Jürgen Minz
Berlin 1998
Redaktion, Gestaltung
und Satz
Rainer Pabst-Wolter
Umschlag
Felix Wolter
Druck
Agit Druck, Berlin
Bestellungen an
Charlotte-Wolff-Kolleg
Pestalozzistr. 40/41
10627 Berlin
Seite 2
Inhalt
4
Vorwort
5
Grußworte anläßlich der Namensverleihungsfeier, 5. März 1997
11
Warum Charlotte-Wolff-Kolleg?
15
„Eine deutsche Kindheit”
Auszüge aus „Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit‖, 1990
18
„Die süßen Trauben wurden zu bittern”
Gedichte von Charlotte Wolff, Vers und Prosa, 1924
22
„Meine Freundin Charlotte Wolff”
Audrey Wood, 1997
26
„Begegnung mit Audrey Wood”
Christa Maria Rüter, 1997
29
„Ich bin ich”
Radiosendung, Sender Freies Berlin, März 1981
50
„Für mich ist die Frauenbewegung die größte Revolution aller Zeiten“
Im Gespräch: Charlotte Wolff
Psychologie Heute, Heft Mai 1981
68
„Wissen von der wirklichen Gestalt des Menschen”
Interview mit Charlotte Wolff, BBC, 23. September 1986
73
„Magnus Hirschfeld. A Portrait of a Pioneer in Sexology“
Kostproben
78
„Ein starker Geist kennt kein Alter”
Nachruf, tageszeitung, 27. Oktober 1986
82
„Charlotte Wolff – internationale Jüdin mit britischem Paß”
Laudatio von Christa Wolf, anläßlich der Namenverleihungsfeier
des Charlotte-Wolff-Kollegs, 5. März 1997
93
„Charlotte Wolff – eine faszinierende, vielschichtige, menschenliebende Frau”
Sendung im Sender Freies Berlin, 5. März 1997
97
„Ein Leben aus erster Hand”
Courage Heft 1/1982, Berlin
112
„Charlotte Wolff – Ärztin und Forscherin”
die, Heft 6/1997, Zürich
118
„Wir über uns“
Lebenslauf des Charlotte-Wolff-Kollegs
121
Bibliografie
Seite 3
Vorwort
Am Am
30. September
1997 hätte1997
die deutsch-jüdische
Ärztin, Psychiaterin
und
30. September
hätte die deutsch-jüdische
Ärztin,
Schriftstellerin
Charlotte
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feiern
können.
Psychiaterin
und Schriftstellerin
Charlotte Geburtstag
Wolff ihren
hundertsten
Das Charlotte-Wolff-Kolleg
nimmt dieses Jubiläum zum Anlass,
Geburtstag
feiern können.
seiner Namensgeberin
Das Charlotte-Wolff-Kolleg
und ihrem Werk
nimmt
durch
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Publikation
zum
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jedoch, bleibt:
dass unsere Namenspatronin Charlotte
Wolff mit ihrer Vitalität und Kreativität, ihrem analytischen Scharfblick
und„Liebe
ihrer und
sensiblen
ein starker
Intuition
Geist für uns Leitbild bleibt:
kennen kein Alter
– Phantasie hat keine Zeit
„Liebe
– und ein starker Geist
ich bin Charlotte Wolff,
kennen kein Alter
das ist alles was geschieht.”
– Phantasie hat keine Zeit –
ich bin Charlotte Wolff,
Berlin, im September 1998 das ist alles was geschieht.”
Rainer
Berlin,
Pabst-Wolter
im September 1998
Lehrer am Charlotte-Wolff-Kolleg
Rainer Pabst-Wolter
Lehrer am Charlotte-Wolff-Kolleg
Seite 4
Andreas Statzkowski, Bezirksstadtrat für Jugend,
Familie, Bildung und Sport
Sehr geehrte Frau Wissel,
sehr geehrte Frau Ellerbrock,
sehr geehrter Herr Minz,
die Benennung einer Institution wie die Ihres Kollegs in krisengeschüttelter
Zeit, in der mehr von Sparmaßnahmen und Abbau als von Zuversicht,
Optimismus und Motivation die Rede ist, finde ich einen wichtigen Akt!
,,Nomen est omen‖ sagt ein lateinisches Sprichwort. ,,Omen‖ ist hier
sicher mehr als ,,Vorbedeutung‖ oder ,,Zeichen‖. Es ist vor allem
Verpflichtung und Programm; denn immerhin ist eine Namensgebung auch
mehr als eine bloße Bezeichnung oder Schmuckformel. Sie ist eine Art
―Palladium‖ (lateinisch „Schutzschild‖), wie es seit der Antike bekannt ist.
Und damit wiederum haben Sie es sich nicht leicht gemacht:
Die Ärztin und Psychotherapeutin Charlotte Wolff war eine außergewöhnliche Frau, die als Jüdin einen schweren Lebensweg gehen mußte und
viel Leid erduldet hat. Ihre Forschungen als Psychotherapeutin über die
menschliche Hand und Gestik und später ihre Arbeiten an einer Theorie der
psychosexuellen Entwicklung haben weltweite Aufmerksamkeit und
Anerkennung gefunden. Sie waren nicht ohne Einfluß – auch auf
gesellschaftliche Entwicklungen besonders der 70er-Jahre.
Bei der Betrachtung ihrer beruflichen und Forschertätigkeit, ihres
Lebensweges und ihrer autobiographischen Schriften fielen die Geradlinigkeit
ihrer Persönlichkeit, ihre aktive soziale Bindung, vor allem als Ärztin, und ihr
wissenschaftliches und gesellschaftliches Engagement als herausragende
Tugenden auf. In schwieriger Zeit ist sie sehr geradlinig und überzeugt von
der Richtigkeit des Zieles ihren Weg gegangen.
Hier sehe ich ,,Tugenden‖ - und ich benutze ganz bewußt dieses
heute oft verkannte Wort ,,Tugend‖ - die uns Charlotte Wolff vorgelebt hat
und die wir von ihr auf den Weg ins VHS-Kolleg übernehmen können:
1.
die Geradlinigkeit der Persönlichkeit
2.
die aktive soziale Bindung und
3.
das gesellschaftliche Engagement.
Das sind Tugenden, die man erarbeiten muß. Und auch dabei kann
uns Charlotte Wolff ein Vorbild sein.
Hier möchte ich nochmals aus gegebenem Anlaß eine Brücke zum
„Zweiten Bildungsweg” schlagen:
Der ZBW ist keine Randerscheinung des Berliner Bildungswesens.
Hohe Teilnehmerzahlen sprechen für sich. Wie kaum ein anderer Teil des
Bildungswesens leistet der ZBW einen direkten Beitrag zur
Chancengleichheit. Deshalb müssen - ohne Zweifel - Lehr- und Lernmittel
wenigstens denen an Berliner Schulen entsprechen. Dafür setze ich mich
Seite 5
intensiv ein.
Hinweisen möchte ich auch auf die hohe Motivation der
Teilnehmer am ZBW, die eine abgeschlossene Berufsausbildung und/
oder eine mindestens 3jährige Berufstätigkeit hinter sich haben.
Gut zwei Drittel der Teilnehmer sind Frauen. Der ZBW leistet
somit auch einen spürbaren Beitrag zur Gleichberechtigung der Frau
und gleichzeitig zu ihrer Chancengleichheit, für die sich auch Charlotte
Wolff eingesetzt hat. (Ich verweise auf ihre Autobiographie „Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit.―, 1983).
Unzweifelhaft sind überdies die Teilnehmer des ZBW´s ein
gutes Beispiel für das allseits geforderte, dringend notwendige
lebenslange Lernen in unserer Gesellschaft. Sie bringen damit sich und
der Gesellschaft einen hohen Zuwachs an Qualifikation, der
zusammen mit ihrer Berufs- und Lebenserfahrung erwünscht ist.
Angesichts eines solchen Status quo kann keineswegs die Rede
davon sein, daß der ZBW aufgrund erfolgreicher Bildungspolitik
überflüssig geworden sei. Das Gegenteil ist der Fall: Der ZBW
verdient unsere volle Unterstützung! Das Abitur ist noch in hohem
Maße die umfassendste Voraussetzung zum Studium und zu besseren
Chancen für einen beruflichen Werdegang, zumal auch immer häufiger
das Abitur als schulische Voraussetzung für eine Berufsausbildung
angesehen wird. Ich erinnere diesbezüglich an den Wirtschafts- und
Bankbereich oder an die Polizei. Hier bietet sich bei der derzeitigen
Arbeitsmarktlage auch für augenblicklich Arbeitslose eine Chance,
berufliche Aussichten durch das Abitur zu verbessern.
Vor dem Hintergrund dieser Situation wird die Namensgebung
des Kollegs nach Charlotte Wolff im bereits genannten Sinn zu einem
verpflichtenden Programm!
Ich wünsche Ihnen - Lehrern und Schülern - herzlich, daß Sie
diesem mit Ihrer neuen Namensgebung verbundenen Programm in
Ihrer Arbeit gerecht werden und daß Ihnen der neue Name
Orientierung bietet.
Alles Gute und viel Erfolg dem Charlotte-Wolff-Kolleg!
5. März 1997
Seite 6
Monika Wissel, Bezirksbürgermeisterin
Guten Tag, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Charlotte Wolff schreibt 1980 in ihrer Autobiographie ,,Augenblicke
verändern uns mehr als die Zeit‖: „Bis auf den heutigen Tag danken
männliche Juden Gott in Gebeten, daß sie als Mann und nicht als Frau
auf die Welt kamen. Damit läßt sich der männliche Chauvinismus
orthodoxer Juden in wenigen Worten zusammenfassen.‖ Sie schreibt
weiter: „Doch liberale Juden hatten schon damals eine ganz andere
Einstellung. Meine Eltern und Verwandten hatten solche altmodischen
Überzeugungen als widernatürlich angesehen. Im Wilhelminischen
Deutschland lebten die Juden ein freies Leben, erwarben eine gute
Ausbildung, und viele folgten kulturellen Ambitionen und machten
sich in Kunst und Wissenschaft einen Namen. Meine Eltern machten
sich keine Gedanken um das Geschlecht ihrer Kinder. Es kam ihnen
niemals in den Sinn, für Jungen und Mädchen eine unterschiedliche
Ausbildung vorzusehen. Sie wollten, daß wir die beste Schulausbildung
bekamen und zur Universität gehen konnten, wenn wir es wollten.
Viele jüdische Familien waren gleicher Ansicht, und so ist es nicht
überraschend, daß damals Jüdinnen einen Großteil aller Studentinnen
ausmachen.‖
Charlotte Wolff beschreibt hier die günstigen Voraussetzungen;
die ihr ein für Bildung aufgeschlossenes und in jeder Beziehung
vorurteilsfreies Denken ihrer Eltern gaben - wobei ein relativ gutes
finanzielles Auskommen ihrer Eltern hinzukam. Sie kann ohne
Einschränkungen ihren Bildungswillen und ihren künstlerischen
Ambitionen sowie ihren erotischen Neigungen nachgehen - ein Privileg, das viele ihrer deutschen Altersgenossinnen bei weitem nicht
hatten. So erhält sie eine Schulausbildung an der renommierten
Victoria-Schule in Danzig und kann in verschiedenen Städten Medizin
und Philosophie studieren, was damals für Frauen noch keine
Selbstverständlichkeit war.
Ihre Tätigkeit in einer Klinik für Schwangerschaftsberatung
und -planung im Berliner Arbeiterbezirk NeukölIn wurde von den
Nazis unterbunden.
Als Jüdin war sie zur Emigration gezwungen und floh zuerst
nach Frankreich. 1936 siedelte sie nach England über - dort machte sie
sich mit der psychologischen Diagnose der Hände und der Gestik
einen Namen. Von 1952-1967 praktizierte sie in London als Psycho-
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therapeutin.
Ein dritter Neuanfang war ihre literarische Tätigkeit; bereits in
den 20er Jahren hatte sie Lyrik veröffentlicht, später folgten
Sachbücher: Die Hand als Spiegel der Psyche, Psychologie der
lesbischen Liebe, Bisexualität; ihre Autobiographie: Augenblicke
verändern uns mehr als die Zeit und einen Roman: Flickwerk.
Sie fragen sich jetzt sicher, warum ich die einzelnen Stationen
in Charlotte Wolffs Leben so ausführlich beschreibe. Sie haben sich in
ihrer Namensgebung eine Frau ausgesucht, die immer wieder nicht
immer freiwillig einen Neuanfang gewagt hat. Sie verehrte
Kollegiatinnen und Kollegiaten hatten und haben auch den Mut, noch
einmal einen Neuanfang zu machen, dazu möchte ich sie beglückwünschen.
Der Zweite Bildungsweg verbessert die Möglichkeiten
wesentlich, nachträglich Bildung zu erwerben - insbesondere auch für
Frauen. Wie notwendig dies ist, zeigt die Tatsache, daß seit Jahren zwei
Drittel der TeilnehmerInnen an dieser und Einrichtungen des Zweite
Bildungsweges Frauen sind. Trotz der Selbstverständlichkeit, mit der
heute Mädchen das Abitur machen, besteht hier offen-sichtlich noch
ein großer Nachholbedarf.
Angesichts dieser Tatsache ist es konsequent, daß Sie verehrte
Kollegiatinnen und Kollegiaten sowie LehrerInnen in Ihrer Gesamtkonferenz eine Frau zur Namensgeberin gewählt haben.
Eine Frau, die als Wissenschaftlerin den Mut hatte,
ungewohnte Wege zu gehen - unabhängig vom Urteil der
Fachkollegen, die mit großem Einfühlungsvermögen und Engagement
als Ärztin und Psychotherapeutin wirkte und die während ihres ganzen
Lebens eine Neugierde und einen Forscherdrang zeigte, der sie in
Grenzbereiche und Tabuzonen gesellschaftlicher Forschung führte,
und das immer mit selbstverständlicher kritischer Vorurteilslosigkeit
und eigener existenzieller Betroffenheit machte.
Möge sie vielen von uns ein Vorbild sein!
5. März 1997
Seite 8
Jürgen Minz, Leiter des Charlotte-WolffKollegs an der VHS Charlottenburg
Sehr verehrte Gäste, liebe Kollegiatinnen und Kollegiaten, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
,,Alles, was die Patienten mir als Therapeutin erzählen,‖. sagt Charlotte Wolff 1980 in einem Interview, ,,habe ich ja selber empfunden,
denn wir sind ja alle alles, wenn wir nur ein bißchen aufpassen. Aber es
ist ja doch eine große Erweiterung. Jeder Mensch ist eine Ent-deckung. Das ist wie ein neuer Planet.―
Als wir das erste Mal von Charlotte Wolff hörten, war sie für
mich und für viele von uns ein unbekannter neuer Planet und es
gehörte schon noch etwas Wagemut dazu, sie in einer
Gesamtkonferenz als Namenspatronin zu wählen, nachdem einzelne
Kolleginnen und Kollegiatinnen von ihr erzählt und sich für sie
eingesetzt hatten. Wir merkten, daß sie keine Säulenheilige sein würde,
aber das konnte uns nur recht sein. Und die Mutigen wurden belohnt:
Bei fast jedem Treffen unserer Vorbereitungsgruppe zu Ausstellung
und Fest gab es für Lehrende und Lernende Augenblicke der
Entdeckerfreude. Mal war es ein Zitat, das neue Ausblicke eröffnete
oder auch zu Widerspruch reizte, oder ein Foto, bei dem sich eine
andere Facette ihres Blickes, ihrer Gestik zeigte, oder es war das
Tonband, durch das uns erstmalig ihre akzentuierte und nuancenreiche
Stimme fesselte.
Erstaunlich ist auch, wie wir beim allmählichen Entdecken
einer fremden Person uns selber auch immer ein wenig mehr
entdecken, denn wir sind ja, wie Charlotte Wolff sagt: „alle alles―, wir
können mitempfinden, und die Begegnung mit anderen Personen kann
Bestätigung, Herausforderung oder Ablehnung sein. Von allem hat
Charlotte Wolff viel erfahren, und es waren bisweilen sehr
schmerzhafte Erfahrungen, sei es die Trennung von einem geliebten
Menschen, von dem sie durch die furchtbaren politischen Ereignisse
getrennt wurde, oder die Emigration aus Deutschland 1933, die sie aus
einem Sprach-und Kulturraum und Freundeskreis vertrieb, mit dem sie
aufs innigste verwurzelt war. Und erst viel später, nach langem verständlichem Zögern war sie wieder in der Lage, Verbindung zu
Deutschland, insbesondere Berlin, aufzunehmen.
Aus ihren autobiographischen Schriften spricht trotz aller
Seite 9
Leiden und Umbrüche, die oft auch zu tiefer Niedergeschlagenheit
und Isolation führten, tiefe Liebe und Empfindung für andere
Menschen. Diese von schwierigsten Zeitumständen und auch von
vielen glücklichen und erfüllten Augenblicken geprägte seelische
Landschaft der Charlotte Wolff regt in uns vielfältige
Mitempfindungen und geistige Prozesse an und wir merken, dass
unsere bisherigen Bemühungen, sei es die kleine Ausstellung oder die
Lesung von Kollegiatinnen, die Sie soeben gehörte haben, nur erste
Annäherungen, eine erste Spurensuche auf dem Planeten Charlotte
Wolff sind. Dankbar sind wir vielen von Ihnen, liebe Gäste, daß Sie
uns durch Hinweise oder Dokumente geholfen haben, und wir würden
uns über weitere Mithilfe sehr freuen.
Ein ganz besonderes Glück, eine nicht zu überschätzende
Bestärkung auf unserem Weg, unserer Entdeckungsfahrt - die Sie
heute ein Stück des Weges mitgehen - war es, als ein Kollege
entdeckte, daß in dem Text ‚Störfall‗ der Schriftstellerin Christa Wolf
ein Hinweis auf ihre Londoner Brieffreundin Charlotte Wolff
enthalten ist. Mit Hoffen und auch ein wenig Bangen haben wir den
Brief begleitet, den Herr Bühler an Sie schrieb. Wir können es noch
jetzt kaum fassen, daß Sie, sehr verehrte Frau Wolf, bei uns sind und
aus Ihrem Briefwechsel mit Charlotte Wolff lesen und zu uns sprechen
wollen.
Wir sehen darin für unsere Namenspatronin und unsere Schule
ein gutes Omen.
5. März 1997
Seite 10
Warum denn ein neuer Name für unser VHS Kolleg?
Schließlich sind wir ja seit Jahren unter diesem Begriff bekannt - und
werden so weiterempfohlen!
Warum also Bewährtes aufgeben?
Beim Hören einer anderen Bezeichnung wird niemand mehr sagen:
„Das kenn„ ich, da habe ich mein Abi gemacht!‖
Er oder sie wird den Namen überhören. Im besten Fall könnten
Fragen auftauchen wie: ,,Charlotte-Wolff-Kolleg, welches ist das?‖
oder: ,,Charlotte Wolff - wer war das denn?!‖
Ja - um dieser Fragen willen:
Warum eigentlich kein neuer Name!
Schließlich wird es sich herumsprechen, daß unser Kolleg nun so heißt
- und wer Charlotte Wolff war:
Ein Mensch, eine Frau, die mit all‗ ihren Kräften versucht hat, sie
selbst zu sein, authentisch zu leben, unabhängig und frei.
Ihre erotische und sexuelle Vorliebe für Frauen vertrat sie ganz
selbstverständlich und bezog dieses Interesse in ihre
wissenschaftlichen Forschungen ein. Wegen ihrer (jüdischen) Herkunft
fristlos entlassen, dann von Verfolgung bedroht, gelang es ihr, die
Gefährdung, die das nationalsozialistische Deutschland für sie
bedeutete, zu erkennen, das Land rechtzeitig zu verlassen und im
Ausland weiterzuleben.
Rückblickend sagt sie über ihre Berliner Zeit als Studentin:
,,Wir waren einfach wir selbst, die einzige Befreiung, die am Ende
zählt.‖
Ein Gedanke, den wir uns auf unserem eigenen (nicht nur Zweiten
Bildungs-) Weg zu eigen machen können..
Claudia Franke,
Lehrerin am Charlotte-Wolff-Kolleg
Februar 1997
Seite 11
WARUM gerade Charlotte-Wolff-Kolleg?
Vor etwa 12 Jahren interessierte ich mich sehr für Handanalyse und
-interpretation und stieß per Zufall auf Charlotte Wolffs Buch: „Die
Hand als Spiegel der Psyche.‖
Die Erstbegegnung führte bald zu einer großen Faszination für eine
sehr ungewöhnliche, eigenwillige und vor allem vielschichtige Frau,
deren autobiographisches Werk „Augenblicke verändern uns mehr als
die Zeit (Originalausgabe: „Hindsight‖, London 1980) ich mit größtem
Interesse und Bewunderung verschlang.
Die Stationen ihres Lebens sind bekannt, sie werden an anderer Stelle
dargestellt. Hier geht es darum zu betonen, daß unser VHS-Kolleg
Charlottenburg nach einem passenden Namen suchte, nicht unbedingt
dem eines berühmten, eher eines weniger bekannten Menschen, mit
einer noch zu erschließenden Biographie, mit einem spannenden Wirkungsfeld.
Aus meiner Sicht sollte es eine Frau sein, eine Frau deren Lebensweg
uns inspirieren und begeistern könnte. Alles schien zu passen: Die
jüdische Intellektuelle und Ärztin, die Berlin in den Wirren der
Nazizeit verlassen, in Paris sich mit Handanalysen durchschlagen
mußte, die Forscherin, die danach in London ihren wissenschaftlichen
und schriftstellerischen Neigungen nachgehen konnte.
Sie war ganz und gar keine geschmeidige Frau, sie war neugierig, ehrgeizig, zielstrebig und bis ins hohe Alter voller Energie und Schaffenskraft. Sie hatte eine Vision, die Vision des bisexuellen, differenzierten
dennoch ganzheitlichen Menschen, der vollkommen frei von stereotypen Vorstellungen und Fesseln lebt. Es wäre nützlich und hilfreich in
diesen zerspaltenen, von Intoleranz geprägten Zeiten diese Vision
nicht aus den Augen zu verlieren.
Charlotte-Wolff-Kolleg: ein Name der reizt, neugierig macht und herausfordert.
Eleanor Katzschner
Lehrerin am Charlotte-Wolff-Kolleg
Februar 1997
Seite 12
Charlotte-Wolff-Kolleg – klingt gut!
1984 habe ich den ersten Vorkurs am VHS Kolleg unterrichtet. Seitdem hielten sich die Nachfragen in meiner Umgebung die Waage mit
dem ‚Weiß-schon-Kommentar‖: Ach ja, Volkshochschulkurse – muß
man da eigentlich richtige Lehrerin sein? ... Jede Initiative, unserer
Schule einen Namen und damit Unverwechselbarkeit zu verleihen, habe ich laut begrüßt und genauso schnell vergessen wie viele andere
konstruktive Ideen, die mit ‚Ärmel-Hochkrempeln‗ verbunden waren.
Über einen Zeitraum von mehr als 10 Jahren gab es mehrere Ansätze
für eine Namengebung unserer Schule. Eine ist mir in besonderer Erinnerung. Wir stimmten mehrheitlich ab, daß der zu bestimmende Name der einer Frau sein sollte. Es ist schon eine Weile her, und obwohl
sich das Zahlenverhältnis männlicher/weiblicher NamenspatronInnen
wahrscheinlich leicht verbessert hat, gibt es keinen Grund, Frauen als
Repräsentantinnen unserer Gesellschaft aus dem Auge zu verlieren.
1995 stand es wieder auf unserer Tagesordnung: Wir brauchen einen
Namen. Jemand/ein Mann/ein Kollege schubst uns wieder an, sammelt Vorschläge, stößt auf Interesse bei KollegiatInnen und KollegInnen. Wir sammeln potentielle Namen, die für unsere Schule passen
könnten. Es gibt mehrere Vorschläge, wieder sind auch Männer in der
Diskussion, und wir fangen zum xsten Mal von vorne an. Die Gesamtkonferenz soll abstimmen. Die Entscheidungsfindung läuft ziemlich
schräg. So viele Meinungen, so viele unaufrichtige Kommentare. Ich
komme zu dem Schluß, daß es bedeutender sei, überhaupt einen Namen für unsere Schule zu finden, als eine bestimmte Person wichtiger
zu finden als andere. Ich habe zunächst nicht für Charlotte Wolff gestimmt. Sie erhielt schließlich die Mehrheit, und ich war zufrieden. –
Endlich!
Dann folgte die Planung für die Schulbenennung. Die meisten von uns
wußten nicht viel über Charlotte Wolff. Rainer P.-W. suchte Material
und Mitsuchende. Beides verlief nicht gerade reibungslos. Ich las ihren
Roman ohne große Begeisterung, ihre Dissertation fand ich sehr eindrucksvoll, ihre Autobiographie wollte ich gar nicht mehr weglegen.
Als ich einen Brief von ihr an Christa Wolf vorgelesen hörte, hatte ich
irgendwie das Gefühl, sie persönlich zu kennen.
Charlotte Wolff hatte ein langes Leben, und es ist nicht leicht, die vielen, teilweise brüchigen Mosaiksteine aus ihren Lebensstationen zu einem Gesamtbild ihrer Persönlichkeit zusammenzutragen. Aber bei der
Spurensuche durch ihre Zeitgeschichte gefällt mir immer mehr der
Gedanke, daß wir durch die Wahl ihres Namens für unsere Schule zu
einer angemessenen Würdigung von Charlotte Wolff beitragen werden.
Brigitte Menzel
Seite 13
„Es ist schwieriger, der Namenlosen zu gedenken
als der Berühmten“ (Walter Benjamin)
oder: warum Charlotte Wolff ?
Am Anfang stand die Idee – unsere Schule braucht einen Namen. Die
Argumente dafür waren den meisten einleuchtend, einige wollten das
„Bewährte bewahren” – die Pro-Position setzte sich durch.
Der dann beginnende Prozeß einer Namensuche brachte vielfältige Ergebnisse – alberner, humoristischer, sarkastischer, aber auch
seriöser Art. Schließlich stand die Entscheidung für Charlotte Wolff –
immerhin mit einer Mehrheit von drei Vierteln der (zahlreichen) Abstimmenden - fest. Auch ich stimmte für sie.
Zu Beginn war Charlotte Wolff für mich eine Unbekannte. Fast
zu perfekt schien sie den Kriterien der „political correctness‖ zu genügen: Frau, Jüdin, Emigrantin und dann auch noch Lesbe. Ein komplettes „Set Minoritäten‖ (die Frauen mögen verzeihen), in dieser Kombination praktisch unschlagbar. Nachfragen im Freundinnenkreis brachten bemerkenswerte Ergebnisse. Viele Frauen meiner Generation wußten durchaus etwas mit dem Namen Charlotte Wolff anzufangen, hatten ihre Bücher in den 70er und frühen 80er Jahren gelesen, sie auf der
Berliner Sommeruni erlebt und fanden es toll, daß unsere Schule nach
ihr benannt werden sollte.
Unsere Entscheidung stieß auf unübersehbare Hindernisse, die
Angelegenheit wurde auf die lange Bank gelegt, verschleppt, zur Prüfung an das Landesschulamt weitergereicht, dort an SenSchul verwiesen, dessen Nichtzuständigkeitserklärung wiederum an den Bezirk zurückgegeben etc.. Offensichtlich hatten einige Honoratioren damit gewisse Bauchschmerzen, was meine Motivation, die Angelegenheit zu
einem guten Ende zu führen, durchaus stärkte.
Nun steht der große Namensverleihungsakt unmittelbar bevor.
Zwischenzeitlich habe ich mich gründlich mit unserer Namenspatronin beschäftigt. Und ich muß gestehen, daß meine anfängliche
Skepsis der Hochachtung gewichen ist. Über ihre Bücher, durch
Videos und Tonbandaufnahmen lernte ich Charlotte Wolff als
faszinierende und eigenwillige Frau kennen, deren Leben und die
Zeugnisse ihres Wirkens unserer Schule gut zu Gesicht stehen werden.
Rainer Pabst-Wolter
Lehrer am Charlotte-Wolff-Kolleg
Februar 1997
Seite 14
„Eine deutsche Kindheit”
Auszüge aus Charlotte Wolffs Autobiografie: Augenblicke
verändern uns mehr als die Zeit
“Riesenburg heißt das Städtchen, in dem ich geboren wurde, doch es
trägt seinen Namen zu Unrecht. In dieser 4000 Seelen-Gemeinde gab
es nur zwei wirkliche Anziehungspunkte: den Großen und den
Kleinen Markt. Zum letzteren gelangte man durch das Riesenburger
Tor, eine mittelalterliche
Ruine – Überreste einer
ruhmreichen Vergangenheit;
durch seinen Bogen betrat
man die Altstadt. Doch
weder die Anlage der Stadt
noch die Architektur der
Gebäude verwiesen auf
irgend etwas Altehrwürdiges
oder Bemerkenswertes.
Nichts konnte darüber hinwegtäuschen: Riesenburg war nur eine langweilige Kleinstadt. Um das
Städtchen herum lagen Wiesen und Felder. Doch wanderte man etwa acht Kilometer weiter nach Süden,
dann betrat man einen
ausgedehnten, unberührten
Wald, den Großen Wald;
und drei Kilometer weiter
nördlich befand sich ein
kleiner Nadelwald auf
sandigem Boden, der Kleine
Wald. Der Große Wald
besaß die Attraktion eines
reichhaltigen Tier- und
Pflanzenlebens, während der
Kleine Wald als beliebtes
Ausflugsziel galt. In meiner
Erinnerung hat Riesenburg
Prabúty (ehem. Riesenburg), Torturm,
Seite 15
Sorgensee, 1997 heute noch eine romantische Anziehungskraft. In seiner Nähe fließt
die Liebe, ein Nebenfluß der Weichsel, die vor dem Ersten Weltkrieg
die Grenze zwischen West- und Ostdeutschland bildete. In die Liebe
mündet der Sorgensee, ein Name, der geeignet ist, die Phantasie mit
Sehnsuchtsgedanken anzuregen. Sowohl der Fluß als auch der See
spielten in meiner Kindheit eine wichtige Rolle.‖
Danzig
„Der einzige Bruder meines Vaters bewohnte ein altes Patrizierhaus in
der Frauengasse, die überall in Deutschland wegen ihrer einzigartigen
Architektur bekannt war. Die Frauengasse lag im Schatten der
mächtigen Marienkirche, einem hervorragenden Beispiel gotischer
Architektur, das ein eindrucksvolles Monument und zugleich Ort der
Anbetung war. Ihr kostbarer Besitz war das „Jüngste Gericht‖ von
Hans Memling. Diese größte protestantische Kirche der Welt bedrückte mich, solange ich mich erinnern kann.
Im März 1913 zogen meine Eltern nach Danzig und mieteten
eine Sechszimmerwohnung in der Fleischergasse 60. Mein Herz hüpfte
vor Freude. Wie wenig wußte ich damals über den unwiederbringlichen Verlust, den die endgültige Trennung von meiner früheren
Heimat bedeutete! Ungefähr zur selben Zeit gab es eine weitere
Seite 16
Veränderung für mich. Ich wurde in der Viktoria Schule angemeldet,
die für ihren hohen Ausbildungsstandard bekannt war. Ihr
abstoßendes Äußeres ging zurück auf das frühe 19. Jahrhundert, als
öffentliche Gebäude wie eine Mischung aus Kirche und Arbeitshaus
aussahen. Aber der Innenhof, auf dem die Schüler während der großen
Pause ihr Frühstück verzehrten, war hell und freundlich; umso
düsterer sahen die Klassenräume aus. Mein neuer Wohnsitz in der
Fleischergasse war nur ein Steinwurf von der Schule entfernt. Alles
paßte gut zusammen, und es schien vorherbestimmt zu sein, daß ich
zur gleichen Zeit, als meine Eltern ihren Wohnsitz änderten, Schülerin
des berühmten Gymnasiums wurde.‖
Charlotte Wolff, Augenblicke verändern uns mehr
als die Zeit, Frankfurt a.M. 1990, S. 9 ff
Ehemalige ViktoriaSchule, Gdansk, 1997
Seite 17
„Die süßen Trauben wurden zu bittern“
Gedichte von Charlotte Wolff
„Meine Versenkung in philosophische Texte war während meiner
Schulzeit zunächst hauptsächlich Flucht, wurde aber später
lebensbestimmend. Das zwanghafte Bedürfnis, Gedichte zu schreiben,
folgte demselben Muster, doch es wurde von anderen Quellen
gespeist. Kreative Regungen sind in uns allen vielleicht angeboren, von
mir griffen sie wie ein körperliches Bedürfnis Besitz. Wir wissen nichts
darüber, welche Impulse den Geist zwingen, inneren Rhythmen zu
lauschen und Bilder in Poesie umzusetzen. Dies war das wirkliche
Leben für mich. Es verschaffte mir Befriedigung, obwohl ich unter
den Auf und Ab zwischen Euphorie und Depression litt, den
notwendigen Begleitumständen kreativer Bemühungen. Doch der
Geist muß auch von Außen gespeist werden, und was kann erfüllender
sein als gegenseitige Liebe? Die späteren Gedichte, die ich schrieb,
waren ausnahmslos Liebesgedichte. Poesie ist naturgemäß oft
schwärmerisch und das Ergebnis halb oder gar nicht erfüllter
Sehnsüchte nach erfahrenen oder vergangenen Dingen. [...]
Die meisten meiner Gedichte waren Liebesgedichte für Frauen. Mein
Gefühl, daß Liebe eine Sache ist, die sich nur zwischen Frauen
abspielt, entsprach meiner festen Überzeugung, solange ich mich
erinnern kann.‖
Charlotte Wolff, Augenblicke verändern uns mehr
als die Zeit, Frankfurt a. M. 1990, S. 74 f.
Vor Menschenblick verbergen
Will ich für dich meinen Glanz
Mit sanft geschlossenen Lidern
Durchtaste ich die Nacht.
Ob du mich einmal riefest
Hütetest du scheues Licht
Verborgen, mit dunkelndem Auge,
Das mir die Heimat gibt?
Stirn und Mund und Hände
Wende nicht zu dir zurück,
Wir müssen dann beide erkalten
Und alles Leben lügt.
♦♦♦
Seite 18
Neigen wir unsere Stirnen
Fängt wo ein Wind an
zu zittern
Tasten wir Häuser und Menschen
immer stehen wir beide
vor Gittern
Finden sich einmal die Hände
Wird ein trennloser Hauch uns
umwittern
Du erblichest mir immer
Die süßen Trauben wurden
zu bittern
Wird uns einmal das Lied
Der Kuß uns einmal die Blüten
erschüttern
Werden heimlich die Blätter
In Frühlingsnächten
zittern
♦♦♦
Hast du nie mich gerufen
Kehrte ich nie bei dir ein
Blieb ich auf Nebelstufen
Immer und immer allein?
Sind wir einsame Inseln
In einem tönenden Meer,
Wirft ein Wind denn mein Winseln
Wie Hagel über dich her?
Liebst du das Schicksallose
Nur, das kristallene Gut,
Das, eine Feuerrose
In deiner Stirne ruht?
Seite 19
Über die wehrlosen Brüste
Schlägt ungehinderte Flut;
Schleicht ein Kind ohne Lüste,
Ist sein Spiel ohne Blut.
Rette dir deine Freude,
Schwarze Sterne stehn,
Suchen nach neuem Leide,
Werden sich zu dir drehn.
♦♦♦
Weil du niemals kamst
Weil in keinem Schritt
Du mich zu dir nahmst
Bis ich langsam glitt
Hintenübersank
Meine Kehle preßt
Eine Träne scheint
Wen sein Stern verläßt
Der ist keinem Freund
und vor Heimweh krank.
♦♦♦
Gesicht wird Glas
Die Öde dörrt
Schnee macht mich bunt
Ich werde verwehen.
in: Franz Hessel (Hg.),
Vers und Prosa,
Rowohlt 1924.
Seite 20
Frankfurter
Allgemeine
Zeitung,
19. April 1998
S. 34
Seite 21
„Meine Freundin Charlotte”
Erinnerungen von Audrey Wood, 1997
Am 30. September wäre Charlotte Wolff 100 Jahre alt geworden.
Sie starb kurz vor Vollendung ihres 89. Lebensjahres am 12.
September 1985. Audrey Wood, ihre langjährige Freundin und
Helferin hat uns liebenswürdigerweise aus ihrem gemeinsamen
Leben mit Charlotte Wolff geschrieben. Bitte bedenkt, daß in
England das Understatement üblich ist, dann läßt sich sicherlich
noch manches zwischen den Zeilen lesen.
Das erste Mal traf ich Charlotte Wolff in den 50ern in Chelsea
(London), wo sie als Psychiaterin praktizierte. Eine Bewährungshelferin vom West London Magistratsgericht kannte sie und hatte sie
gebeten, einige junge Frauen zu untersuchen, die vor Gericht erscheinen mußten. Charlotte stimmte zu, und ihre Konsultationen waren
sehr geschätzt. Die Bewährungshelferin gehörte zu den Quäkern in
Westminster, zu denen auch ich gehöre, und Charlotte Wolff wurde
von ihr zu einem informellen Treffen eingeladen; dort lernten wir uns
kennen. Wir wohnten ziemlich nahe beieinander und hielten seit dem
ersten Zusammentreffen Kontakt. Aber wir haben nie zusammen
gewohnt. Charlotte hatte ein Häuschen gemietet. Ich hatte eine Dachwohnung, von der sie immer sagte, es sei wie ein Picknick bei mir. Sie
überredete mich schließlich, mich um eine Wohnung im Kensington
und Chelsea Borough zu bewerben, die ich nach etwa 1 1/2 Jahren
bekam und in der ich nun seit 30 Jahren lebe. Noch heute bin ich
Charlotte Wolff dankbar, daß sie mir zu diesem Umzug geraten hatte.
Sie war eine bemerkenswerte Frau, ganz anders als jede andere Person, die ich bis dahin kannte, und ich meine, daß ich mich geschmeichelt gefühlt hatte, weil jemand mit so hohem intellektuellen Standard
von mir Notiz nahm. Allmählich wurden wir gute Freundinnen, ich
verdanke ihr sehr viel.
Charlotte hatte (in Deutschland) Medizin studiert und war als
Ärztin einige Zeit im Krankenhaus tätig. Sie war aber auch sehr an der
sozialen Lage ihrer PatientInnen interessiert und übernahm eine Stelle
in der Schwangerschaftsberatung der Abteilung für Präventivmedizin
an einem allgemeinen Krankenhaus. Das war das Richtige für sie und
sie arbeitete mit anderen jüdischen ArztInnen und Sozialarbeiterlnnen
zusammen. 1933 wurde ihr klar, daß sie durch die Nazis in Gefahr war
Seite 22
und sie schaffte es, im selben Jahr nach Paris zu entkommen. Zuvor
hatte sie noch an einem Kurs im Handlesen bei Julius Spier teilgenommen. Er war ein bemerkenswerter Mann, der zu der Erkenntnis
gekommen war, daß durch Studien der Hand gewisse Charakterzüge
und die Tendenz zu bestimmten Krankheiten festgestellt werden
konnten. Er konnte sein Wissen an andere weitergeben, hatte aber
keine entsprechende wissenschaftliche Methode entwickelt. Charlotte
war sehr interessiert und arbeitete an einer Methode, mit der sie selbst
die Handstudien betreiben konnte. Sie begann damit in Paris, und als
sie 1936 nach England kam, trieb sie vergleichende Studien an den
Extremitäten von Affen im Londoner Zoo, dessen Direktor Julian
Huxley, der Bruder von Aldous Huxley, war. Sie konnte Handabdrücke von vielen wohlbekannten Personen mit Hilfe von Aldous und
Maria Huxley machen. Darunter waren Virginia Woolf, die Herzogin
von Windsor und Osbert Sitwell. Das Resultat der ,,Reise um die
Hand‖ wie sie es nannte, waren drei Bücher: The Human Hand (1945),
gefolgt von The Hand in Psychological Diagnosis und The Psychology
of Gesture. In Anerkennung dieser Arbeiten wurde sie Fellow of the
British Psychological Society.
Charlotte hörte während ihres ganzen Lebens nicht auf zu
arbeiten. Im letzten Interview mit BBC World Service sagte sie noch,
sie plane einen Roman, der in Berlin spielt. Das war ungefähr zwei
Wochen vor ihrem Tod am 12. September 1985 und etwa vier Monate
nach ihrer letzten Veröffentlichung A Portrait of Magnus Hirschfeld,
dem großen deutschen Sexologen, der das Institut für Sexualkunde
nach dem Ende des 1. Weltkriegs gegründet hatte. Die Fertigstellung
dieses Buches hatte fünf Jahre gedauert und viele Recherchen
erfordert. Ich bin glücklich, daß sie die Veröffentlichung des Buches
und die positiven Rezensionen noch erlebt hat.
Charlotte war lange Zeit besonders an der Arbeit über
weibliche Homosexualität interessiert, nicht wegen ihrer eigenen
Freundschaften mit Frauen, sondern weil sie jegliche Art der
Kategorisierung und Stereotypisierung wie z.B. Homosexualität und
Heterosexualität ablehnte. Um mehr über lesbische Frauen
herauszufinden, ließ sie sich auf ein Forschungsprojekt ein. Sie konnte
108 Frauen, die sich als lesbisch bezeichneten, dafür gewinnen. Sie
interviewte sie, ließ sie einen Fragebogen ausfüllen und eine „emotionale Autobiographie‖ schreiben. Das gleiche führte sie mit 100
heterosexuellen Frauen durch. Das Forschungsresultat veröffentlichte
sie in ihrem Buch Love Between Women, 1971 (Psychologie der
Seite 23
Audrey
Wood,
1997
lesbischen Liebe). Durch diese Studie wurde sie auf die Bisexualität
aufmerksam und unternahm weitere Forschungen an je 75 Männern
und Frauen, die sich als bisexuell bezeichneten. Daraus entstand das
Buch Bisexuality - A Study (1977). Beide Bücher wurden in mehrere
Sprachen übersetzt.
Ab der Zeit war ich eng mit Charlottes Arbeit und auch ihrem
Leben verbunden. Ich hatte mir selbst das Maschineschreiben
beigebracht und habe es geschafft, die meisten ihrer Manuskripte zu
schreiben - manchmal gab es mehrere Entwürfe. Ich habe auch ein
Großteil des Haushalts und der Einkaufe usw. erledigt. So war ich
ziemlich stark beschäftigt.
1978 wurde Charlotte von einer Gruppe Feministinnen nach
Berlin zu Lesungen eingeladen. Es war 45 Jahre her, daß Charlotte
Deutschland verlassen hatte, und Deutschen gegenüber war sie noch
immer vorsichtig. Sie nahm jedoch die Einladung an, und ich
begleitete sie. Wir blieben etwa eine Woche, und es war eine großartige
Zeit mit Besichtigungsfahrten durch Berlin und über den Checkpoint
Charly nach Ostberlin. Der Höhepunkt dieses Besuchs war ihre
Lesung aus zwei ihrer Bücher vor ca. 500 Frauen in der AmerikaGedenk-Bibliothek Bei einer anderen Gelegenheit hielt sie eine Rede
Seite 24
vor einer informellen Gruppe in einem Raum, der mir wie eine riesige
Lagerhalle vorkam. Sie hörten hingerissen zu und stellten viele Fragen.
Unglücklicherweise konnte ich nur sehr wenig verstehen, denn meine
Deutschkenntnisse sind so gut wie nicht vorhanden. Ilse Kokula,
Käthe Kuse, Christiane von Lengerke und Heidi Giesenhauer sowie
viele andere waren unsere sehr angenehmen Gastgeberinnen.
Dies war der erste von mehreren Besuchen in Deutschland.
1980 hatte Charlotte eine Einladung nach Düsseldorf zu einem Referat
bei einer Konferenz von Schwulen und Lesben erhalten und wir
verbrachten vier oder fünf Tage in wundervoller Umgebung. Mir hat
es viel Spaß gemacht, mit Bussen in Berlin unterwegs zu sein, die
wirklich immer pünktlich fuhren, und notwendige Einkäufe zu
machen.
Charlottes Fähigkeit, die Persönlichkeit eines Menschen zu
erkennen, war bemerkenswert, dies muß sehr dazu beigetragen haben,
daß sie eine so gute Psychiaterin und Forscherin war. Nach ihrem
Tode sagten mir vier Leute, daß Charlotte ihnen das Leben gerettet
habe. Durch ihre Arbeiten über die menschliche Hand und ihre
Forschungen über die menschliche Sexualität trug sie in
bemerkenswerter Weise zum Wissen über Menschen und menschliche
Verhaltensweisen bei. Ich lernte viel durch sie, nicht zuletzt, wie
wichtig die Integrität des eigenen Ichs ist. Ich gewann auch Einblick in
Probleme der homosexuellen Männer und Frauen, was mich erkennen
ließ, wie wichtig es ist, sie zu akzeptieren und nicht nur zu tolerieren,
was zweierlei ist. Es war nicht immer leicht, so sehr in Charlottes
Arbeit und Leben eingebunden zu sein; aber wenn ich auf die Jahre
mit ihr zurückblicke, bin ich dankbar für alles, was sie mir durch ihre
Freundschaft gegeben hat.
Ich kann mir gut vorstellen, wie sie sich freuen würde, daß die
Erinnerung an sie in Berlin durch die Namensgebung des CharlotteWolff-Kollegs und die Veröffentlichungen in der UKZ zu ihrem 100.
Geburtstag wieder auflebt.
Audrey Wood, 1997
Deutsche Übersetzung: Eva Bornemann
für Unsere Kleine Zeitung, Berlin, Heft
10/11/1997
Seite 25
„Begegnung mit Audrey Wood”
Besuch von Suzanne Bégin und Christa Maria Rüter
(Lehrerinnen am Charlotte-Wolff-Kolleg) bei Audrey
Wood, Sommer 1997
Im 4. Stock eines elfgeschossigen Hochhauses in Chelsea, einem
gutbürgerlichen westlichen Stadtteil Londons, wohnt Audrey Wood in
einer hellen , etwa 55 m² großen Wohnung. Im Juni 1997 blinzelte sie
uns freundlich entgegen, als wir aus dem Aufzug kamen. Bisher hatten
wir nur telefoniert oder uns geschrieben. Nun waren wir neugierig
aufeinander, hatte sie doch die spontane Bereitschaft ausgedrückt, uns
während unseres Londonaufenthaltes zu empfangen.
Jetzt begrüßt sie uns mit einem warmen Lächeln. Sie ist
kleinwüchsig, trägt dichtes, graues Haar. Ihr Körper ist altersgebeugt.
Kaum sitzen wir auf ihrem Sofa, möchte sie wissen, was Christa Wolf
bei der Feier der Namengebung im Kolleg über Charlotte Wolff gesagt
hat. Damit sind wir auch gleich bei Charlotte Wolff als Thema
angelangt. Miss Wood (obwohl weit über 80, möchte sie Miss genannt
werden) deutet auf die manuelle Schreibmaschine auf dem Tischchen
am Fenster und sagt: ,,Damit habe ich alle Manuskripte von Charlotte
getippt. Und das letzte, das Buch über Hirschfeld, war besonders lang
und anstrengend. Danach war ich ganz erschöpft, und darum habe ich
zu Charlotte gesagt, daß ich kein weiteres Manuskript mehr tippe.
Aber ich glaube, das hat sie mir übel genommen. Ich war wirklich ganz
erschöpft, aber sie wollte nicht aufhören zu schreiben.
Für das Buch über Hirschfeld hat sie viel in Berlin im Archiv
gearbeitet, bei unserem 2. Besuch in Berlin. Unser 1. Besuch war 1976.
Da war Charlotte zu einem Kongreß eingeladen. Da hat Charlotte,
glaube ich, auch eine Rede gehalten. Sehr unterschiedliche Frauen.
viele waren Lesben, diskutierten. Manche wollten wissen, welche Art
Beziehung ich zu Charlotte habe. Nun, ich sagte ihnen, wir hätten eine
gute. Ich verstand diese Frage wohl nicht so richtig, aber mein
Eindruck war, daß die Frauen sehr angespannt waren. Doch das ist
alles lange her, und ich glaube, Charlotte hat sich wohlgefühlt. Beide
Aufenthalte waren sehr interessant. Charlotte hat nicht von Angst
gesprochen. Die Neonazis haben sie nicht interessiert, sie hatte
höchstens Probleme mit den Leuten in ihrem Alter, wenn die sich
nicht erinnern wollten.
Sie war ja schon 1933 von Berlin aus nach Paris gegangen. Dort
wurde sie von Aldous Huxley und seiner Frau unterstützt. Durch das
Seite 26
Audrey Wood
Ehepaar Huxley kam sie später nach London. Hier haben sich u.a. die und Christa
Quäker um Kriegsflüchtlinge gekümmert. Eine Quäkerfrau hat Maria Rüter,
Charlotte unter ihre Fittiche genommen. Anfangs hat Charlotte ihren London 1997
Lebensunterhalt allein mit ihrem Wissen über die menschliche Hand
verdient. Virginia Wolff hat sie ja auch aufgesucht. Doch sie hatte ein
breites Wissen über den Menschen. Darum wurde sie gebeten,
psychologische Gerichtsgutachten zu machen. Es ging dann z.B. um
ledige Mütter oder um Vormundschaftsfragen.
Als sie für das Gericht arbeitete, traf ich sie. Ich arbeitete mein
ganzes Leben als Hebamme. Wir waren dann 30 Jahre zusammen. Ich
habe sie immer sehr bewundert. Ich bin eine Quäkerin. Manchmal
kam Charlotte mit zu einem Meeting. Doch da wird ja nicht
gesprochen, und das machte sie nervös.
In den letzten 3 Monaten war sie meistens hier in meiner
Wohnung. Sie hatte nicht weit von hier eine Eigentumswohnung. Dort
hat sie als selbständige Psychotherapeutin gearbeitet. Seit den 60er
Jahren war sie von der Britischen Psychologischen Gesellschaft in
diesem Beruf anerkannt. Nebenbei hat sie ständig an einem Buch
gearbeitet.
Schwierig war es, mit ihr einmal zu verreisen, so einfach übers
Wochenende. Überhaupt war es nicht immer einfach mit ihr. In
Seite 27
meiner Familie wurde ich gewarnt, daß diese Frau mein ganzes Leben
bestimmen würde. Und so ist es dann ja auch gekommen. Ich fühlte
mich sehr geehrt dadurch. Waren mir ihre Anforderungen an mich
einmal zuviel, wollte sie wissen, ob ich mich nicht länger durch sie
geehrt fühlte.
Nach 3 Monaten Krankheit, d.h. nach einem 2. Herzanfall, ist
sie gestorben. Ich bin froh, daß sie nicht lange leiden mußte. Nach
ihren Tod stellte sich heraus, daß sie ihre Erbangelegenheiten nicht alle
klar geregelt hatte. Das war für mich dann noch kompliziert.
Ihr Nachlaß wird in Liverpool in dem Archiv der Universität
aufgehoben Der Archivar heißt Dr. Lovie. Nach meinem Tode gehört
der Nachlaß der Britischen Psychologischen Gesellschaft. Ich stelle
Euch gern ein Inhaltsverzeichnis über die Art und den Umfang des
Nachlasses zur Verfügung. Wenn ihr im Archiv etwas arbeiten wollt,
gebe ich euch die Erlaubnis.―
Während Miss Wood uns so offen berichtet, trinken wir Tee.
Es ist ja schließlich teatime, etwa 5 Uhr. Wir essen besonders süßen
Kuchen dazu und erfahren zwischendrin, welche Wirkung die
Chemotherapie auf sie hat. Ja, sie ist krebskrank. Die Behandlung soll
den Krebs zum Stillstand bringen. Sie fühlt sich medizinisch gut
aufgehoben und auch von vielen teilnehmenden Menschen
aufmerksam bedacht.
Unser Besuch ging so liebenswürdig zu Ende, wie er begonnen
hatte. Inzwischen hat uns das Inhaltsverzeichnis verdeutlicht, daß im
Archiv in 9 großen Kartons Schätze darauf warten, gehoben zu
wurden. Hier einige Beispiele: In Karton Nr. 4 befinden sich z. B.
Briefe, die Charlotte Wolff von Christa Wolf erhalten hat. In Karton
Nr. 2 sind u. a. Briefe von Huxley und Hessel aufgehoben, in Karton
Nr. 3 ,,Dr. Wolff´s mother, 6 letters, 1934, 1935”.
Es wäre sicher aufregend, mit Hilfe der archivierten Materialien
Charlotte Wolff weiter auf die Spur zu kommen.
Christa Maria Rüter, 1997
Seite 28
„ICH BIN ICH”
Ein Porträt der Schriftstellerin und Psychotherapeutin Charlotte Wolff.
Mitschrift einer Radiosendung, Sender Freies Berlin, März 1981
„Trotz ihrer 80 Jahre lebt sie zeitlos.
Sie ist klein, schwarzhaarig und zerbrechlich. Ihre Gesten sind
sparsam. Eine große Ruhe geht von ihr aus. Nur ihre Augen verraten
die Spannung, die in ihr ist. Wer ihr begegnet, hat das Gefühl sie
schon lange zu kennen. Charlotte Wolff ist nicht auf Abstand
bedacht, da ist keine Förmlichkeit nötig. Man merkt, der Umgang mit
Menschen ist ihr Metier. Ihre Gegenwart magnetisiert, strahlt
Autorität und Menschlichkeit aus. Ihr Gesicht erinnert an Rudi
Dutschke. Die gleiche Gewißheit, für die richtige Sache zu kämpfen,
hat ihr Leben geprägt.
Eine Vision hat ihr Leben bestimmt. Die Vision einer
menschlichen Gesellschaft, in der es keine Unterdrückung gibt. In der
bisexuellen Gesellschaft, von der sie träumt, soll kein Geschlecht über
das andere herrschen.
“Da gibt es überhaupt keine Konvention in einer bisexuellen
Gesellschaft. Jeder weiß, daß er Mann und Frau ist und empfindet
jede Art von sexuellem Ausdruck als eine Berechtigung, die jeder hat,
sein Recht, das er sich nehmen kann.
Ob jemand, der bisexuell bei Natur ist, das andere Geschlecht
mehr liebt als sein eigenes, das ist seine Sache. Das hängt von seiner
Biographie und von seinem Geschmack ab. Aber alles wird
gleichgestellt, da gibt es überhaupt keine Intoleranz. Absolute
Toleranz erstenmal in Geschlechtswahl und im Zusammenleben ist
die erste Forderung. Die zweite ist, daß keiner eine besondere Macht
über den anderen hat. Da gibt es nicht die Männermacht oder die
Frauenmacht.
Ich lehne ebenso den Frauenchauvinismus wie den
Männerchauvinismus ab. Es ist eine vollkommene Gleichstellung.
Das geht aus der ganzen Situation einer bisexuellen Gesellschaft ohne
weiteres hervor.‖ (Charlotte Wolff)
Die Resonanz auf ihre Vision einer bisexuellen Gesellschaft ist
gespalten. Was sie sagt, liegt zu weit entfernt von dem, was
gegenwärtig über die Natur des Menschen gedacht und geschrieben
wird, als daß ihre Thesen populär werden könnten.
Aber Charlotte Wolff ist gewöhnt, umstritten zu sein, und
Popularität ist nicht das, womit sie rechnet.
Als Lesbierin, Jüdin und Emigrantin gab es in ihrem Leben nie
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den Komfort einer wirklichen Geborgenheit und Anerkennung für das, was
sie tat. Sie mußte lernen, ihre
Heimatlosigkeit anzunehmen, keiner
Kultur, keiner Bewegung anzugehören,
sich als Außenseiterin zu begreifen, ihr
Selbstverständnis da zu suchen, wo es
zu finden war, zwischen den Grenzen.
Mit ihrem Lieblingswort ―Grenzüberschreitung‖ meint Charlotte Wolff
auch ein Stück dieser Identität.
“Grenzüberschreitung, das ist
das Wort, das ist überhaupt das ganze
Thema meines Interesses und vielleicht
meines Lebens.
Es interessiert mich alles, was
anders ist und wahrscheinlich, weil ich
anders bin. Ich bin wahrscheinlich nicht
ganz so wie andere Menschen, und ich
habe auch sowohl physisch wie geistig
und emotionell doch einige
Besonderheiten, die mich einer
Grenzsituation im Leben als etwas
Natürliches nahebrachten.
Ich würde niemals eine richtige
Heimat haben können, weil ich ja gar
Charlotte Wolff,
nicht zur großen Masse gehört habe. In welchem Land ich gelebt
erster Schulhätte, ob in Deutschland, meinem Heimatland, oder in Frankreich
Tag, 1910
oder in England oder irgendwo, ich würde immer ein Außenseiter
gewesen sein.‖ (Charlotte Wolff)
Die Erfahrung, entfernt zu sein von dem, was sie umgibt, reicht
weit in ihre Kinderzeit zurück.
Es ist ein ganz bestimmtes Ereignis, an das sie denkt, wenn sie
von dieser Erfahrung spricht und ein bestimmtes Gefühl, das sie mit
dieser Erfahrung verbindet.
„Das war eines der größten Ereignisse meines ganzen Lebens.
Ich werde es nie vergessen, und ich weiß jede Einzelheit dieses - ich
kann es nicht anders beschreiben - beinahe kosmischen Ereignisses:
Es war auf dem Weg zur Schule, da mußte ich [...] an der Post
vorbei und in eine Seitenstraße einbiegen. Und in dieser Seitenstraße
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war ein Hof, da waren diese Postkarren, ich kann noch die [...] vor mir
sehen, und plötzlich war ich gezwungen, von einem inneren Gebot,
stehenzubleiben, nicht weiterzugehen, nicht zur Schule.‖ (Charlotte
Wolff)
“Ich blieb nahe am Fenster eines Juwelierladens stehen und
guckte weder rechts noch links noch sonstwo hin. Ich war von einem
überwältigenden Gefühl ergriffen.‖ (Aus der Autobiographie ―Innenwelt und Außenwelt‖)
“Und plötzlich kam etwas über mich, was ich ja gar nicht
wußte, was es war.
Es war mehr so, als ob ich meine Arme ausstrecken wollte, mir
war ganz heiß zumute , und plötzlich hatte ich das Gefühl: ICH BIN
ICH!‖ (Charlotte Wolff)
“Zur gleichen Zeit fühlte ich, wie sich meine
Größenverhältnisse änderten. Ich kam mir dünner und größer vor als
ich in Wirklichkeit war. Ich empfand ein wundervolles Schweben,
meine Füße schienen den Erdboden verlassen zu haben. Und ich
schwebte in der Luft. Eine unbekannte und mächtige Kraft hatte von
mir Besitz ergriffen. Eine Kraft, die zu stark für mich war, sie zu
fassen. Sie gab mir ein Gefühl der Allmacht.‖ (Aus ―Innenwelt und
Außenwelt‖)
“Und plötzlich dachte ich, ich weiß alles. Ich hatte ein Gefühl,
als ob die ganze Welt in mir war: Daß ich wußte, was war, und daß ich
weiß, was ist, und daß ich wußte, was kommen wird. Und es war so
überwältigend, daß ich dachte: Wer bin ich?
Es war ein kaltes Gefühl, eine wunderbare, eine schöne Kälte,
eine Kristallkälte, die über meine Nase, zwischen den Beinen, Augen,
Augenbrauen war, und da dachte ich...es kann nicht ... ich dachte gar
nicht, es kam zu mir: Ich habe einen Amethysten im Kopf und dieser
Amethyst, das war wie ein drittes Auge Was mir da passiert ist, das war
dieses wunderbare Gefühl von einem kosmischen Zusammensein, daß
man plötzlich weiß, daß man viel mehr ist als nur dieser Mensch, der
das und das macht, daß da ein Bewußtsein ist von einer Höhe, von
einer Zusammengehörigkeit mit der ganzen Welt, daß eine
Omniszienz besteht.
Man wußte, was war, was geschehen würde. Aber das Gefühl
von einer besonderen Gnade, obwohl ich nicht religiös bin, aber da
fühlte ich, wenn es etwas Göttliches gibt, dann ist es das.‖ (Charlotte
Wolff)
Diesen Augenblick hat sie erlebt wie einen Film, real und nah,
Seite 31
aber auch weit entfernt.
Es war eine Erfahrung, die sie herausriß aus dem Einerlei ihres
bisherigen Lebens und die umschlug in ein Gefühl, berufen zu sein. Es
war dies eine trennende Erfahrung, etwas, das sehr schön und kostbar,
aber auch schmerzhaft war.
In ihrer Autobiographie ―Innenwelt und Außenwelt‖ schreibt
Charlotte Wolff weiter: ―Alles um mich herum veränderte seine
Bedeutung. Die Tatsache, daß ich für mehr als drei Jahre noch zur
Schule gehen mußte, empfand ich als eine Last, die ich kaum tragen
konnte.
Meine wunderbare Erfahrung hatte mich aus den Reihen
meiner Altersgenossen herausgeschossen und im gewissen Grad auch
aus denen meiner Lehrer. Ich nahm das Unvermeidliche in Kauf,
voller Abneigung und niedergeschlagen. Ich machte die Schule zu so
einer lockeren Disziplin, wie es eben gerade ging:
Ich betrat um acht Uhr das Klassenzimmer und redete wie eine
Fremde, die ihre Worte in eine andere Sprache übersetzen muß. Mit
Wesen, die mir und meiner Welt so fremd waren, war keine Sprache
möglich.‖ Ihre vage Gewißheit, anders zu sein, ist mit Verachtung
gepaart. Sie blickt herab auf Mädchen ihres Alters. Noch weiß sie nicht
warum, aber sie beginnt, dem Umgang mit Gleichaltrigen
auszuweichen.
Sie ist entschlossen, sich den Erwartungen einer normalen
Entwicklung zur Frau zu verweigern.
“Ich kann nur sagen, schon als ich ungefähr sechs Jahre alt war,
sieben, daß ich mich doch sehr einzeln in der Schule gefühlt habe.
Nicht, weil ich jüdisch war, nicht im geringsten, sondern weil
mir das Benehmen von Mädchen mit dem naiven ―Gickeln‖ und mit
dieser ganzen für mich trivialen Beschäftigung, den trivialen
Interessen, sehr zuwider war. Darum fühlte ich mich allein,
einsam.‖ (Charlotte Wolff)
Alles, was in ihrem späteren Leben eine Rolle spielen wird, hat
mit diesen ersten Erfahrungen begonnen. Ein Gefühl innerer
Zerrissenheit stellt sich ein, und sie lernt früh, sie zu verbergen.
Sie fügt sich in die Rolle des stillen Kindes, das vordergründig
gehorsam ist, ist eine Statistin, die eine Rolle erfüllt. Weil sie die Welt,
die sie umgibt, als feindlich erlebt, und weil es nur wenige gibt, mit
denen sie reden kann, beginnt sie in Verse zu fügen, was sie bewegt.
In einsamen Streifzügen durch ihre Heimatstadt Danzig sucht
sie die Ruhe, die sie braucht, um ihrem Leben gewachsen zu sein.
Seite 32
Haus des
Onkels Josef
Wolff in
Gdansk, 1926
“Auf diesen Spaziergängen meinte ich, Flügel zu haben, die
Worte und Rhythmus bewegten. Manchmal kamen ganze Verse von
irgendwo aus meinem Inneren.
Das überwältigende Gefühl, das sich meiner bemächtigt hat,
kündigte sich durch tiefes Atmen an, daß ich zu fliegen glaubte. Ich
merkte plötzlich, wie ich begann, rhythmisch zu gehen, fast tanzte ich,
und wie dann mein Kopf die Führung wieder übernahm. Das
rhythmische Schwingen in mir übertrug sich selbst in Bilder, und
Rhythmus und Bild verschmolzen zu Worten.
Wenn ich nach Hause kam, war ich wie betrunken von mir und
dem schöpferischen Prozeß, den ich erlebt hatte. In einem solchen
Zustand der Ekstase war es sehr schwierig, meiner Familie
gegenüberzutreten. Ich verhielt mich so still wie möglich und wartete
nur darauf, allein in meinem Zimmer zu sein.
Das halbfertige Gedicht in meinem Kopf zu haben, gab mir ein
erregendes Gefühl der Ungewißheit. Ich wiederholte einige Zeilen so
oft, bis ich es mit Anstrengungen schaffte, aus diesem fast-Chaos eine
Strophe zu bauen. Ich schrieb gewöhnlich Sonette, eine Form, die ein
gutes Stück disziplinierter Arbeit voraussetzt. Und dies war, denke ich,
das Gegengift zu dem chaotischen Gefühl, das dem Schreiben
vorausging.‖ (Aus ―Innenwelt und Außenwelt‖)
Seite 33
Jedes Gedicht ist für sie ein heimlicher Sieg. Ein Weg, sich von
dem, was sie innerlich zu zerreißen droht, wenigstens in Worten zu
befreien.
Schreiben ist für Charlotte Wolff geistige Notwehr. ―Ich
glaube, ich habe mich immer als einen sehr natürlichen Melancholiker
bezeichnet, mehr auch nicht, und meine Poesie und meine Philosophie
konzentriert, und die äußere Welt verschwand mehr, wurde kleiner
und geringer und geringer in ihrem Wert für mich. Nur wenn ich mich
freuen konnte an großen, ästhetischen Eindrücken und auch natürlich
an Beobachtungen, die meiner Phantasie und meiner Dichtung
Anstöße gaben, dann kam ich mit der Umwelt in Berührung.‖ (Charlotte Wolff)
Es kündigt sich in dieser kindlichen Isolierung eine Gefahr an,
die sie ein Leben lang begleitet hat.
Das viele Alleinsein als freiwillige Abkehr wird zur Falle. Und
jeder Rückzug aus der Welt, in der sie nicht heimisch ist, treibt sie
weiter hinein in dieses Grundgefühl der Verlassenheit. Sie weiß, daß
dies der Preis ist für ihre Art zu leben. Sie hat sich ein Reich für sich
geschaffen, in dem sie die Welt um sich herum vergessen kann.
Aber in ihrem Reich ist sie zuviel allein. Denn die Nähe anderer
Menschen , nach denen sie sich sehnt, ist für sie unerreichbar.
Isoliert ist Charlotte Wolff bis heute geblieben. Die Themen,
denen sie ihre Arbeit und ihr Leben als Psychotherapeutin und
Schriftstellerin gewidmet hat, sind immer Themen am Rande gewesen.
Sie hat Gedichte und Autobiographien verfaßt aber auch Sachbücher
über Handdeutungen und Sexualität geschrieben.
Jahrzehntelang hat sie sich ihrer psychologischen Forschung
gewidmet, hat im Alleingang Projekte realisiert, an die am Anfang nur
wenige glauben wollten. Immer war das, was sie in Angriff nahm, ein
Wagnis und eine Provokation.
Charlotte Wolff ist gewohnt, gegen den Strom zu schwimmen.
Für sie ist das Leben in jeder Phase ein Kampf gewesen, aber man
sieht ihr diesen Kampf nicht an. Man spürt nur, daß dieses Leben für
sie vor allem Leidenserfahrung war: Anteilnahme am seelischen Leiden
der Menschen, die als Patienten zu ihr kamen, aber auch eigenes. Ihr
Leben, das waren vor allem die Kriegs- und Nachkriegsjahre, die
Vertreibung aus Deutschland und die materielle und seelische Not der
Emigration.
Das war eine Tragödie, die ich für viele Jahre gar nicht
überwinden konnte. Ich fühlte mich so mit der deutschen Kultur
Seite 34
verbunden, ich schrieb in der deutschen
Sprache, natürlich, das war meine
Muttersprache, ich hatte deutsche
Freundinnen, es war mir unmöglich zu
verstehen, daß plötzlich die Juden etwas
anderes waren, daß die Juden gehaßt
wurden.
Es war mir ein solcher Schock,
daß ich plötzlich meine Stellung verlor
und eine Hausdurchsuchung hatte und
bedroht war, sogar mein Leben zu
verlieren.
Im Augenblick als mir das
passierte, wurde ich mir vollkommen klar,
wer ich bin, daß ich eine Jüdin bin, und
daß ich raus mußte. Und da muß ich
sagen, die Entscheidung viel mir schwer
und leicht.
Es war mir klar, hier ist eine
Entwurzelung, die ich nicht überwinden
kann. Aber es war mir auch klar, daß ich
so schnell wie möglich handeln mußte.
Und ein paar Tage nach dieser
Hausdurchsuchung entschloß ich mich, nach Paris zu
fahren.‖ (Charlotte Wolff)
Die Flucht, die Charlotte Wolff dann im Mai 1933 antrat, ging
für sie nie ganz zuende. Jedenfalls nicht in dem Sinne, daß sie eine
zweite Heimat oder den Weg zurück gefunden hätte.
Paris und London blieben Stationen ihres Exils, und dieses Exil
dauert bis heute an. Wenn sie an die große Entwurzelung von damals
denkt, dann kommt ihr vieles so vor, als wenn es erst gestern passiert
wäre. Die Schrecken von damals, Flucht und Entwurzelung, sind ihr
immer gegenwärtig geblieben. Einerseits als Gefühl lebenslänglicher
Gefährdung, aber auch als Gewißheit, trotz dieser Gefährdung
unbeugsam geblieben zu sein. Charlotte Wolff ist keine Frau, die für
Resignationen anfällig war. Sie wußte, die Flucht aus dem NaziDeutschland war für sie Ende und Anfang zugleich. Ein Einschnitt in
ihrem Leben, von dem an nichts mehr so blieb, wie es gewesen war.
Das neue Leben aber bot die Chance des Neubeginns, und sie
hatte diese Chance genutzt. Das neue Kapitel ihres Lebens heißt
Ch. Wolff als
Ärztin in Berlin,
1932
Seite 35
Chirologie, Handlesekunst, eine unkonventionelle Form psychologischer Diagnostik, bei der von der Beschaffenheit der Hände auf
den seelischen Zustand eines Menschen geschlossen wird.
Charlotte Wolff hatte schon in Berlin mit dem Studium der
Hände begonnen. In Paris nun hat sie keine andere Wahl, denn ihre
medizinische Ausbildung als Ärztin wird in Frankreich nicht
anerkannt. Dennoch hilft ihr ein Zufall weiter, mit der Medizin in
Kontakt zu bleiben: Sie lernt den sehr engagierten Psychiater Professor
Wallon kennen, der ihr an seiner Klinik die Erlaubnis gibt, ihre Studien
der Handdiagnostik weiterzuführen.
“Er brachte mich auch mit anderen Psychiatern in Verbindung,
und in deren Sprechstunden machte ich meine eigenen
Handdiagnosen, die dann mit den Diagnosen der Ärzte verglichen
wurden und woraus man sehen konnte, wieviel man aus der Hand
sehen kann.
Dies waren aber nur Anfänge. Das dauerte ungefähr drei Jahre,
in der Zwischenzeit hatte ich ein furchtbares Leben in einer Weise,
nämlich ich mußte mein Geld verdienen. Ich wurde sehr bekannt als
Handleserin in einem neuen Sinn. Man sah, daß ich ein Wissen damit
verband, das kein Chirologe vor mir hatte. Aber da war ein
sensationelles Element in der [...] von einer Menge von Klienten, die
zu mir kamen, und durch die ich mein Geld verdiente, um mein Leben
und auch meine Untersuchungen weiterführen zu können. Ich kam
mit sehr merkwürdigen, für mich sehr merkwürdigen Milieus beruflich
in dieser Weise in Verbindung. Das war die französische Aristokratie,
die [...], da war auch die [...], beinahe alle waren dabei, und es war ein
bisschen überwältigend.
Nun, was aber eine sehr unangenehme Seite für mich war, ich
fühlte, daß ich in die Rolle eines Scharlatans verdrängt worden war,
und ich litt außerordentlich darunter.‖ (Charlotte Wolff)
Man hält ihre Handlesungen für eine liebenswerte Spinnerei,
einen Zirkuszauber für den, der daran glauben kann,
Kaffeesatzdiagnosen oder Kartendeutungen vergleichbar. Aber viele
sind bereit, Geld dafür auszugeben, und das ist es, was Charlotte Wolff
am Leben hält.
Wirklich anerkannt und gefördert wird sie nur von einigen
wenigen Außenseitern. Die größte Bewunderung wird ihr von einer
Gruppe französischer Künstler, den Surrealisten, entgegengebracht.
Sie fühlen sich ihr verwandt und sind bereit, sie in ihre Kreise
aufzunehmen.
Seite 36
“Die Surrealisten sahen in mir eine Art Prophetie. Sie fanden,
daß das genau in ihr Programm und in ihre ganze emotionelle
Lebensweise und in ihre geistige Anschauungsart paßte. Sie haben es
nicht ganz richtig verstanden, sie dachten hier ist jemand, der aus einer
neuen Quelle, die intuitiv poetisch ist, eine Wissenschaft macht. Und
das hat ihnen enorm gefallen, das fiel genau in die richtige Kerbe ihrer
eigenen Ideen.
Davon abgesehen war eine ganz persönliche Anziehung, die
wahrscheinlich auf geistiger Verwandtschaft beruhte, weil ich den
Surrealismus selber als eine der größten Bewegungen in Kunst und
Literatur schon damals ansah, und noch heute.
Ich wurde mit Paul Eduard, dem Dichter, und seiner Frau [...]
besonders befreundet, und Andre Breton nahm mich überhaupt als
Schützling an. Er propagierte mich überall und durch ihn wurde meine
erste Veröffentlichung, die ―Les Revelations Psychologiques de la
Main‖ heißt, in der wunderbaren, noch immer berühmten Zeitschrift
“Minotaure‖ veröffentlicht. Durch diese Verbindung mit den
surrealistischen Freunden fühlte ich mich wieder in dem Milieu, das
ich in Deutschland verlassen hatte. Das war das Milieu von Franz
Hessel und ganz besonders von Walter Benjamin. Nun hatte ich drei
Leben: Das Leben als wissenschaftlicher Untersucher, das Leben als
Freund und wirklicher geistiger Kollege mit den Surrealisten, und dann
das doch sehr zweifelhafte und nicht angenehme Leben, das mir mein
Geld einbrachte.‖ (Charlotte Wolff)
Wenn Charlotte Wolff über diese Jahre als Handleserin spricht,
dann überkommt sie immer wieder das Gefühl, damals etwas
Verbotenes getan zu haben. Sie hatte sich auf etwas eingelassen, das
auch ihr selbst ein wenig zweifelhaft war, das an spiritistische
Sitzungen erinnerte, auch wenn das, was da geschah, kein Bluff oder
Zauber war.
“Erstmal sah ich mir natürlich die Hände an, und dann erzählte
ich den Leuten, was ich aus deren Händen für eine konstitutionelle
Diagnose stellen konnte, das heißt, was ihr allgemeiner
Gesundheitszustand war, ob da irgendwelche besonderen Tendenzen
zu Schwierigkeiten, psychischen Schwierigkeiten oder Krankheiten
waren. Aber das Wichtigste war, daß ich dort von ihrer Persönlichkeit
sprach. Und dann, dies war das Furchtbarste für mich, ich hatte, und
ich kann es heute noch nicht verstehen, eine unglaubliche Begabung,
wie ich es nicht anders bezeichnen kann.
Zu wissen, was für Ereignisse, und das konnte man ja wirklich
Seite 37
schon als romantisch
bezeichnen, in der
Vergangenheit dieser
Menschen passiert waren.
Ich konnte aus der Hand
die wichtigsten Daten
lesen. Ich weiß es heute
nicht, wie ich es gemacht
habe, aber ich tat es. Und
das natürlich war das
sensationelle, das mich so
überaus anstrengte, daß
ich beinahe tot umfiel,
wenn ich nach Hause
kam.
Es war eine Art
Trance. Ich glaube, daß
sich die Leute, als ich
sagte, ich werde jetzt mal
sehen, ob ich etwas aus
ihrer Vergangenheit sehen
TV-Sendung, kann, ... da haben sich die Leute ihrer eigenen Vergangenheit
London 1937 besonnen. Und ich halte das für eine Gedankenlesung, daß ich von
den Leuten selber die Nachrichten bekommen habe, daß das eine
intuitive Fähigkeit ist, die ja sehr viele Leute haben, aber das Resultat
auf meine Nervosität war furchtbar.
Ich fühlte mich erniedrigt, ich haßte es, aber ich mußte es tun,
um mein Geld zu verdienen. Das war aber auch, das muß man
zugeben, und ich muß das zugeben, es war etwas, was mich selber
faszinierte, denn ich fand etwas heraus über mich selber, wovon ich
keine Ahnung hatte vorher.‖ (Charlotte Wolff)
Auch wenn Charlotte Wolff ihre Zeit als Handleserin eine
zweifelhafte Episode nennt, so war es dennoch eine Zeit, in der sie
von Menschen umgeben war, deren Namen sie immer wieder gerne
nennt, und die diesen Jahren einen nachträglichen Glanz bereiten.
Sie hatte die Neugier und Achtung von großen Literaten und
Künstlern geweckt und ihre Liebe erobert. Diese Liebe war
schmeichelhaft für sie, auch wenn jede neue Begegnung zur großen
Zerreißprobe für sie wird.
“Eins der wichtigsten Er-eignisse war meine Begegnung, erst
Seite 38
professionell, dann mehr persönlich, mit Virginia Woolf, eine
sehr elegante Dame mit einem
etwas verbissenen Gesicht, aber
schönen Augen und wunderschönen Zügen. Man sah ihr an,
eine große Familie dahinter, ein
großer Kreis, das konnte man
sofort erfassen.
Sie sah mich mit sehr
zweifelhaften Augen an, und das
erste, was sie zu mir sagte, war:
Glauben Sie etwa wirklich an diese
Handgeschichte?
Worauf ich ihr antwortete:
Ich glaube es nicht, ich weiß. Ich
weiß, daß daran etwas ist, was keine
andere Seite der Psychologie geben
kann.
Worauf sie vollkommen
verblüfft war und mich erstaunt
ansah und mit großem Interesse. Wir saßen anderthalb Stunden
zusammen, und das Endresultat war, daß Virginia Woolf mich sofort
zum Tee am nächsten Sonntag in [...] in ihrer Wohnung einlädt. Sie
war so fasziniert, und ich war so fasziniert, wir waren fasziniert von
dem Vorgang, und das führte zu dieser immediaten Einladung.
Ich werde nie vergessen, das habe ich auch verschwiegen, wie
ich sie besucht habe, was sie mich alles gefragt hat, und ich sagte:
Hören Sie mal zu, wollen sie mir erlauben, etwas ganz
Ungewöhnliches zu machen? Ich möchte nicht, daß wir uns ansehen,
wollen wir uns doch Rücken zu Rücken setzen und dann sprechen.
Da haben wir ungefähr zwei Stunden Rücken zu Rücken
gesprochen. Sie fühlte, daß sie niemandem wirklich ins Gesicht sehen
konnte. Wenn sie frei sprechen sollte, dann war es wirklich wie ein
Monolog, und es war ihr viel leichter, diesen Monolog zu halten, wenn
sie kein Gegenüber hatte.
So konnte sie mich kaum sehen, aber ich war da, und ich fand
das wunderbar. Ich habe das sehr, sehr geschätzt, und ich habe es
wirklich als eine Ehre empfunden.‖ (Charlotte Wolff)
Für Charlotte Wolf sind die Handlesungen ein intuitiver Weg,
TV-Sendung,
London 1937
Seite 39
Menschen kennenzulernen. Dieses Kennenlernen aber ist kein
einseitiger Vorgang, denn die Ängste der anderen, die sie auf einen
Blick erfassen kann, sind ihr selber vertraut. Und dieses Vertrautsein
mit der Angst wird zur großen Offenheit im Umgang miteinander.
Sie macht kein Geheimnis aus der verzweifelten Lage, in der sie
sich selber befindet.
“Wenn ich Depressionen, sehr schwere Depressionen und das
Gefühl der Einsamkeit hatte, das fing an ungefähr 1939 mit dem
Anfang des Krieges, da fing es so furchtbar an, wie ich dann dasaß, da
konnte ich nicht mal lesen, [...] da habe ich mir immer die Hände so an
den Kopf gefaßt und stundenlang so dagesessen [...]. Oh, ich kenne
das alles, und ich werde Ihnen was sagen, ich bin sehr zufrieden, ich
lebe angenehm, nicht viel mehr als angenehm. Es ist mir sehr wichtig,
daß ich durch all diese Gefühle und durch all diese Schwierigkeiten
selber hindurchgegangen bin, denn dadurch habe ich ein solches
Verständnis bekommen für alle Menschen in jeder Verfassung, in jeder
Krankheit, in jeder seelischen, in jeder nervösen, in jeder menschlichen
Situation.‖ (Charlotte Wolff)
[...] Selber betroffen zu sein von dem, womit sie sich in ihrer
Arbeit beschäftigt, ist Vorteil und Gefahr. [...] auch wenn es seelisch
kranke und schwer leidende Menschen sind. ―Meine Methode war
anders als die meisten Methoden hier im Lande. Ich habe nur eine
gewisse Verwandtschaft mit der radikalen Psychotherapie und mit Dr.
L., der auf einer vollkommen anderen Basis seine Behandlungen
macht, nämlich der ganz gegen Drogen ist, dann seine eigenen
Theorien hat, und das allerwichtigste, was ich vollkommen anerkenne:
Er glaubt, daß man Menschen als Menschen und nicht als Kranke
sehen soll, und daß man Menschen nur mit einem Gefühl und mit
einem wirklichen inneren Wissen heilen kann, und das ist Liebe.
Und ich wußte, daß eins nur möglich ist: Wenn Patienten mit
ihren Angstzuständen, Depressionen zu mir kamen, daß man sie
unterstützen, unterstützen soll, daß man ihnen zeigen soll, daß man für
nichts anderes da ist, wenn sie da sind, als für sie.‖ (Charlotte Wolff)
Diese Bereitschaft, sich soweit auf ihre Patienten einzulassen
aber ist nichts, wozu sich Charlotte Wolff überwinden muß. Es ist für
sie kein einseitiger Prozeß. Sie sieht in dem Vertrauen, das ihr
entgegengebracht wird, ihren Lohn. ―Alles, was die mir erzählen, habe
ich ja selber empfunden, denn wir sind ja alle alles, wenn wir nur ein
bißchen aufpassen. Aber es ist ja doch auch eine große Erweiterung.
Jeder Mensch ist eine Entdeckung. Das ist wie ein neuer Planet.
Seite 40
So habe ich doch jedesmal, wenn ich einen Menschen, eine
solche Begegnung, weiterführe, erstensmal habe und dann
weiterführe, etwas gewonnen. Es ist ein gegenseitiger Einfluß und in
den meisten Fällen ein gegenseitiger Gewinn. Ich habe soviel von
diesen Menschen gelernt, und sie sind mir so wichtig, ich meine, es
war sozusagen eine Art auch von Therapie für mich selber.
Es war wunderbar, nicht nur meine Arbeit als
Psychotherapeutin und Psychiaterin, auch in meinen Forschungen.
Was mir diese Menschen gegeben haben, vielleicht war das viel mehr,
als was ich ihnen gegeben habe. Es ist wechselseitig, in beiden
Situationen, in der praktischen Arbeit, in der Arbeit als Psychiater und
in der Arbeit als Forscher.‖ (Charlotte Wolff)
Für Charlotte Wolff ist Arbeit immer etwas gewesen, was sehr
persönlich mit ihrem Leben zusammenhängt. Auch mit dem, was sie
in ihren Büchern beschreibt, meint sie ein Stück von sich selber. Ihre
Erfahrungen im Umgang mit den seelisch Kranken und mit sich
selber wird zur Basis für das, was sie als ihre eigentliche Berufung
ansieht: Die psychologische Erforschung der menschlichen
Emotionalität.
Diese Nähe zur eigenen Erfahrung schildert sie in ihrer
Autobiographie ―Innenwelt und Außenwelt‖:
“Von dem Augenblick an wo Lisa eintrat, wußte ich, daß sich
die Welt für mich geändert hatte, und daß jede Stadt eine andere Stadt
sein würde, wenn Lisa da war.
Sie hatte den Leib und die Bewegung eines Tänzers. Ihr Kopf
war zu groß für ihre zierliche Statur, und er zog alle Aufmerksamkeit
auf sich. Das weiche, braune Haar hatte sie von einer hohen Stirn
zurückgekämmt, und die Augen waren ebenso fesselnd wie der etwas
vorstehende Mund mit den tiefroten Lippen. Sie war das
faszinierendste menschliche Wesen, das ich je gesehen hatte: Eine
russische Jüdin mit Südsee-Appeal. Ihre Freunde nannten sie ―Mona
Lisa‖.
Natürlich war es für mich Liebe auf den ersten Blick. Ich
wartete und wartete auf die Stunde, die Minuten, in denen ich
ungestört mit Lisa allein sein konnte. Sie lag gewöhnlich auf einer
Chaiselongue in ihrem kleinen Zimmer, während ich neben ihr mit
dem Rücken zur Tür auf einem Stuhl saß und immer besorgt auf
andere lauschte, die eintreten und unser tête-à-tête unterbrechen
könnten. Mein Horchen nach hinten war eine physische und nervöse
Anspannung.
Seite 41
Charlotte Wolff
Frustrierung und Nervosität trugen wahrscheinlich dazu bei, in
in Berlin, April
mir ein Heimweh-Ideal für das Unerreichbare aufzubauen.‖
1978
Dieses Heimweh-Ideal für das Unerreichbare findet in
Charlotte Wolffs Sachbuch über die Liebe unter Frauen als Hang zur
Romantisierung seinen Niederschlag.
Für Charlotte Wolff ist in der lesbischen Liebe ein
unausweichlich tragisches Element enthalten. Eine Erfahrung, die
viele Lesbierinnen von heute nicht teilen.
Die Frankfurter Soziologin Alexandra von Streit:
“Am Anfang des Buches schreibt sie auch ziemlich viel über
die Sache und schlägt einen direkten Bogen zu den Lesbierinnen von
heute, die also nach wie vor ungebrochen dieses [...] Liebes-Ideal für
sich aufrecht erhalten.
Sie beschreibt das, was wirklich ungebrochen sich durch die
Geschichte zieht, also mit sehr viel Idealismus und überhöht und
schwärmerisch, sehr romantisch, und aber immer so ein bißchen
getrübt oder ein bißchen beeinträchtigt von so einer
Seite 42
Aussichtslosigkeit oder von so einer letztendlichen Unerfülltheit, so
eine Traurigkeit zieht sich da durch.‖
Dieses Buch aber war das erste in Deutschland zum Thema
weibliche Homosexualität, das nicht herablassend pathologische
Phänomene beschrieb.
Zwar geht es Charlotte Wolff vor allem um die Schattenseiten,
aber sie gibt eine authentische Beschreibung, und das ist etwas, womit
sie Betroffenheit ausgelöst hat.
„Also es war schon irgendwo, würde ich sagen, so etwas wie
eine Pionierfahrt, auch wenn es nicht als solche aufgenommen
worden ist. Und dann kommt noch dazu, daß es von einer Frau
geschrieben worden ist, bei der durchkommt, daß sie sich selber zu
den Betroffenen zählt.
Während andere Sachen, die es damals schon gegeben hat,
soweit ich sie kenne, da schimmerte so etwas nie durch, da wurde also
immer dieser neutrale Wissenschaftlerstandpunkt gewahrt, es kam
also nicht raus, in welchem Maß der oder die Autorin selber
mitverstrickt war in die Problematik. Und das kommt bei ihr einfach
durch, und das finde ich sehr gut, also daß sie es auch nicht nötig hat,
sich irgendwie wissenschaftlich zu distanzieren von dem Gegenstand,
an dem sie arbeitet.‖ (Soziologin A. von St.)
Charlotte Wolff hat Abwehr und Betroffenheit mit ihrem
Buch ausgelöst. Eine Resonanz, auf die sie gefaßt war. Bei einem
Besuch in Berlin, einer Einladung von Feministinnen, wird sie das
erste mal konkret mit diesen Widersprüchen konfrontiert. Es stehen
sich zwei Generationen gegenüber: Charlotte Wolff, damals
achtundsiebzig, trifft Frauen, die einen offensiven Umgang mit dem
Thema gewöhnt sind. Eva Rieger, eine der Veranstalterinnen, wußte,
daß diese Begegnung auch ein Fiasko hätte werden können:
“Ich glaube, diese Begegnung mit den jungen, radikalen
Feministinnen war für sie eine ziemliche Belastung. Ersteinmal war sie
es nicht gewohnt, mit so vielen Menschen zu diskutieren, und zwar
hart zu diskutieren, zum zweiten war es ja ihr erster Besuch in
Deutschland seit vielen Jahrzehnten, das hat sie auch emotional
belastet. Zum dritten war es diese ganz und gar ungewöhnliche
Umgebung, dieses verlotterte Fabrikgebäude, und die sehr
anarchistisch wirkenden Frauen. Ich glaube, daß diese Dinge alle
zusammengekommen sind, und es ist eigentlich erstaunlich, wie
souverän sie diesen Abend bewältigt hat.‖ (Eva Rieger)
Der Besuch in Deutschland ist für Charlotte Wolff eine
Seite 43
Rückkehr in ein fremdes Land, das sie seit ihrer Emigration nicht
wieder betreten hat. So ist diese Reise für sie auch eine Begegnung mit
sich selber, mit einem Stück ihrer Vergangenheit, an das sie eigentlich
nie wieder rühren wollte.
Entschlossen, für immer alles Deutsche in sich zu verleugnen,
hatte sich Charlotte Wolff seit ‗33 geweigert, ihre Muttersprache zu
verwenden, in der Hoffnung, dem Trauma der Vertreibung so besser
gewachsen zu sein. Aber das Deutschland, das sie vor fast einem
halben Jahrhundert verlassen mußte, gibt es nicht mehr. Was sie seit
ihrer Emigration zu hassen gelernt hat, steht ihr als eine fremde Welt
gegenüber.
Ihr Leben und das der Frauen, denen sie hier in Berlin
begegnet, geht von Erfahrungen aus, die nur sehr schwer auf einen
Nenner zu bringen sind. So ist der Abstand groß und für manche
unüberbrückbar.
Charlotte Wolff, die auch ein Jahr später an der Berliner
Sommer-Universität der Frauen mit viel Applaus gefeiert wird, sieht
sich zur Symbolfigur stilisiert, die sie nicht sein will. ―Ja, ich hatte
überhaupt den Eindruck, daß sie so von Kritik eigentlich eher
verschont wurde, sie wurde stattdessen sehr gefeiert und hat, daran
erinnere ich mich auch noch besonders, wie sie so die Ovationen
entgegengenommen hat.
Sie stand auf mit leuchtenden Augen und streckte uns die
Hände entgegen, also es war eine Huldigung, und sie hat es auch sehr
genossen. Ich hatte ein bißchen den Eindruck, daß sie an den
Konflikten in der Frauenbewegung nicht so sehr interessiert war oder
zumindest sie nicht so wahrgenommen hat.
Also diese Lesung, die sie gemacht hat, sie hat mich da
allerdings, das ist eine persönliche Sache, sehr an meine Großmutter
erinnert, wenn die mir, wenn ich krank war, Märchen vorlas; also sie
liest so, wie wenn sie eben kleinen Kindern was vorliest, und das
drückt vielleicht auch ein bißchen was aus von ihrer Haltung uns
gegenüber, also diesen jüngeren Frauen gegenüber.
Daß sie denen eben sehr wohlwollend gegenübertrat, aber
zugleich mit so einer Überlegenheit, die sie auch unangreifbar
machte.‖ (Eva Rieger)
Es war für Charlotte Wolff eine Mutprobe, nach Deutschland
zu reisen, denn nichts hat sie in ihrem Leben so gehaßt wie dieses
Land.
Für sie, gewohnt mit Wörtern und Sprache zu leben, für sie,
Seite 44
die schreibend denkt und mit der Welt in Verbindung tritt, ist das
Abgeschnittensein von der Muttersprache eine Art Hinrichtung
gewesen. Sie kam 1933 mit dem Leben davon. Doch es ist nicht
dasselbe Leben wie zuvor.
Nach ihrer Vertreibung aus Deutschland war ihre
psychologische Forschung eine schöpferische Kompensation, mit der
sie den Verlust ihrer Sprache ausgleichen wollte. Trotzdem ist Sprache
immer etwas gewesen, auf das sie sehr empfindlich reagiert hat. Sie
zwang sich, ihre Bücher nicht in Deutsch zu schreiben, eine
Entscheidung, mit der sie sich von etwas befreien will, wovon sie sich
nicht befreien kann.
Die Regisseurin Christel Buschmann, die vor Jahren zwei ihrer
Bücher übersetzt hat, sieht Charlotte Wolffs Umgang mit der Sprache
als Form von Abwehr:
Sie ist ja eine intelligente Frau und lebt seit ‗36 in England,
aber ihr Englisch ist derart Deutsch, nicht nur in der Aussprache
sondern auch in der Syntax, daß ich es nur als so eine Abwehr
begreifen kann, sich diesem neuen Land zu überlassen, das sie ja
erstmal nicht freiwillig betreten hat, aber man sehr deutlich merkte,
Wohnhaus von
Charlotte Wolff,
Redcliff Place 2,
London
Seite 45
das war eine große Schwierigkeit bei den Übersetzungen, daß sie im
Grunde mit dem deutschen Wortschatz aus der Zeit ihr Englisch
gelernt hat, aber das Deutsche eben nie ganz vergessen hat, und man
ja Sprache und Denken auch nicht trennen kann.
Und so war es einfach nötig, das Deutsch-Englische aus der
damaligen Zeit in das Deutsch von heute zu übertragen, wozu auch
gehörte, daß man andere Begriffe fand, und auch zum Teil Gefühle
versuchen mußte, ein bißchen anders zu beschreiben. Im Groben
gesprochen würde ich sagen, ich mußte versuchen, das Buch
intellektuell ein bißchen anzuheben möchte ich nicht sagen, aber zu
intellektualisieren.‖ (Christel Buschmann)
Das Treffen, das Christel Buschmann damals mit Charlotte
Wolff in London arrangiert hat, ist ihr heute noch gegenwärtig. Sie
erinnert sich an eine eigenartige Faszination, die von der Offenheit
herrührte, mit der Charlotte Wolff ihr begegnete. ―Ich habe von
Charlotte Wolff zwei Bücher übersetzt ins Deutsche, und ich habe in
diesem Text bei der Übersetzung sehr viele Eingriffe vorgenommen
und wollte deshalb das Deutsche von ihr autorisieren lassen und
wollte nach London fahren, wo Charlotte Wolff lebt.
Der Verlag hat mir das Ticket und alles organisiert und rief
aber drei Stunden vor meinem Abflug noch mal an und sagte, es sei
dringend erforderlich, daß ich mir, bevor ich Charlotte Wolff treffe,
ein Foto von ihr angucke. Ich fand das ein bißchen übertrieben und
habe gefragt, warum, das wurde mir aber nicht erklärt, sie haben nur
gesagt, das ist sicher besser für Sie.
Dann wurde mir das Foto geschickt, und es hat mich auch ein
bißchen verwirrt zu meinen, wenn man etwas sehr
Autobiographisches von einer Person übersetzt, sich schon natürlich
Vorstellungen macht von ihrer Erscheinung. Und meine
Vorstellungen waren anders, zum anderen aber auch, weil es ein fast
abstoßendes, männliches Frauengesicht zeigte. Ich war also vielleicht
doch ganz froh, das Foto zu haben.
Ich flog dann nach London und klingelte bei Charlotte Wolff.
Mir wurde aufgemacht, und ich stand am unteren Ende einer langen,
steilen Treppe, und ganz oben erschien eine sehr zarte, kleine, eher
zerbrechliche Frau, die überhaupt in ihrem Gesicht nichts von diesem
Erschreckenden hatte, was es auf dem Foto hatte, und sie verschwand
gleich wieder.
Ich ging dann die Treppe rauf, und sie saß ziemlich erschöpft
und immer wieder ―das kann ich nicht fassen‖ sagend in einem Stuhl.
Seite 46
Und was sie dann nicht fassen konnte, war mein Alter. Sie hatte sich
vorgestellt, ich sei sechzig, was ungefähr ihrer Altersklasse entsprach,
und ich war damals vierundzwanzig. Und durch diese ihre Reaktion
war die Beziehung von vornherein nicht mehr sehr [...]. Sie fand
gleich auf einer sehr privaten Ebene statt und nicht auf der
professionellen, daß ich mich jetzt absprechen wollte, welche Texte
sie billigt und welche eventuell nicht. Und es ging noch eine ganze
Weile privat weiter.
Sie diagnostizierte dann meine Hände und fing immer an,
irgendwelche Erkenntnisse zu haben dazu. Und dann erschien eine
weitere alte Dame, die brachte Kuchen und Sekt. Und ich fühlte mich
so ein bißchen zu Hause oder bei meiner Oma, und es war irgendwie
eine sehr angenehme Atmosphäre, und man hatte das Gefühl, sich
sehr lange zu kennen. Man macht sich natürlich nie klar in so einem
Moment, wo alles gut zu gehen scheint, daß so ein emotionales
Einverständnis auch Gefahren in sich birgt, denn ich habe Charlotte
Wolff natürlich auch als eine sehr empfindsame Person
kennengelernt, die sehr viele Verletzungen hat hinnehmen müssen,
schon durch die Tatsache, daß sie Jüdin ist, und daß sie emigrieren
mußte, was sie nicht wollte, und daß sie also einen unheimlichen
Überhang, eigentlich einen ständigen Nachholbedarf an deutschen
Erlebnissen und deutschen Erfahrungen hatte, und daß sie sehr wohl
verfolgen würde, wie die Übersetzung oder das Buch in Deutschland
aufgenommen werden würde.
Und mir wurde auch gesagt, daß sie, als sie tatsächlich einmal
vor ein paar Jahren zum ersten Mal nach dreißig-, vierzigjähriger
Abwesenheit nach Berlin kam, daß sie die Übersetzung plötzlich
bemängelt hatte. Das sind Dinge, die glaube ich zu ihrer Person
gehören, und ich nehme sie ihr auch nicht übel. Sie ist jemand, wenn
ich sie anrufen würde, das und das ist mir zu Ohren gekommen,
würde sie das sicher bestreiten und würde mir sagen, wie gut sie mich
findet.
Ich glaube, daß einige Übersetzerinnen solche Erfahrungen
mit ihr haben. Man sollte es aber nicht zu engstirnig beurteilen, weil
sie eben, was das Deutsche und was Deutschland betrifft, total
verunsichert ist auf der einen Seite und eine totale Fixierung hat auf
Anerkennung. Und alles, was dieser Anerkennung im Wege steht, also
auch jemand, der womöglich schlecht übersetzt, oder von dem es nur
irgendjemand sagt, das quält sie und kränkt sie und verhindert
sozusagen die Möglichkeit, ihre Vergangenheit zu kompensieren.
Seite 47
(Chr. B.)
Charlotte Wolff hat diesen Zwiespalt in sich als das Leitmotiv
ihres Lebens beschrieben. Die Einsicht in ihre Isolation aber ist nicht
frei von der Verzweiflung auf etwas zu hoffen, was für sie
unerreichbar bleibt. Es ist die Verletzlichkeit der Stigmatisierten, die
Sehnsucht nach einer Geborgenheit, die ihr verweigert wird.
Ein Versuch, das zu begreifen und literarisch umzusetzen, ist
ihr Roman ―Flickwerk‖. Es ist das leidenschaftliche Protokoll einer
Dreiecksbeziehung, in die sie verstrickt ist. Die Frauen, deren Liebe
sie begehrt aber nicht bekommen kann, sind alt, zwischen
fünfundsechzig und achtzig. Aber die Leidenschaft, die alle
aneinanderkettet, ist es nicht. Die Frauen, auf die sich alle
Hoffnungen und Ängste konzentrieren, heißen Caroline und
Christabel, zwei Engländerinnen aus puritanisch geprägter
Umgebung. Sie leben in einer ländlichen Idylle. Über die lesbischen
Hintergründe ihrer Beziehungen wissen sie nichts.
“Mein geschulter Blick wachte diesen ganzen Abend hindurch,
und mir entging nicht, daß Caroline Christabel mit zu vielen
Liebkosungen überhäufte. Nie zuvor hatte sie sie in meiner
Gegenwart so behandelt. Ihre Quäkerbeziehung verbot ihr im
allgemeinen ein demonstratives Verhalten. Und in Carolines Stimme
lag ein bittender Ton, der ihrem Temperament und ihren üblichen
Ausdrucksmitteln zuwiderlief.‖ (Aus ―Flickwerk‖)
Dem geschulten Blick der Psychiaterin entgehen sie nicht: All
die Gesten, in denen versteckte Gefühle füreinander sichtbar werden.
Doch alle Zeichen sprechen gegen sie. Sie muß begreifen, daß sie
jahrelang nur Statistin in der Beziehung dieser Frauen war.
“Ich wollte daran denken, daß ich ihre liebste Freundin war,
und sie mir nach Christabel die meiste Zuneigung entgegenbrachte.
Aber stimmte das wirklich?
Wieder quälte mich das alte Problem. Sonst hatte sie mich
immer so voller Freude und Zärtlichkeit angesehen, daß ich Auftrieb
bekam, förmlich wuchs. Diese Ungewißheit jedoch, hervorgerufen
durch ihre kühle Begrüßung, brachte mich ganz aus dem
Gleichgewicht.‖ (Aus ―Flickwerk‖)
Für die Erzählerin ist ihre Liebe zu den beiden Frauen immer
ambivalent gewesen. Verachtung für die weltferne Frömmelei, in der
sie gefangen sind, aber auch Neid um die Geborgenheit, in der sie
leben. ―Die beiden, die so tief in ihrer fremden Welt verwurzelt
waren, gingen mir nicht aus dem Sinn. Für mich war ihr religiöser
Seite 48
Glaube eine Illusion, aber ich beneidete sie um den Halt, den er ihnen
gab. Schließlich ist die Illusion oftmals eine bessere Lebensbasis als
die Realität. Illusion ist eine Begabung, die den Arglosen zueigen
ist.‖ (Aus ―Flickwerk‖)
Für Charlotte Wolff ist dieses Buch der Versuch einer
Distanzierung gewesen. Es ist die literarische Rache an einer Welt, in
der sie Aufnahme gesucht aber nicht gefunden hat. Sie hat die
Niederlage für sich in einen Sieg umgewandelt. Freiwillig setzt sie
dieser Beziehung ein Ende, weil sie begreift, daß sie in dieser fremden
Welt nie heimisch werden wird.
In London, wo sie wohnt aber, wird sie auch nicht zu Hause
sein.
“Ich hasse die Rückkehr nach London. Verlorenheit überfällt
mich, wenn der Zug sich der Stadt nähert. Ein Gefühl von Panik
erfaßt mich. Die schmutzigen Fassaden der Häuser entlang der
Schienen, Opfer der Gewalt des Lärms, all das ist eine finstere
Reklame für das Leben in der Stadt.
Die Häuser scheinen sich an nichts als Schmutz und Aufruhr
zu erinnern und symbolisieren die seelenlose Gesellschaft der
Metropole. Spitze Hochhäuser, verstreut zwischen verfallenen alten
Bauten, sind weitere Zeugen eines traurigen Schicksals, dem immer
größeren Identitätsverlust einer Stadt. Wohin ich zurückkehrte, war
nicht mein Zuhause. Nur ein Platz zum Leben. Mir wurde klar, daß
es, wo immer ich mich auch niederließ, nicht anders sein würde.‖
Transkription von: Anouchka Hein,
Kollegiatin im Leistungskurs Deutsch,
Abiturlehrgang 24, 26.02.1997
Seite 49
„Für mich ist die Frauenbewegung die größte Revolution
aller Zeiten"
Im Gespräch: Charlotte Wolff
Psychologie Heute, Heft Mai 1981, S. 30-38
,, ... Denn sie verändert die Beziehung zwischen Frau und Mann
- und daher die Geschichte.“ Das sagt keine junge Feministin,
sondern eine 80 jährige Wissenschaftlerin, die sich vor allem auf
dem Gebiet der Sexualforschung - durch ihre Bücher ,,Die
Psychologie der lesbischen Liebe“ und ,,Bisexualität“ - einen
Namen machte. Daß sie aber auch eine wissenschaftliche
Theorie psychologischer Hand-Diagnostik entwickelte, Lyrik,
philosophische Essays, einen Roman und zwei
Autobiographien schrieb, schildert sie in dem folgenden
Gespräch. Und sie begründet, warum sie der Ansicht ist: ,,Wir
sind auf dem Weg in eine bisexuelle Gesellschaft“.
Psychologie heute: Frau Dr. Wolff, Sie sind 80 Jahre alt, seit über 50 Jahren Wissenschaftlerin. Auffallend ist, daß Sie gerade in den letzten
fünf Jahren drei Bücher veröffentlicht haben, davon jedes in einem
anderen Genre: ,,Flickwerk―, ein Roman über die Freundschaft zwischen drei Frauen; ,,Bisexualität―, eine empirisch-psychologische Studie - die erste überhaupt zu diesem Thema - und ,,Hindsight―, zu
deutsch: späte Einsicht, ihre zweite Autobiografie. Kann man sagen,
daß die letzten Jahre die produktivsten in Ihrem Leben waren und
sind, oder arbeiten Sie jetzt sozusagen Lebenserkenntnisse auf?
Charlotte Wolff: Das erstere stimmt sicherlich, aber ich würde die
Gliederung etwas anders vornehmen. Ich hatte zwei kreative Perioden. Die erste kurz nachdem ich aus Deutschland entkommen bin die Forschung über die menschliche Hand, die mich zu weiteren Arbeiten über menschliche Gestik führte. Sie nahm ungefähr zwanzig
Jahre in Anspruch, von 1932 bis 1952. Dann kam eine große Pause, in
der ich als Psychiaterin praktizierte. Die zweite Forschungsperiode begann etwas früher, als Sie annehmen. Denn die Arbeit ,,Love between
Women―, deutsch: ,,Die Psychologie der lesbischen Liebe― wurde
1971 veröffentlicht. Sexualwissenschaftliche Forschung habe ich von
1968 bis etwa 1978 betrieben.
P.H.: Sie hatten 1968 gerade Ihre erste Autobiografie ,,Innenwelt und Außenwelt― beendet. Gibt es einen Zusammenhang zwi-
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schen dieser Autobiografie und den kurz darauf beginnenden Forschungsarbeiten?
Wolff: Ich hatte einen Essay für die Autobiografie geschrieben,
den ich ,,Weibliche Homosexualität― nannte. Dieser Aufsatz machte
mich selbst neugierig. Ich wollte mehr und systematischer, also wissenschaftlich-empirisch darüber arbeiten. Bei den Interviews mit den
lesbischen und ,,normalen― Frauen wurde mir dann klar, daß man erst
mal die Bisexualität an sich verstehen muß. Denn sehr viele der Frauen hatten Beziehungen zu Männern oder waren sogar verheiratet, bevor sie feststellten, daß sie viel befriedigender - emotional, physisch, in
jeder Hinsicht - mit einer Frau zusammensein konnten. Diese Erkenntnis führte mich direkt zum Thema Bisexualität, ein Begriff, der
früher für psychosexuelle Variationen und Deviationen aller Art verwendet wurde. Aber all die Forscher, deren Artikel und Bücher ich
las, konnten keine definitive Aussage über die Bisexualität an sich machen. Freud hatte in seinen späten Jahren die Bescheidenheit und den
wirklich wissenschaftlichen Geist, zuzugeben, daß er die Bisexualität
nicht verstanden hat. Das brachte mich dazu, Bisexualität wissenschaftlich zu untersuchen.
P. H.: Immerhin acht Jahre liegen zwischen der Studie über lesbische Liebe und der über Bisexualität. Kam Ihnen etwas dazwischen?
Wolff: Nachdem ich die lesbische Frage, soweit ich konnte, beantwortet hatte, war ich sehr müde. Obwohl ich schon in mir den
Trieb spürte, weiterzugehen und die Bisexualität zu untersuchen,
dachte ich: Ich habe nicht die Kraft...
P. H.: Sie waren ja bei Abschluß Ihres Buches ,,Die Psychologie
der lesbischen Liebe― bereits über siebzig Jahre alt
Wolff: ... aber es war mir unmöglich, einfach so dazusitzen und
nichts zu tun. Und da ich früher einen Hang zum Literarischen hatte
und ihn auch behielt, dachte ich jetzt: Ich muß einmal etwas ganz anderes machen - und habe einen Roman geschrieben, der hier in England 1976 unter dem Titel ,,An Older Love― und in Deutschland unter dem Titel ,,Flickwerk― veröffentlicht wurde. Es war ein wunderbares Gefühl, nach einigen Monaten etwas Neues, allein aus dem eigenen Kopf heraus produziert zu haben. Aber die Arbeit selbst, vor einem leeren Blatt Papier zu sitzen und alles aus dem eigenen Inneren
herauskommen zu lassen, war viel schwieriger für mich als jede wissenschaftliche Arbeit. Zu der ich nach diesem Zwischenspiel auch
wieder zurückkehrte. Der Roman war noch nicht erschienen, da habe
ich schon angefangen, 150 Männer und Frauen zu interviewen, als
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Studienmaterial für mein Buch ,,Bisexualität―.
P.H: Sie waren Ärztin, Forscherin, Psychotherapeutin, Schriftstellerin, und danach, bis heute, wieder Forscherin. Was hat Sie jeweils
nach ein paar Jahren auf dem einen Gebiet bewogen, sich einem anderen zuzuwenden?
Wolff: Das ist eine Frage des Temperaments, der inneren Triebfeder, der Neugier, und vor allem war es das Gefühl: Wenn ich jetzt
nicht bald etwas anderes mache, werde ich alt.
P. H.: Meinen Sie das im Sinne von zuviel Routine?
Wolff: In dem Sinne, daß etwas, was sehr lebendig ist oder war,
plötzlich eingerahmt wird. Ich kann Rahmen nicht vertragen. Daraus
mußte ich immer mal wieder ausbrechen, um meine Vitalität zu erhalten.
P. H.: In zwei sehr verschiedenen Forschungsbereichen haben
Sie Pionierarbeit geleistet. Zunächst die Frage zum ersten: Wie sind
Sie auf das Forschungsthema ,,Die menschliche Hand― gekommen?
Sie haben damals im Berlin der Weimarer Republik mit anderen Kollegen zusammen den ersten sozialmedizinischen Dienst aufgebaut, im
Rahmen der Ambulatorien der Krankenkassen. Wo gab es da die Verbindung?
Wolff: Zwei Kollegen des Ambulatoriums sagten mir, daß - es
war 1931- ein sehr interessanter Mann in Berlin war, Julius Spier, der
Kurse für Mediziner in Chirologie (Handdeutung) gab. Ich ging hin
und sah, daß dieser Mann sehr begabt war. Er hatte zwar nicht wissenschaftlich, aber intellektuell eine Methode entwickelt, Beziehungen
zwischen Hand und Persönlichkeit, zwischen Hand und Gesundheit
herauszufinden. Ich bekam den Eindruck, daß es sich lohnen würde,
die Bedeutung der Hände wissenschaftlich zu untersuchen. Als der
Nazi-Terror dann schlimmer wurde, hat mich der Chefarzt der Ambulatorien versetzt, und ich wurde Direktorin eines physiotherapeutischen Instituts. Während der Zeit .dort untersuchte ich zunächst
heimlich - aber es kam dann heraus - die Hände meiner Patienten.
P. H.: War Ihre Flucht aus Deutschland 1933 auch ein Einschnitt in Ihrer Arbeit?
Wolff: Ja, aber ich nahm sie bald wieder auf. Dazu kam: In den
drei Jahren, die ich nach meiner Flucht in Paris lebte, wurde - ebenso
wie in England zunächst, wo ich seit 1936 lebe - mein ,,Dr. med.―
nicht anerkannt. Meine Freunde, vor allem Aldous und Maria Huxley,
verbreiteten die Kunde, daß ich etwas von Chirologie verstünde, und
das wurde dann zunächst auch die einzige Möglichkeit, meinen Le-
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bensunterhalt zu verdienen.
P. H.: Sie beschreiben in Ihren Autobiografien, daß die damals
wohl kreativste künstlerische Gruppe, die Surrealisten - darunter Antoine de St. Exupery, Maurice Ravel, Paul Eluard, die Brüder
Klossowski und viele andere - Sie sehr unterstützt haben. In welcher
Hinsicht?
Wolff: Zum einen konnte ich meinen Lebensunterhalt dadurch
verdienen, daß ich ihre Hände, und die vieler weniger berühmter
Menschen analysierte. Für die Erhaltung meiner Selbstachtung war es
dabei wichtig, daß es mir offiziell erlaubt wurde, an meine ,,Handdeutungen― psychologische Konsultationen anzuschließen.
Zum anderen haben die Surrealisten es mir ermöglicht, in ihrer Zeitschrift MINOTAURE den ersten Entwurf einer psychologischen
Theorie der Hand zu veröffentlichen. Meine wissenschaftliche Arbeit
zu diesem Thema erlebte einen großen Fortschritt durch die Unterstützung von Professor Henri Wallon. Er lud mich ein, seine wöchentlichen Klinika psychiatrischer und neurologischer Fälle zu besuchen und erlaubte mir, die Hände von Geistesgestörten und psychisch
Kranken zu untersuchen. Als ich dann nach London übersiedelte, war
es für den Fortgang meiner Arbeit geradezu wesentlich, daß ich Julian
Huxley kennenlernte, der mich einlud, die ganze Affenbevölkerung im
zoologischen Garten Londons zu untersuchen, was ich auch tat.
P. H.: Immerhin konnten Sie daraufhin die Theorie widerlegen,
daß die Menschen direkt von Menschenaffen abstammen. Wir müssen - so Ihre Schlußfolgerung - von einem früheren Affen-,,Zweig―
abstammen.
Wolff: Ganz recht, aber diese Erkenntnis war eine Seitenlinie. So
untersuchte ich die Hände von kranken Kindern, delinquenten Jugendlichen, psychiatrischen Patienten, Schauspielern, Boxern, Flüchtlingsfamilien, ganz ,,normalen― Leuten - etwa Schülern und Studenten
-, alten Menschen ... Es waren Tausende von Daten, die ich zum Teil
unter experimentalpsychologischen Bedingungen am University College
of London sammelte. Dort konnte ich nur die Hände, die mir durch einen Vorhang entgegengestreckt wurden, sehen, nicht den Rest der
Person. Ich mußte dann über die Hände sowohl medizinischendokrinologische, als auch psychologische Gutachten anfertigen, die
dann mit Selbsteinschätzungen der jeweiligen Person und Fremdeinschätzungen aufgrund anderer psychologischer Diagnosen verglichen
wurden. Veröffentlichungen in den PROCEEDINGS OFTHE ZOOLOGICAL SOCIETY, dem BRITISH JOURNAL OF MEDICAL
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PSYCHOLOGY und dem JOURNAL FOR MENTAL SCIENCE
brachten mir dann auf diesem bis dato doch etwas ,,anrüchigen― Forschungsgebiet wissenschaftliche Anerkennung.
P.H.: Und die Ehrenmitgliedschaft in der British Psychological
Society.
Wolff: Ja, das war 1941. Ich weiß diese seltene Auszeichnung zu
schätzen. Damals war das schon eine kleine Sensation, denn es bedeutete, daß die Standesorganisation der Psychologen damals die Arbeiten einer Ärztin über die menschliche Hand auch von psychologischer
Seite her anerkannte. Die enorme Paradoxie lag darin, daß mir erst
neun Jahre später, 1952, erlaubt wurde, auch als Ärztin zu praktizieren, weil sich dann auch die formellen Voraussetzungen dazu günstig
verändert hatten.
P. H.: Sie haben dann noch zwei Bücher, ,,The Human Hand―
und ,,The Hand in Psychological Diagnosis― veröffentlicht, und dann,
nach 20 Jahren Forschung, plötzlich damit aufgehört. Hängt das mit
Ihrer Registrierung als Ärztin zusammen?
Wolff: Da sagen Sie etwas Richtiges. Nachdem ich einerseits
wissenschaftlich anerkannt wurde, andererseits wieder als ,,richtige
Ärztin― galt - da sehen Sie, was man manchmal für Minderwertigkeitsgefühle mit sich herumträgt -, hatte ich die Begeisterung, einen neuen
Lebensabschnitt zu beginnen.
P. H.: Das einzige, was auf deutsch von Ihren umfangreichen
Arbeiten zur menschlichen Hand erschienen ist, ist das Buch ,,Die
Hand des Menschen―, eine wohl sehr verunglückte Übersetzung
von ,,The Human Hand―.
Wolff: Das ist eine schreckliche Geschichte. Ich habe damals
dem Verleger geschrieben, der mir die Druckfahnen zur Korrektur
schickte, daß ich für dieses Buch jede Verantwortung ablehne, weil es
- falsch und unwissenschaftlich übersetzt - mit meinem Original so
gut wie nichts zu tun hat. Nur mein ,,emotionaler eiserner Vorhang―
gegenüber Deutschland hat mich davon abgehalten, vor Gericht zu
gehen.
P. H.: Bei aller Verfälschung, die es bei der Übersetzung gegeben haben mag - mich hat die psychologische Seite Ihrer Interpretation irritiert. Daß Sie Form und Linien der Hand so viel psychologische
Bedeutung zumessen, erscheint mir fragwürdig. Daß sich Triebe, IchStärke, Intelligenz und Emotionalität aus den Handlinien ablesen läßt,
bezweifle ich. Haben Sie da nicht zuviel in Ihre Daten hineininterpretiert? Ist das nicht zu spekulativ?
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Wolff: Das stimmt, Sie haben vollkommen recht. Es gibt zwar
keinen Zweifel darüber, daß bestimmte Formen der Hand - Nägel, äußere Form und Qualität der Haut - durch genetische und hormonale
Faktoren gekennzeichnet sind. Weiterhin besteht kein Zweifel darüber, daß besonders Emotionen, aber auch Intelligenz, schon von
Kindheit an dazu führen, daß mit der Hand eine bestimmte Variation
von Bewegungen ausgeführt wird, die sich in den Formen und Linien
der Hand irgendwie widerspiegeln. Daß also letztlich auch die Handlinien von der Persönlichkeit beeinflußt werden. Mehr kann man nicht
sagen, aber auch nicht weniger.
P. H.: Was haben die Linien mit den Bewegungen der Hand zu
tun?
Wolff: In mittel- und nordeuropäischen - im Gegensatz etwa zu
lateinischen und afrikanischen - Ländern werden durch Hemmungen
und Regeln Gesten unterdrückt. Wenn bei einem Menschen von früh
an eine lebhafte Gestik besteht, werden Linien in der Hand verändert
- oder zumindest vertieft und verstärkt - und neue gebildet. Gestik
entspringt der Notwendigkeit zum Ausdruck - also der Emotion. Daher sind emotionale Potenzen und Ausdrucksmöglichkeiten in der
Hand erkennbar. Können Sie das akzeptieren?
P. H.: Es klingt plausibel. Trotzdem würde ich mir niemals zutrauen, jemandem irgend etwas aus der Hand herauszulesen.
Wolff: Ich könnte aus der Formation der Handformen und - Linien schon eine gewisse Einsicht in emotionale Reaktionen bekommen, denn die Formation ist abhängig vom endokrinen System, also
von den Hormonen. Sie sind - mit ihrer Repräsentation im Mittelhirn
und durch das vegetative Nervensystem - wesentlich für das Fühlen
von Emotionen. Wer aber hergeht und aus einzelnen Linien das individuelle Schicksal herauslesen will, ist ein Scharlatan. Man kann nur so
viel sehen, wie die Hand ein Spiegel des endokrinen Systems ist.
P. H.: Mit anderen Worten: Die Zukunft eines Menschen können Sie nicht aus seiner Hand lesen?
Wolff: Um Gottes willen, das ist absoluter Blödsinn. Chiromantie ist kompletter Unsinn.
P. H.: Intuition scheint bei der Handanalyse eine große Rolle zu
spielen.
Wolff: Selbstverständlich, wie auch in der Psychotherapie. Inzwischen ist bekannt: Ein Psychotherapeut ohne Intuition ist praktisch wertlos, er verkommt zum Technokraten. Aber ich gebe Ihnen
in einem vollkommen recht: Ich habe in ,,The Human Hand― psycho-
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logische Spekulationen angestellt, an die ich heute nicht mehr glaube.
Meine Arbeiten haben einen Überblick über ein Forschungsgebiet gegeben, auf dem heute jüngere Wissenschaftler aufbauen. Definitive
Aussagen aber über Persönlichkeitseigenschaften konnte ich aus meinen Daten noch nicht gewinnen. Da bin ich - das muß ich aus meiner
heutigen Distanz sagen - an einigen Stellen zu weit gegangen. Und
trotzdem: Vor unserem Gespräch habe ich, nach fast vierzig Jahren,
„The Human Hand“ noch einmal durchgelesen und an einigen Stellen
gedacht: Donnerwetter, das ist gar nicht schlecht.
P. H.: Sehen Sie sich heute noch manchmal die Hände von
Menschen an?
Wolff: Nein, überhaupt nicht, das Thema habe ich 1952 abgeschlossen, es interessiert mich nicht mehr.
P. H.: Fünfzehn Jahre später haben Sie sich Ihrem zweiten Forschungsgebiet zugewandt, das Sie bis heute beschäftigt. Obwohl Sie
vorhin dazu schon etwas sagten, möchte ich noch einmal ausdrücklich
nachfragen: Was an dem Thema lesbische Liebe hat Sie so fasziniert,
daß Sie Ihre psychotherapeutische Praxis weitgehend aufgegeben haben, um darüber systematisch zu arbeiten?
Wolff: Ich selbst. Das kam jetzt wie aus der Pistole geschossen,
aber es ist die Wahrheit. Das Urmotiv war meine eigene Liebe zu
Frauen. Viele glauben heute, daß Ich ihnen Märchen erzähle, aber es
ist wahr: Ich hatte das Glück, unter aufgeschlossenen Menschen meine Jugend zu verbringen. Weder meine Eltern noch meine Verwandten, weder meine Kollegen noch meine Freunde haben irgend etwas
dabei gefunden, daß ich Frauen liebte. Und so betrachtete ich das
auch als eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit, was für mich
persönlich die natürlichste Sache der Welt war. Plötzlich, als ich hier
nach England kam, galt es als nicht natürlich. Ich selbst befand mich
zwar in einer relativ privilegierten Situation und war daher geschützt,
aber ich sah homosexuelle Männer und Frauen, die für die Anerkennung dieser Selbstverständlichkeit kämpfen mußten; die sich als Diskriminierte in Gruppen zusammenschließen mußten. um gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen. Ich sah, daß diese Menschen wirklich in einer Notlage waren, weil sie ekelhaft behandelt wurden. Da
habe ich zunächst ganz naiv gedacht: Um Gottes willen, was ist denn
hier los? Da muß ich mehr drüber wissen.
P. H.: Was genau wollten Sie wissen?
Wolff: Zunächst: Was ist die wirkliche Natur dieser Art von Liebe? Meine persönliche Überzeugung war und ist: Liebe ist eine Sache
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zwischen zwei Frauen. Nun wollte ich wissen, wie das bei anderen
Menschen ist, die sich homosexuell nennen.
P. H.: Ein Wissenschaftler, der zugibt, parteilich, weil selbst betroffen zu sein - muß der nicht fürchten, als ,,befangen― abgelehnt zu
werden? Was haben Sie bei Veröffentlichungen Ihrer Arbeiten da für
Erfahrungen gemacht?
Wolff: Es gibt eine Reihe von Rezensionen des Buches ,,Love
between Women― (,,Die Psychologie der lesbischen Liebe―), die meine persönliche Beteiligung an dem Thema positiv hervorheben. Sogar
eine medizinische Fachzeitschrift schrieb: ,,Es ist klar, daß das eigene
Interesse der Autorin an dem Thema ihr das große Vertrauen der von
ihr Untersuchten einbrachte―.
P. H.: Gerade aufgrund Ihrer Betroffenheit und Ihres Engagements fordern zwei Stellen in Ihrem Buch ,,Die Psychologie der lesbischen Liebe― zum Widerspruch heraus. Die erste Passage lautet: ,,Ein
Element unausweichlicher Frustration gibt der lesbischen Liebe mehr
noch als der männlichen Homosexualität einen tragischen Anstrich.
Dies hat seinen Grund in der Unmöglichkeit sexueller Erfüllung, und
spezieller noch, in der Kinderlosigkeit... Sehnsucht erwächst aus
Frustrationen und dem Wunsch nach Unerreichbarem, der untrennbar mit lesbischer Liebe verbunden ist. Natürlich impliziert jede Liebe
Leiden und Verlangen, aber bei lesbischen Frauen beruht die Sehnsucht auf einem naturgesetzten physischen Manko.―
Wolff: Das bedeutet: Bei manchen lesbischen Beziehungen liegt
das große Problem in der Kinderlosigkeit, eine Sache, mit der sich
diese Frauen abfinden müssen. Die deutsche Übersetzung ist hier unrichtig, denn es ist nicht der Ausdruck ,,Manko― gemeint, sondern so
etwas wie ,,Schranke―.
P. H.: Die ganze Passage bezieht sich also, sagen Sie, nur auf
die Kinderlosigkeit, nicht auf die gesamte Sexualität?
Wolff: Natürlich nicht auf die Sexualität. Im Gegenteil! Ich glaube, daß der genitale Akt, wenn überhaupt, zweit- oder drittrangig ist.
Das Zentrum der lesbischen Liebe ist die Emotion und die Sensualität
- die Sinnlichkeit. Alles liegt im ganzen Körper. Natürlich sind die Genitalien die empfindlichsten erogenen Zonen, aber es ist das Ganze,
was zählt. Und das ist nur zu verstehen in Berührung und Empfinden
zwischen zwei Menschen, die ähnlich sind, deren nervöses und HautSystem eine Ähnlichkeit hat, wie sie demselben Geschlecht entspricht.
Frau mit Frau und Mann mit Mann - Homosexualität ist absolut natürlich. Das kommt in den Ergebnissen meiner Untersuchung zum
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Ausdruck, und das ist es, was ich unter physischer Liebe verstehe.
Aber die Genitalien als das Zentrum der Liebe anzusehen - das ist ein
Sakrileg. Ich glaube an die Liebe! Es klingt so komisch. so banal,
wenn man das sagt, aber es ist sehr wichtig. Das Genitale erhält nur
Sinn durch die erotische Imagination, sonst ist es eine mechanische
Sache.
P. H.: Eine weitere Passage - vielleicht auch ein Mißverständnis
oder schlechte Übersetzung - ist Ihre Erklärung der lesbischen Liebe.
Da heißt es, der Ursprung und in gewissem Sinne der Zweck der lesbischen Liebe sei der ,,emotionale Inzest mit der Mutter―. Glauben
Sie wirklich, daß das der Urgrund und die alleinige Erklärung der lesbischen Liebe ist?
Wolff: Nein. Es ist die am meisten zutreffende Erklärung, besonders in unserer heutigen falschen Wirklichkeit. Das muß ich näher
erklären. Die Mutter ist in dieser blödsinnigen patriarchalischen Gesellschaft auf den Sohn viel mehr eingestellt als auf die Tochter. Darum ist in den meisten Fällen - nicht in allen - die Beziehung zwischen
Mutter und Tochter von Natur aus gespannt. Die Mutter ist enttäuscht, wenn sie keinen Sohn hat, besonders wenn es das erste Kind
ist. Im allgemeinen ist die Mutter-Tochter-Beziehung weniger eng.
Mehr noch, sie enthält eine Spannung, etwas ,,Nicht-ganz-Richtiges―.
das ich Frustration nenne. Diese erzeugt in der Tochter die Sehnsucht
danach, dasselbe, das Ganze zu haben, was die Mutter in unserer verkehrten Welt viel eher, nämlich zu 95 oder 99 Prozent, mit dem Sohn
hat. Was die Bisexualität angeht, gehe ich soweit zu behaupten: Es ist
nur möglich, eine bisexuelle, das heißt balancierte Welt zu schaffen,
wenn schon lange vor der Geburt eines Kindes keine Höherbewertung auf das eine oder andere Geschlecht gerichtet ist. Das ist aber
immer noch nicht der Fall. Und so lange stimmt meine Erklärung
auch noch weitgehend. Macht Ihnen das Sinn?
P. H.: Auch nur für einen gewissen Teil der lesbischen Frauen,
bei anderen ergibt diese Erklärung keinen Sinn. Etwa dann, wenn
sich eine Mutter nichts mehr wünscht als eine Tochter und wenn die
Mutter die Kinder allein aufzieht - typisch für die Nachkriegsgeneration. Auch dann kann die Beziehung zwischen Mutter und Tochter
sehr eng sein, ohne durch eine männliche Konkurrenz überschattet zu
sein. Worin liegt dann die Erklärung für das Lesbischwerden der
Tochter?
Wolff: In der Nähe zu ihrer Mutter. Dann ist es in einem positiven Sinn ein ,,incestuous emotional― - Verhältnis mit der Mutter.
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Dann spielen Eifersucht und Minderwertigkeitsgefühle keine Rolle was für ein Glück!
P. H.: Ich störe mich an dem Begriff ,,Inzest―. Im Deutschen
ist er genau mit dem genital-sexuellen Bedeutungsgehalt beladen, den
Sie wohl gerade nicht meinen.
Wolff: Nein, ich meine emotionale Nähe, das vollkommene Zusammensein.
P. H.: Wäre nicht der Begriff ,,Symbiose― besser gewählt gewesen? Nach dem, wie ich Sie jetzt verstehe, umschreibt er genau das,
was Sie meinen.
Wolff: Symbiose - das ist viel besser. Es ist eine emotionale
Symbiose, die die Tochter stellvertretend für ihre Beziehung zur Mutter mit einer anderen Frau eingeht. Ich will aber noch einmal betonen:
Alles, was man heute darüber sagen kann, ist zeitgebunden. Meine
Untersuchung habe ich Ende der sechziger Jahre durchgeführt.
P. H: Vieles, was Sie. an psychischen Deformationen der lesbischen Frauen beschrieben haben, beruhten meiner Meinung nach auf
einer ganz bestimmten Situation der lesbischen Frauen: ,,In the Closet―, in einem gesellschaftlichen Ghetto zu sein.
Wolff: ... absolut richtig, diese Frauen waren in der Situation der
Verfolgten.
P.H.: ... und daraus ergab sich die zum Teil berechtigte, zum
Teil unberechtigte Paranoia, die Sie beschrieben haben: Aufpassen,
nicht entdeckt zu werden, Verlustangst, Eifersucht, eine bestimmte
Aggressivität, geringes Selbstwertgefühl ...
Wolff: Alles ausgelöst durch Umweltbedingungen, durch unsere
verlogene Gesellschaft. Einige lesbische Frauen treffen Verabredungen mit Männern zum ,,Vorzeigen―, um nach außen hin zu beweisen,
daß sie ,,normal― sind. Sie geben sich super-,,weiblich―, um keinen
Verdacht auf sich zu lenken und so weiter.
P.H: Inzwischen hat sich die Situation aber schon verändert,
Frauenbewegung und Schwulenbewegung haben ihren Teil dazu beigetragen. Und doch haben viele lesbische Frauen, ebenso wie schwule
Männer, die Angst, ,,entdeckt― zu werden, glauben, es sich ,,nicht leisten― zu können.
Wolff: Sehen Sie, irgendwann erschien ein großer Artikel über
mich im GUARDIAN unter der Überschrift: ,,Charlotte Wolff - Psychiaterin und Lesbierin―. Gut, dachte ich, jetzt wissen es alle. Viele
Menschen denken so sehr ,,ich kann es mir nicht leisten―. daß sie die
Grenzen ihres - realen oder manchmal auch nur gefürchteten - Ghet-
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tos nicht mehr überschreiten, nicht einmal mehr ausloten können. Da
muß jeder einzelne den Mut aufbringen, den ersten Schritt zu tun.
P. H.: Wer sich selbst unterdrückt - unterdrückt der nicht auch
andere? Kann - um bei unserem Beispiel zu bleiben - erst eine Frau,
die diesen Befreiungsschritt vollzogen hat, einer anderen Frau so begegnen, daß sie sich gegenseitig nicht unterdrücken?
Wolff: Ich habe leider einige Erfahrungen gesammelt, die Ihnen
recht geben. Es sind immer noch viel zuwenig Frauen, die ihr inneres
Ghetto verlassen haben.
P. H.: Das gilt sicher für alle Minderheiten, auch für bisexuelle
Menschen in unserer Gesellschaft. Dabei steht für die Sexualwissenschaftler seit langem fest, daß Bisexualität die erste und grundlegende
Form sexuellen Erlebens darstellt. Sie definieren Bisexualität in Ihrem
Buch als ,,die Basis aller biopsychischen Reaktionen, seien sie nun
passiv oder aktiv―. Können Sie das näher erläutern?
Wolff: Alles, was es an Eigenschaften und Verhaltensmöglichkeiten in einem Menschen gibt, ist zunächst nicht eingeschlechtlich,
sondern hat beides, ,,männliche― und ,,weibliche― Anteile. Auch in bezug auf die Physiologie läßt sich das nachweisen. Am auffälligsten ist,
daß in den Geschlechtsdrüsen des Mannes Östrogen vorhanden ist
und in den weiblichen Geschlechtsdrüsen Testosteron. In den Nebennieren beider Geschlechter finden sich ,,männliche― Hormone und so
weiter. Das ganze endokrine System ist bisexuell angelegt. Da wir aber
alle in enormem Maße auf unser Hormonsystem angewiesen sind physisch, emotional und in unserer Mentalität- kann man schon von
daher sagen, daß wir alle bisexuell ,,hergestellt― sind.
P.H: Sie haben mit Ihrer empirischen Untersuchung bisexueller
Männer und Frauen eine psychoanalytische Grundthese zu beweisen
versucht: daß Bisexualität der Urgrund der menschlichen Sexualität
ist. Sigmund Freud hatte das bereits so gesehen, aber in der Konsequenz auf die menschliche Entwicklung anders interpretiert. Wie unterscheidet sich ihr Bisexualitätsbegriff von dem Freuds?
Wolff: Ich freue mich über diese Frage. Freud hatte Angst vor
der Bisexualität. Er dachte, daß die homosexuelle Seite, die jeder
Mensch hat, etwas emotional Schlechtes sei. Für Freud und die Psychoanalyse bis heute ist der Mensch nur dann reif, wenn er bestimmte ,,Stadien― durchläuft: Bisexualität und Homosexualität sind beim
Kind und vielleicht noch in der Pubertät ganz angemessen. Wenn der
Mensch dann aber nicht zur Heterosexualität übergehen kann, ist er
,,unreif“. Reif dagegen ist, wenn beim Erwachsenen die homosexuelle
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Seite der Bisexualität im Unbewußten bleibt. Ich bin da ganz anderer
Ansicht: Homosexualität hat nichts mit Reife oder Unreife zu tun.
Freud hat richtig gesehen, welche verheerende Wirkung die Unterdrückung der Homosexualität haben kann, er konnte damit bestimmte Neurosen und sogar episodische Psychosen erklären. Aber er verwechselte Ursache und Wirkung, indem er die Homosexualität generell auf die Basis des Krankhaften stellte. Diese Ansicht ist inzwischen
auch wissenschaftlich überholt. ,,Homosexualität― und ,,Heterosexualität― (beides sehr ungenügende Begriffe) sind gleichwertig.
Wenn sie von einem Menschen nicht erkannt werden, dann ist er in
Gefahr, neurotisch zu werden - wenn eine Seite unterdrückt wird.
Freuds Ansichten waren von der hochkapitalistisch-patriarchalischen
Gesinnung seiner Zeit beeinflußt. Und doch hat er einmal etwas sehr
Richtiges gesagt: "An jedem sexuellen Akt sind vier Personen beteiligt.―
P. H.: Wie wird ein Mensch homo-, bi- oder heterosexuell?
Wolff: Sowohl bei den bisexuellen Männern und Frauen, als
auch bei den heterosexuellen Kontrollgruppen meiner Untersuchung
war die bisexuelle Orientierung zuerst da. Um ehrlich zu sein, mir ist
es heute noch ein Geheimnis, wie es die Kinder schaffen, trotz der
Gehirnwäsche - ,,Du bist ein Junge―/,,Du bist ein Mädchen― - bisexuell zu sein. Kinder lieben, wenn sie lieben, ob‗s ein Junge ist oder ein
Mädchen, ein alter Mensch oder ein junger. Kinder sind in ihrer natürlichen Bisexualität zunächst resistent gegen Beeinflussung. Die natürliche Weiterentwicklung geht über die Autoerotik: Kinder finden
an ihrem eigenen Körper heraus, wie sie Lustgefühle bereiten können.
Und Autoerotik disponiert zur Homosexualität. Denn die Austauschbarkeit dieser Gefühle mit einem Menschen des gleichen Geschlechts ist natürlich gegeben. Selbstverständlich ist auch das eine Sache des Lernens, aber dieses Lernen ist das schnellste. Die homosexuelle Verbindung ist sicher die am leichtesten erlernbare. Heterosexualität ist schwerer erlernbar und komplizierter. Denn die sinnlichen
Reize und Empfindungen können niemals im anderen voll bewußt
werden. Man kann bei einem Partner des anderen Geschlechts nie genau wissen, wie diese Reize - die man an sich selbst gut kennt - empfunden werden.
P. H.: Warum ist dann aber Heterosexualität bei uns nach wie
vor gesellschaftlich die als ,,einzig richtig― erlebte Sexualitätsform?
Wolff: Ich glaube, daß hier der Nationalismus eine große Rolle
spielt. Die reproduktive Fähigkeit der Frau - ihre Möglichkeit, Kinder
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zu gebären wird besonders dann aktiviert, wenn die Herrscher mal
wieder Kanonenfutter brauchen. Die Bevorzugung der Heterosexualität und ihre moralisch-religiöse Verbrämung beruht auf einem Machtprinzip und nicht etwa - wie es einmal gewesen sein mag - auf dem
Prinzip des Überlebens der Menschheit.
P. H.: Wird das inzwischen auch bevölkerungspolitisch propagierte ,,Nullwachstum― einen Einfluß auf die Tolerierung homosexueller Liebe haben?
Wolff: Nicht nur Wissenschaftler (unter ihnen Konrad Lorenz),
sondern auch Politiker - in der Bundesrepublik etwa ein Teil der
F.D.P. mit ihrem Fürsprecher, Innenminister Baum - fordern die Anerkennung homosexueller Lebensgemeinschaften. Sie handeln damit
nicht altruistisch, sondern realpolitisch.
P. H.: Ein weiterer Faktor ist die Veränderung der Situation
von Frauen. Die Frauenbewegung trägt international dazu bei, die Situation von Frauen zu verändern und die von Männern in Frage zu
stellen. Daraus ergibt sich zunächst eine Rollenunsicherheit und auch
zaghaft Veränderungen in den Familien. Könnten berufstätige Mütter,
alleinerziehende Väter oder ,,Hausmänner― auch die sexuelle Identifikation der Kinder mit ihren Geschlechtsrollen verändern?
Wolff: Die Auswirkungen dieser Veränderung machen sich bereits bemerkbar, und das ist außerordentlich begrüßenswert. Wir sind
auf dem Weg in eine bisexuelle Gesellschaft. Für mich ist die Frauenbewegung die größte Revolution aller Zeiten. Denn sie verändert die
Beziehung zwischen Frau und Mann - und daher die Geschichte.
Noch nicht heute, noch nicht morgen, aber vielleicht in zwanzig oder
fünfzig Jahren. Schon heute muß eine berufstätige Frau, die mehr verdient als der Mann, ihn nach der Scheidung unterhalten. Dies nur ein
Beispiel aus der Gesetzgebung, das zeigt, daß eine bisexuelle Gesellschaft schon vorbereitet wird.
P. H.: Eine ökonomische oder eine emotionale Revolution?
Wolff: Der erste Antrieb war sowohl wirtschaftlich als auch
emotional. Bei einer sozialen Bewegung gibt es niemals nur einen Beweggrund. Durch ökonomische Verhältnisse und wahrscheinlich
durch den ersten Weltkrieg ist die Frau aus der alten, ganz und gar
patriarchalisch bestimmten Situation hinausgetrieben worden in Fabriken und Büros, und sie wurde plötzlich nicht mehr ,nur als Gebärmaschine ein wichtiger ökonomischer Faktor.
P.H.: Aber Sie glauben, daß das emotionale Motiv zur Veränderung stärker ist?
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Wolff: Ja. Denn alles, was das innere und äußere Leben in Bewegung setzt, von der Liebe bis zu der subtilsten Idee, das ist die Emotion.
P. H.: Darin aber unterscheiden sich selbst bei den Bisexuellen
die Männer stark von den Frauen. Ihre Untersuchung kommt zu dem
Ergebnis, daß bisexuelle Frauen sich emotional an die Frau binden
und Männern gegenüber eher mütterliche oder sexuelle Gefühle haben; bei bisexuellen Männern ist es genauso: Auch sie binden sich
emotional an die Frau und interessieren sich für andere Männer vorwiegend aus rein sexuellen Motiven. Die Emotionalität ist auf die
Frau gerichtet?.
Wolff: Richtig, und ich möchte noch ein Ergebnis hinzufügen:
Die bisexuellen Frauen haben in der Mehrzahl angegeben, daß ihre
kreativen und geistigen Inspirationen nicht von Männern, sondern
von Frauen kamen. So gibt die Frau beides: die emotionale und die
geistige Bindung.
P. H.: Warum ist das so?
Wolff: Da müssen wir auf das Mutter-Kind-Verhältnis zurückgreifen. Im allgemeinen ist die Mutter-Sohn-Beziehung die stärkste
Symbiose. Das erste und stärkste emotionale Erlebnis der Verschmelzung erlebt der Junge mit einer Frau - seiner Mutter. Das war bisher
so, auch wenn heute gelegentlich Väter diese Rolle übernehmen. Kein
Wunder, daß sich Männer emotional an die Frau binden, vor allem
auf diese unterstützende, protektive. jasagende, ermutigende ... Beziehung angewiesen sind und sie auch dann nicht loslassen können,
wenn sie eine starke homosexuelle Seite in sich sehen und ausleben.
P. H.: Bei Frauen aber ist das Geben und Empfangen dieser
,,Mütterlichkeit“ wechselseitig, wie Sie schon in Ihrer ersten Studie
,,Die Psychologie der lesbischen Liebe“ herausgefunden haben. Die
Beziehung zwischen zwei Frauen scheint ein Spiel mit vertauschbaren
Rollen zu sein - sowohl was die ,,Mütterlichkeit―. als auch was die
,,Männlichkeit“ oder ,,Weiblichkeit“ angeht. Also stimmt das klassische Klischee der lesbischen Beziehung nicht - hier der ,,kesse Vater―,
hier das ,,Weibchen―?
Wolff: Daß lesbische Frauen männlich aussehen und sich verhalten müssen, ist ein Fehlglaube. Lesbische und bisexuelle Frauen leben
ihren ,,männlichen― und "weiblichen― Anteil aus. Beziehungen zwischen Frauen sind im allgemeinen flexibel. Sogar innerhalb einer
Stunde können sich die ,,Rollen― vertauschen.
P. H: Setzt eine von Ihnen postulierte ,,bisexuelle Gesellschaft―
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nicht auch voraus, daß die Frauen es schaffen, ihr inneres und äußeres
Ghetto zu verlassen?
Wolff: Voraussagen lassen sich natürlich nicht mit Sicherheit
machen. Doch je mehr sich der Mensch seiner natürlichen Anlage in
seiner ganzen Emotionalität, Mentalität und Körperlichkeit bewußt ist
und je mehr er von den Fesseln der falschen religiösen Ideen befreit
ist, desto mehr wird er sich in einer emotionalen Beziehung und auch
dem direkten Zusammenleben mit beiden Geschlechtern engagieren.
P. H: Bringt das nicht die Aufhebung der Kleinfamilie mit sich?
Wolff: Genau. Die Kern- oder Klein-Familie ist doch schon gestorben. Die noch bestehenden sind zum größten Teil eine Farce. Es
gibt sicher noch einige gut funktionierende, glückliche Kleinfamilien,
aber sie sind sozusagen der historische Restbestand, eine Art Museumsstück. Wo ist denn die Kleinfamilie? Sie ist nur da als ein Aushängeschild, wenn man es einmal ganz radikal ausdrücken will. Heute ist
es doch in den meisten Familien schon so, daß die Kinder nach Hause
kommen, und es ist keiner da - beide Eltern sind berufstätig. Kinderkrippen, Kindergärten, Ganztagsschulen übernehmen ,,klassische―
Aufgaben der Mütter, die dafür im Beruf, wie man so sagt, ,,ihren
Mann stehen―. Oft hat mindestens noch ein Partner eine außereheliche Beziehung. Alles in allem: Es scheint sich abzuzeichnen, daß
Kommunen, Wohn- und Lebensgemeinschaften unterschiedlicher Art
- und natürlich auch die ,,Singles― - im Kommen sind.
P. H.: Das wirft die Frage der Treue auf.
Wolff: Kann denn eine Beziehung nur zweisam oder kann sie
auch dreisam oder viersam sein? Ohne daß Eifersucht, seelisches Leid
und eine chaotische Situation entstehen? Das erfordert einen Prozeß
des Umlernens. Bei den Bisexuellen meiner Untersuchung waren eine
Reihe von jüngeren Leuten, die durchaus in der Lage sind, in einer
Gemeinschaft ohne Besitzdenken zu leben. Kein Wunder, sie sind
weniger in kapitalistisch-patriarchalischem Denken verhaftet und haben den Mut, Neues zu entwickeln, wo das Alte ihnen nichts mehr zu
bieten hat. Solche Lebens-Experimente tragen viel dazu bei, daß wir
die ,,wirkliche Natur― des Menschen verstehen lernen.
P. H.: Treue heißt dann tatsächlich, wie uns der Schweizer
Paartherapeut Jürg Willi in einem Gespräch sagte: sich selbst treu werden lernen - Sie würden sagen, daß wir unsere psychische Bisexualität
in jeder Hinsicht ausleben?
Wolff: Absolut richtig. Der Begriff von Treue, den wir heute haben, ist ebenso wie der Eifersuchts-Begriff in erster Linie auf Besitz-
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denken gegründet. Aber was Sie eben sagten: die Treue zu sich selbst,
die Freiheit von Lügen und Künstlichkeit - das ist in einer heutigen
Kleinfamilie fast ausgeschlossen. Da wird so gelogen - wie übrigens in
fast allen persönlichen Verhältnissen -, daß nicht umsonst Psychiater
und Psychologen einen so enormen Zulauf haben. Die Treue in sich
selbst zu finden, zu erlernen, ihr zu trauen und sie auszudrücken - das
heißt leben.
Charlotte Wolff wurde am 30. September 1900 als zweites Kind jüdischer Eltern in Riesenburg bei Danzig geboren. Sie studierte in Freiburg. Königsberg, Tübingen und Berlin Philosophie und Medizin. Ihr
Denken wurde stark beeinflußt von der in den 20er Jahren aufkommenden Philosophie der Phänomenologie (in Freiburg studierte sie
unter anderem bei Husserl und Heidegger). Als ,,Ausgleich― zu ihrem
Medizinstudium schrieb und übersetzte sie Gedichte. Ihre bekannteste Arbeit aus dieser Zeit sind die Übersetzungen von Baudelaires
,,Les fleurs du mal“ die parallel zu der ihres Freundes Walter Benjamin in der von Franz Hessel herausgegebenen Literaturzeitschrift
VERS UND PROSA erschienen.
Nach Abschluß ihres Studiums arbeitete sie fünf Jahre als angestellte Sozialmedizinerin in den Berliner ,,Ambulatorien der Krankenkassen―, zuletzt als Direktorin eines physiotherapeutischen Instituts.
Kurz nach der Machtübernahme der Nazis wurde die 33jährige Jüdin
unter Spionageverdacht festgenommen und kam nur frei, weil einer
der Polizisten in ihr die Ärztin seiner Frau erkannte. Sie floh kurz darauf nach Paris und lebte dort, bis sie 1936 nach London übersiedelte.
In Berlin hatte sie bereits begonnen, wissenschaftliche Studien
über medizinische und psychologische Diagnostik der menschlichen
Hand zu betreiben, und sie setzte ihre Forschungen in Frankreich und
England fort. Neben etlichen Zeitschriften-Artikeln erschienen zwei
Bücher über dieses Thema von ihr: ,,The Human Hand― (Methuen,
1942) und ,,The Hand in Psychological Diagnosis“ (Methuen, 1951).
Dazwischen lag eine Arbeit über ein artverwandtes Thema: eine Theorie der menschlichen Gestik (,,A Psychology of Gesture―, Methuen.
1945). Aufgrund dieser Arbeiten wurde sie 1941 zum Ehrenmitglied
(Fellow) der British Psychological Society ernannt. Ab 1952- als die
Niederlassungsvoraussetzungen für ausländische Ärzte erleichtert
wurden -, konnte sie wieder als Ärztin praktizieren, und die nächsten
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15 Jahre arbeitete sie als Psychotherapeutin in einer eigenen Praxis.
1966 schrieb Charlotte Wolff ihre erste Autobiographie ,,On
the Way to Myself, Communications to a Friend― (Methuen, 1969),
die 1971 auf deutsch unter dem Titel ,,Innenwelt und Außenwelt Autobiographie eines Bewußtseins― beim Verlag Rogner und Bernhard erschien.
Von 1967 bis 1970 führte sie eine empirische Studie an lesbischen Frauen durch, deren Ergebnisse sie in dem Buch ,,Love
between Women― (Duckworth, 1971), deutsch: ,,Die Psychologie der
lesbischen Liebe― (Rowohlt. 1973) zusammenfaßte.
Bevor sie ihre nächste sexualwissenschaftliche Untersuchung
über Bisexualität durchführte, schrieb sie einen Roman: ,,An Older
Love― (Virago/Quartet Books, 1976), der 1977 auf deutsch im Verlag
Frauenoffensive unter dem Titel ,,Flickwerk― erschien. Sie schilderte
sich darin als teilnehmende Beobachterin der Liebe zwischen zwei älteren Frauen (die eine 65, die andere 75 Jahre alt), deren Beziehung
durch religiöse Überzeugungen und soziale Konventionen beeinträchtigt ist, weil sie sich ihre sexuellen Gefühle nicht eingestehen
können.
Die Ergebnisse der Untersuchung an bisexuellen Männern und
Frauen, die sie nach Abschluß ihres Romans durchführte, wurden
1977 unter dem Titel ,,Bisexuality. A Study“ (Quartet Books) veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung (,,Bisexualität―, Goverts 1979)
machte die Autorin in der Bundesrepublik als Pionierin auf dem Gebiet der Sexualwissenschaften bekannt. Charlotte Wolff gelingt es, in
ihren Arbeiten folgende Thesen zu belegen:
- Menschen sind von Geburt an bisexuell.
- Kinder leben ihre Bisexualität aus, trotz der massiven Versuche Erwachsener, sie in Geschlechtsrollen zu pressen.
- Die natürliche Weiterentwicklung verläuft über die Autoerotik zur
Homosexualität.
- Das Ausleben der heterosexuellen Seite der Bisexualität ist schwerer
erlernbar und die ausschließliche Heterosexualität kann nur durch
massiven gesellschaftlichen Zwang durchgesetzt werden.
- Jeder Mensch hat ,,männliche― und ,,weibliche― Komponenten in
sich, daher sind diese Begriffe für Eigenschaftszuschreibungen unzulänglich und sollten durch konkrete Umschreibungen (,,passivaktiv―! ,,intellektuell-emotional―/ „sanft- aggressiv― und so weiter)
ersetzt werden.
Seite 66
- Psychische Deformationen entstehen nicht durch das Ausleben der
Homo- oder Bisexualität, sondern durch gewaltsame Unterdrückung
einer der beiden Seiten beziehungsweise ihre gesellschaftliche Ächtung.
- Dadurch, daß Frauen immer stärker ihre ,,männliche― und Männer
ihre ,,weibliche― Seite ausleben können, sind die Voraussetzungen
für die Befreiung der menschlichen Natur in Form einer ,,bisexuellen Gesellschaft― gegeben.
Im Jahre ihres 80. Geburtstages erschien in England Charlotte
Wolffs zweite – diesmal chronologische - Autobiografie ,,Hindsight― (Quartet Books), was zu deutsch so viel wie ,,Späte Einsicht―
heißt. Im Augenblick arbeitet sie an der wissenschaftlichen Biografie
Magnus Hirschfelds, der in den 20er Jahren in Berlin das erste sexualwissenschaftliche Institut gründete. Danach möchte sie ihren Zyklus
sexualwissenschaftlicher Arbeiten abschließen mit einer Untersuchung
über die provozierende Frage: Wie wird ein Mensch heterosexuell?
Die beste Charakterisierung ihrer Persönlichkeit als Wissenschaftlerin lieferte der Experimentalpsychologe William Stevenson im
Vorwort zu ihrem Buch ,,The Human Hand―: ,,Dr. Wolff ist eine geborene Psychologin. Die meisten von uns Psychologen sind synthetische Produkte, Stück für Stück zusammengesetzt, und wir bleiben immer Stückwerk, unvollendet und allzu wissenschaftlich. Anders Frau
Wolff, die so vollständig in die Psychologie hineinwuchs wie ein Samenkorn zu einer Blume wird. Parallel zu der Persönlichkeit der Psychologen entwickelt sich die Art ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Die
einen schreiben Aufsätze über dieses oder jenes Stückchen Psychologie. Die anderen - wie Frau Wolff - geben einen Gesamtüberblick
über ein neues Forschungsgebiet und zeichnen bereits die Hauptlinien
ein; die feinen Verästelungen können später von anderen Wissenschaftlern eingetragen werden.―
M. H.
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„Wissen von der wirklichen Gestalt des Menschen“
Interview mit Charlotte Wolff, 23. Sept. 1986, BBC-Deutschland
Moderator:
(Anfang unverständlich)...einer bemerkenswerten Frau. Das
letzte Interview vor ihrem Tod: Dr. Charlotte Wolff, Vorkämpferin
für die soziale und sexuelle Selbständigkeit der Frau, Feministin,
Forscherin und Schriftstellerin starb plötzlich am 12. September kurz
vor ihrem 89. Geburtstag. Im Nachruf der TIMES heißt es:
"Charlotte Wolff besaß eine leidenschaftliche intellektuelle
Energie und eine unverfälschte Liebe für ihre Mitmenschen." Und
genau so habe ich sie in unserem Gespräch wenige Tage vor ihrem
Tod noch kennengelernt.
Sie wurde bei Danzig geboren in der Stadt Riesenburg, durch
die, als wär's ein Omen, der Fluss Liebe fließt. Nach ihrem Studium
der Philosophie und Medizin arbeitete sie als Ärztin und Beraterin für
Körper und Seele im Berliner Arbeiterviertel Neukölln. 1933
emigrierte sie nach Paris, und 1936 ließ sie sich in London nieder. Aus
ihrer erotischen Zuneigung zu Frauen machte sie nie ein Geheimnis.
Man braucht nur ihren Roman "Flickwerk" oder ihre Autobiografien
zu lesen. Eins der beeindruckendsten Kapitel in ihrer
Lebensbeschreibung ist, wie sie als Jüdin, die mit Dtld. eigentlich
nichts mehr zu tun haben wollte, 1978 auf Einladung des
Frauenbuchladens LABRYS doch wieder nach Berlin reiste und sich
dort unter den Frauen wie zu Hause fühlte. Das Buch endet mit den
Worten: "Berlin war wieder ein Ort auf meiner emotionalen
Landkarte geworden. Es hatte mir ein neues Leben gegeben."
Nach Ansicht der TIMES ist ihr bedeutendstes Werk allerdings
die große Biographie, nein, nicht Biographie, sie nennt es "ein
Porträt", ihr großes Porträt von Magnus Hirschfeld. Das Buch über
diesen großen Pionier der Sexualforschung und Sexualreform erschien
hier in London kurz vor ihrem Tod. Schon 1897 hatte Hirschfeld
Komitees gegen die Verfolgung der Homosexuellen gegründet, später
die Weltliga für Sexualreform und sein Institut für Sexualforschung in
Berlin, das erste derartige Institut überhaupt. Die Veröffentlichung
des Hirschfeld-Porträts war eigentlich der Anlass für mein Gespräch
mit Charlotte Wolff; in Kürze wollten wir eine längere Sendung über
sie selbst machen; dazu kommt es leider nicht mehr. Doch auch in
diesem Gespräch wird die außergewöhnliche Persönlichkeit dieser
Frau spürbar. Seltsamerweise ist sie mit Hirschfeld im Berlin der
Seite 68
Zwanziger Jahre nie enger in Kontakt gekommen, aber der Name war
ihr natürlich ein Begriff.
Charlotte Wolff: "Oh natürlich, wir wußten alles, natürlich habe
ich mit großem sensationellem Interesse "Die Homosexualität des
Mannes und des Weibes" gelesen, aber ich glaube, das ist so ungefähr
das einzige, was ich gelesen habe. Ich bin nie ins Institut gegangen, ich
habe Hirschfeld einmal gesehen auf einer Versammlung der
Menschenrechte und war nicht besonders beeindruckt. Ich dachte, na
ja, das ist so ein dicker, merkwürdiger Bourgeois, ein sehr großer
Mann, der sich auch sehr groß fühlt, und das war so alles, aber ich war
auch gar nicht interessiert. In dieser Zeit waren meine persönlichen
Erlebnisse, meine Liebesgeschichten usw. mir so wichtig, dass ich
mich für ein Institut für Sexualwissenschaft und Herrn Hirschfeld
und sogar die Menschenrechte, ja, ich muss dies sagen, nur sehr wenig
interessiert habe.
Moderator: Sie haben sich also nicht in dem Sinne engagiert, daß
Sie für Reformen, auch gesetzliche Reformen, damals eingetreten
sind?
Charlotte Wolff: Oh, ich hätte für jeden meine Unterschrift
gegeben, ich war sehr links-sozialistisch, ich war im Verband
Sozialistischer Ärzte. Natürlich hat mich jede progressive Bewegung,
aber niemals ein ausgesprochen Feministenbund oder so etwas habe
ich jemals berührt oder hat mich interessiert. Ich habe und denke
noch heute dasselbe, dass Emanzipation von sich selber kommt. Ich
hab' mich niemals gebunden gefühlt oder unterdrückt gefühlt. Ich bin
da gewesen, bin frei gewesen, ich fühlte nichts von Unterdrückung
der Frau und so, es war mir darum wahrscheinlich nicht besonders
interessant. Beides ist sehr egoistisch, aber junge Menschen sind
egoistisch, und lassen Sie sie dabei.
Moderator: Sie sagten eben, Hirschfeld sei Ihnen bei dieser einen
Begegnung nicht besonders sympathisch gewesen.
Charlotte Wolff: Nein, nicht besonders sympathisch.
Moderator: Und auch in ihrem Buch erwähnen sie einige kleinere
negative Seiten. Ist Ihnen der Mann denn im Laufe des Schreibens
von diesem Buch sympathischer geworden?
Charlotte Wolff: Oh, im Laufe des Schreibens habe ich, wie es
eine Freundin von mir, die eine sehr große Schriftstellerin ist, die Sie
vielleicht kennen, E.L. Barke, sie hat mein Buch gelesen und mir
genau über diesen Punkt geschrieben. Ich werde Ihnen lieber ihre
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Interpretation als meine eigenen Gedanken geben, denn ich glaube,
sie hat Recht. Sie sagte: "Sie haben das richtige Verhältnis von
Dissoziation von Hirschfeld und Sympathie für Hirschfeld gefunden,
darum sind Sie in der Lage gewesen, mit absoluter Sympathie in sein
Leben und seine Persönlichkeit hineinzusehen." Wenn Sie die "Reise",
die "Weltreise" lesen, z.B. was ich so wunderbar, wo ich wirklich
einen Aufschwung erlebt habe, diese "Pilgermarsch", diese
"Pilgerfahrt nach Avila" lesen zu Karl-Heinrich Undöskat
(Anmerkung E.B.: Namen und Titel sind nicht ganz deutlich zu
verstehen!), sehen Sie, mit welcher Sympathie und sogar mehr, 'ne Art
Identifikation, ich dachte, "wie wunderbar, das hätte ich gern selber
erlebt." Aber seine Schwächen konnte man doch überhaupt nicht
übersehen, und sie sind ja notwendig, um die Paradoxien zu erklären,
die nach meiner Meinung geradezu nötig sind, um diese Art von
Charisma zu erklären; es ist nur durch diese enormen Gegensätze in
uns, dass solche Funken aus unserer Seele springen können und dass
wir diese Macht der Ausstrahlung zu anderen und der Ausstrahlung in
der Welt und in der Arbeit finden. Ich habe natürlich erkannt, wie
dies kommt, und ich wollte nichts übersehen. Was ich will überhaupt
für mich selber und für was ich ansehe, was mich tief betrifft, ist
absolute Integrität in der Arbeit und in der Menschenwelt. Am Ende
ist diese Integrität aus den unglaublichen Gegensätzen, wie man sie
bei Hirschfeld findet, bestimmt vorhanden; und über seine
humanitären, ich weiß nicht, Humanität ist zu wenig, seine
Freundschaft, seine Sympathie, seine Hilfsbereitschaft, seine
unkonventionelle humanitäre Art mit sogenannten Patienten, die er
nie als Patienten angesehen hat, immer als Freunde; mit denen er
nicht da - wie Freund - sich hinter ein Sofa zu setzen und sie reden zu
lassen, sondern in den Arm genommen hat und in den Tiergarten
geführt hat, dann mit denen Kaffee getrunken hat; er hat so viele
wirklich geheilt und ihnen so geholfen, dass sie leben konnten.
Moderator: Sie nennen ihr Buch "ein Portrait von Hirschfeld",
nicht Biografie, warum?
Charlotte Wolff: Ich glaube nicht, dass wir einander kennen
können, ich glaube, dass alles menschliche Kennen eine subjektive
Interpretation von uns ist, und darum glaube ich nicht, dass eine
fotografische Ansicht eines Menschen überhaupt möglich ist. Sie
können ihn nicht wiedergeben, wie er wirklich ist, sie geben ihn
wieder durch ihr Bild, das Sie von ihm haben. Ich glaube auch nicht,
dass die Menschen selber wissen, wie sie wirklich sind. Sie denken,
Seite 70
wenn ich von den Bisexuellen, den ich fragte, wenn ich annoncierte in
verschiedenen Magazinen usw. für Probanden für meine Arbeit, dann
war meine Annonce: "Menschen, die sich für bisexuell halten.", was
natürlich heißt, Sie müssen natürlich wissen,...(Anm. E.B.: es folgt
eine unverständliche Äußerung!), darum, Fotografien, was eine
Biografie sein sollte, eine objektive Darstellung des Lebens, wie es
war, halte ich für unmöglich und halte ich auch nicht für das
Wichtige. Ich glaube, dass manchmal durch ein Portrait, ich dachte
nicht an einen Fotografen, sondern an einen Maler; ich dachte sogar
in diesem Fall an Picasso; denken Sie mal an das Portrait, das er von
der Gertrud Stein gemacht hat, na ja, da sieht man vielleicht die
unterlegende, vielleicht die einzige Möglichkeit des Moments der
Wirklichkeit, nicht in der Fotografie, sondern in dem Portrait, in der
plötzlichen Inspiration, die ihm einen Blick gegeben hat, etwas, was
die Person wahrscheinlich gar nicht von sich selber wußte und
vielleicht niemals und bestimmt, in Gertrud Steins Fall und in dem
vieler anderer, nicht wissen wollte, plötzlich, wenn ich mich als Maler
sah, der einen enormen (Anm. E.B.: einige unverständliche
Ausdrücke!) malen wollte, dann wollte ich solche Blicke festlegen, wo
man vielleicht aus dem Subjektiven heraus und durch das Subjektive
hinein in diese kleinen Momente von Realität, von wirklichem Dasein,
von wirklicher Gestalt, das ist ein wunderbares Wort in Deutsch, von
der wirklichen Gestalt des Menschen etwas weiß.
Moderator: Sie haben 6 Jahre an diesem Buch gearbeitet, was
wird ihr nächstes Buch sein?
Charlotte Wolff: Nun, dies wird Sie vielleicht wundern, ich werde
einen Roman schreiben. Ich habe ja schon einen geschrieben, der in
Deutschland einen großen Erfolg hatte, der in England unter dem
Titel "An older love" ging und in Deutschland diesen merkwürdigen
Titel "Flickwerk" hat. Aber in Deutschland hat er 4 oder sogar 5
Auflagen erlebt. Jetzt werde ich einen Roman schreiben. Ich habe die,
weil ich mich gerade erholen musste und in einem
Regenerationszustande bin, habe ich's noch nicht geschrieben, aber es
ist schon, ich weiß die 8 Kapitel, die ich schreiben werde. Ich weiß
sogar die Namen dieser 8 Kapitel, nicht Titel, ich weiß genau, was ich
mache, aber ich werde Ihnen nicht sagen, was es ist, denn wenn ich's
sagen würde, würde ich's wahrscheinlich nicht machen. (Lachen von
beiden)
Moderator: Dr. Charlotte Wolff, und da sie ein Faible für Jazz
hatte, möchte ich ein kurzes Stück von Duke Ellington spielen, den
Seite 71
sie offenbar besonders mochte: East St.Louis...(Anm. E.B.:
unverständlich!) aus dem Jahre 1927.
(ca. 35 Sekunden Musikeinspielung)
Als ich mit Charlotte Wolff sprach, wurde mir einmal mehr
bewusst, welche ungeheuren geistigen Potenzen Deutschland durch
den Nationalsozialismus verloren hat, dasselbe gilt für Österreich. In
einem Artikel des TIMES LITERATURE SUPPLIMENT hieß es
unlängst: "Alles, was unser Jahrhundert geprägt hat, wurde Anfang
des Jahrhunderts in Wien und Berlin in Bewegung gesetzt, von
Computermathematik bis zur Kernspaltung, von moderner
Architektur bis zur Psychoanalyse, von Kunst bis Philosophie. Die
Liste der kreativen Geister ist schier unerschöpflich, und immer
wieder stößt man auch auf Leute, die lange Zeit vergessen waren. Ein
Beispiel ist das Wiener Multitalent Ernst Drüden, von dessen
künstlerischem Werk ein Großteil erst kürzlich durch Zufall wieder
entdeckt wurde.―
(Abbruch des Bandes)
Transkribiert von Eugen Bühler, Lehrer am
Charlotte-Wolff-Kolleg, im Rahmen eines
Leistungskurs Deutsch Projektes, 26.02.1997
Chapter 3: Research and Social Work
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Kostproben aus dem noch nicht übersetztem Buch:
Charlotte Wolff M.D.
Magnus Hirschfeld.
A Portrait of a Pioneer in Sexologie
―[...] The fight for the abolition of Paragraph 175 was, of course, in
the forefront of Hirschfeld‘s mind, a fight he had started with the
writing of ‗Sappho and Socrates‘. The favourable response to his
pamphlet had led to his decision to pursue scientific research into sexual problems. This decision had a far-reaching effect on his own personal development, and it had a certain influence on the society of his
time. It is a gross mistake to identify Hirschfeld solely with his Studies
of homosexuality because he was concerned with all aspects of human
Sexuality. Moreover, apart from this main strand of research, by 1893
he had already started to investigate those social evils of society which
were particularly destructive to personal and social health – alcoholism and prostitution. He pursued these studies for many years before
publishing the results. He was also one of the first and foremost opponents of Paragraph 218 (the law against abortion). With these progressive activities, and the formation of the S.H.C., he had become an
innovator in the field of social science.
Hirschfeld also realised that a new kind of medical care was
needed for the poor, whose health conditions were inadequately cared
for. He founded a medical insurance scheme (Hausarztkasse) , whereby
patients were treated for a small annual sum of money. His initiative
was taken up by other German cities and in Austria. Like his father,
he practised social medicine. Like him he recognised that prevention
of illness through social hygiene should be the first aim of a doctor.
The energy which a life like the one led by Magnus Hirschfeld
demanded can scarcely be appreciated by the present generation. He
lived simultaneously in several different ‗worlds‘. His sociological research and social work complemented his medical practice, but his active participation in the literary revolution of the time seem quite outside it. A tenuous link is perhaps his editorship of, and his contributions to the Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen (Yearbooks for Sexual Intermediaries). The first appeared in 1899, the last in 1923. They were
published in the name of the S.H.C. and were designed to communicate contemporary knowledge about unorthodox sexuality, especially
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same-sexed love. They contained articles by physicians, psychoanalysts and biologists, and often included contributions from Hirschfeld‘s colleagues which contradicted his theory of inbornhomosexuality, and/or were critical of his public fight for homosexuals. His impartiality and tolerance of other points of view was just as rare in the
scientific world of his time as it is in ours. He also published articles
by ethnologists, lawyers, criminologists and writers. Knowledge is the
best weapon in the fight for social justice, and in this sense the Yearbooks became part of both a scientific and a social revolution. They
are a unique record, never attempted before, of the multifarious contributions on a subject too long neglected. They belong to Hirschfeld‘s most important achievements. He said at a later date, in his
chapter ‗Die Homosexualitat in unserer Zeit‘ (‗Homosexuality in Our
Time‘), published in Sittengeschichte der Kulturwelt (edited by Leo
Schidowitz, 1927), that they not only mirrored the indefatigable fight
of the S.H.C., but gave expression to a cultural revolution which had
gripped the ‗alternative‘ population of Germany in the second half of
the nineteenth century.
Progressive scientists were determined to create a healthier and
better society. I am not the first person to point out that literature is a
better mirror of history than textbooks dealing with the subject. The
literary revolution in Germany at that time put naturalism in the place
of romanticism. It had a clearly defined social purpose, turning away
from the individualism of the favoured rich towards an understanding
of the ‗lower‘ classes, showing us the social evils resulting from a capitalistic society which had no regard for the poor. Freedom for all was
the motto. [...]”
Kapitel 3: Forschung und Sozialarbeit., S. 44 ff.
―[...] Der Kampf um die Abschaffung des Paragraphen 175 wurde zu
Hirschfelds Hauptanliegen, ein Kampf, den er mit seiner Schrift SAPPHO UND SOCRATES begonnen hatte. Die positive Reaktion auf
dieses Pamphlet führte zu seinem Entschluß, die Erforschung sexueller Probleme weiter zu betreiben. Dieser Entschluß hatte weitreichende Auswirkung auf seine eigene persönliche Entwicklung und einen
gewissen Einfluß auf die Gesellschaft seiner Zeit. Es wäre ein großer
Fehler, Hirschfeld einzig und allein mit seinen Studien über Homose-
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xualität zu identifizieren, denn er befaßte sich mit allen Aspekten der
menschlichen Sexualität. Abgesehen von diesem Forschungsgebiet
hatte er bis 1893 bereits damit begonnen, Alkoholismus und Prostitution zu untersuchen, jene sozialen Mißstände, die in besonderem Maße die Gesundheit des Einzelnen und der Gesellschaft gefährden. Er
betrieb diese Studien über viele Jahre, bevor er die Ergebnisse veröffentlichte. Er war auch einer der ersten und bedeutendsten Gegner
des Paragraphen 218 (Verbot der Abtreibung). Mit diesen fortschrittlichen Aktivitäten und mit der Gründung des Wissenschaftlich – humanitären Komitees war er der Erneuerer der Sozialwissenschaften.
Hirschfeld erkannte auch die Notwendigkeit einer neuen Form
der bis dahin völlig unzureichenden medizinischen Versorgung der
Armen. Er gründete eine Hausarztkasse, durch die Patienten für einen
geringen Jahresbeitrag ärztliche Behandlung erhielten. Seine Initiative
wurde von anderen deutschen Städten und auch in Österreich
aufgegriffen. Wie sein Vater, praktizierte er Sozialmedizin. Wie dieser
erkannte er, daß es das erste Ziel eines Arztes sein müsse,
Krankheiten durch Sozialreformen vorzubeugen.
Ein Leben, wie es Magnus Hirschfeld führte, fordert soviel
Kraft, wie es die heutige Generation kaum würdigen kann. Er lebte
gleichzeitig in vielen unterschiedlichen ―Welten‖. Hirschfelds
Soziologieforschung und Sozialarbeit ergänzten seine Arztpraxis,
wohingegen seine aktive Teilnahme an der literarischen Revolution
dieser Zeit nicht dazu zu gehören scheint. Ein feines
Verbindungsglied stellt vielleicht seine Position als Herausgeber der
JAHRBÜCHER FÜR SEXUELLE ZWISCHENSTUFEN dar, in
denen er auch zahlreiche Beiträge veröffentlichte. Die erste Ausgabe
erschien im Jahre 1899, die letzte 1923. Die Jahrbücher wurden im
Namen des Wissenschaftlich – humanitären Komitees
herausgebracht, um aktuelles Wissen über unorthodoxe Sexualität,
insbesondere gleichgeschlechtliche Liebe, zu vermitteln. Sie enthielten
Artikel von Ärzten, Psychoanalytikern und Biologen und oft Beiträge
von Hirschfelds Kollegen, die seiner Theorie der angeborenen
Homosexualität widersprachen und/oder sein öffentliches Eintreten
für Homosexuelle kritisch betrachteten. Seine Unvoreingenommenheit und Toleranz gegenüber anderen Standpunkten war in
der damaligen Welt der Naturwissenschaften genau so rar wie in der
unseren. Er veröffentlichte ferner Artikel von Ethnologen,
Rechtsanwälten, Kriminologen und Schriftstellern. Wissen ist die
beste Waffe im Kampf um die soziale Gerechtigkeit, und in diesem
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Sinne wurden die Jahrbücher Teil einer wissenschaftlichen und
sozialen Revolution. Sie sind außergewöhnliche und neuartige
Zeugnisse einer vielschichtigen Diskussion über ein zu lange
vernachlässigtes Thema. Sie gehören zu den wichtigsten Leistungen
Hirschfelds. Später sagte er in seinem Kapitel ―Die Homosexualität in
unserer Zeit‖ (veröffentlicht in SITTENGESCHICHTE DER
KULTURWELT, Hrsg. Leo Schidowitz, 1927), daß die Jahrbücher
nicht nur den unermüdlichen Kampf des Wissenschaftlich –
humanitären Komitees widerspiegeln, sondern auch der kulturellen
Revolution Ausdruck verlieh, die die ―alternative‖ Bevölkerung
Deutschlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ergriff .
Progressive Naturwissenschaftler waren entschlossen, eine
gesündere, bessere Gesellschaft zu schaffen. Ich bin nicht die erste,
die darauf aufmerksam macht, daß Literatur ein besserer Spiegel der
Geschichte ist als Lehrbücher. Die literarische Revolution in
Deutschland zu dieser Zeit löste die Romantik durch den
Naturalismus ab. Der hatte ein klar definiertes gesellschaftliches Ziel,
nämlich sich vom Individualismus der begünstigten Reichen
abzuwenden und statt dessen Verständnis für die ―unteren‖ Klassen
zu wecken, um die sozialen Mißstände einer kapitalistischen
Gesellschaft zu enthüllen. Freiheit für alle, das war das Motto.[...]‖
Übersetzt von Eleanor Katzschner,
Lehrerin am Charlotte-Wolff-Kolleg,
03.04.1998
Dr. Charlotte Wolff Ärztin, Psychiaterin und Pionierin in der
Sexualforschung, starb am 12.9.1986 in London. Ihr letztes großes
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Magnus Hirschfeld,
aus: Charlotte Wolff, Magnus Hirschfeld,
A PORTRAIT OF A PIONEER IN SEXOLOGY
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„Ein starker Geist kennt kein Alter“
Zum Tode von Charlotte Wolff, tageszeitung, 27. Okt. 1986
Werk war das Portrait von Magnus Hirschfeld, das im Mai diesen
Jahres in London erschien. Viele, die sie in den letzten Jahren (19181983) in ihren Vorträgen und Lesungen erlebt haben, werden sich an
ihre kämpferische Vitalität, ihren funkelnden Esprit und ihre
gelassene Weisheit erinnern. Berlin war nach 50 Jahren Exil wieder
ein Ort auf ihrer emotionalen Landkarte geworden. Die Wärme des
Gefühls und die Rückkehr in ihre Sprache hatten ihr ein neues Leben
gegeben. Dennoch blieb die kritische Distanz zu diesem Land - aus
dem die Ablösung 1933 eine Erlösung bedeutete.
Zunächst eine internationale Jüdin ohne Paß. Danzig-BerlinParis- London: Stationen ihres Lebens. Die Emigration: der Aufbruch
zu intellektuellen Grenzüberschreitungen und die Chance des
wissenschaftlichen Neubeginns. Ein widersprüchliches Lebensmuster
zeichnet sich. Ein Leben aus erster Hand - in den sensiblen
Grenzbereichen der Wissenschaft und Kunst. Dort, wo die Sphären
sich überschneiden, wächst die Kreativität, dort finden sich die Widersprüche, die zu neuen Lösungen drängen. Ein Leben in
Deutschland zwischen den Kriegen. Ein Leben zwischen poetischer
Bestimmung und wissenschaftlicher Praxis. Ein sinnliches Leben in
dem Bewußtsein, anders zu sein. Lernen aus erster Hand war das
Resümee aus dem Philosophiestudium. Lernen aus erster Hand nach
Abschluß des Medizinstudiums: am Tage die Verantwortung der
Ärztin an den Ambulatorien der Berliner Krankenkassen.
Hinterhofelend in der Sozialfürsorge.
Später dann -schon 1928- der Vorstoß auf Neuland: Pionierarbeit als stellvertretende Direktorin beim Aufbau der ersten
Schwangerschaftsverhütungsklinik in Deutschland. Eine Arbeit, die
im Knotenpunkt neuer Wissenschaftsbereiche angesiedelt war: in den
Überschneidungen zwischen Sexualwissenschaft, Psychotherapie und
Familienfürsorge. Dann auch das andere Leben aus erster Hand: das
fraulich bunte Nachtleben in der "Vevona Diele" und dem
"Topkeller" mit seinen vielfältigen erotischen Vergnügungen - die
intellektuelle Würze des Cabarets und des Theaters in Berlin: Auf
spielerische Art und Weise verknüpften sich hier Liebe und Wissen,
Erotik und Poesie, Freundschaften, Vergnügungen. In dieser
Atmosphäre der Begegnungen und der intellektuellen
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Auseinandersetzungen erkannten sich die, die schon immer im
Grenzbereich hellsichtiger und hellhöriger Wachsamkeit lebten. Sie
fanden sich, ohne sich zu suchen, Dora und Walter Benjamin - Helen
und Franz Hessel bildeten den Freundschaftskreis ihrer
Wahlverwandten. Charlottes Lyrik und ihre Baudelaire-Ubertragungen
erschienen in der von Franz Hessel 1924 herausgegebenen
Zeitschrift ,Vers und Prosa‗. Noch verband sie der Tanz der
Kreativität auf dem Vulkan der Zeitbedingungen: der von politischen
und ökonomischen Krisen geschüttelten Weimarer Republik. Schon
kündete der Naziterror von der Verfolgung des Geistes. Die Folge:
Berufsverbot, Denunziation und Verhaftung. Lernen aus erster Hand:
entartet. Leben aus erster Hand: widernatürlich - abartig. Am 26. Mai
begann der Exodus aus Deutschland. Ein emotionaler eiserner
Vorhang fiel hinter diesem Land - die Ablösung einer Erlösung,
Frankreich - ein neues Land - Neuland in allen Lebensbereichen und
Niemandsland zugleich. ―Tabula Rasa‖ - und die Wohltat dieses
Schocks, der die Emigration als Chance des kreativen
wissenschaftlichen Neubeginns begriff. Wiederaufnahme und
Weiterentwicklung der bereits 1931 begonnenen, methodologischen
Untersuchungen der Handdiagnostik, die aus der spekulativen
Chirologie eine fundierte Wissenschaft der diagnostischen
Psychologie und Therapie machen sollten. Radikale Infragestellung
und Absolutheit im Anspruch, das Unbewußte zu entschlüsseln,
wurde auch zu einem Schnittpunkt der Freundschaften mit den
Surrealisten. ―Die letzte Momentaufnahme der europäischen
Intelligenz‖, wie Benjamin die radikale Haltung dieser Bewegung
kennzeichnete. 1935 erschien in der surrealistischen Zeitschrift
"Minotaure" Charlottes erste psychologische Begründung der Theorie
der Hand. Der Psychiater H. Wallon und Aldous und Maria Huxley,
überzeugte Freunde und Unterstützer ihrer Forschungstätigkeit,
öffneten ihr in Frankreich und seit 1936 in England neue
Möglichkeiten zu weiteren experimentalpsychologischen
Forschungen: der psychotherapeutischen Diagnose der Hand. Zehn
Jahre Forschung in einer Außenseiterposition der Wissenschaft,
Pionierarbeit im wissenschaftlichen Neuland, brachten ihr nach
Jahren harter Arbeit 1941 die hohe und seltene Auszeichnung der
Ehrenmitgliedschaft in der "British Psychological Society". 1942
veröffentlichte Charlotte die Grundlagenergebnisse dieser Arbeit
in ,,The Human Hand‖, gefolgt von „A Psychologie of
Gesture― (1934). Mit "The Hand in psychological Diagnosis‖
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beschloß sie 1952 dieses Kapitel zwanzigjähriger, international
anerkannter und seitdem nie erreichter Grundlagenforschung.
Sechzehn Jahre danach, erneuter Aufbruch in die Pionierarbeit der
Sexualwissenschaft, deren erste Entwicklungslinien in den zwanziger
Jahren durch den Faschismus in Deutschland gänzlich ausgelöscht
wurden. Mit der empirischen Studie: ,,Love between Women― (1971)
(“Psychologie der lesbischen Liebe”, 1973) leistete Charlotte Wolff
den ersten, einzigen und letzten Beitrag zur Begründung der
Andersartigkeit der lesbischen Liebe. 1977 erschien ihre zweite
bahnbrechende Arbeit: ,,Bisexuality. A Study‖ (Bisexualität, 1980), in
der sie die Bisexualität des Menschen als Grundlage und
Ausgangspunkt der Sexualität untersuchte, und damit die
Gleichstellung aller Formen der menschlichen Sexualität beleuchtete.
Aus den Widersprüchen und scheinbaren Paradoxien erneut zu lernen
- offenzubleiben für die Variationen der Wege zu sich selbst, waren
ihr ,Heimweh nachdem Unmöglichen‗. Der Leitstern auf diesem
Wege: absolute Integrität in Liebe und Arbeit.
1969 erschien ihre erste Autobiographie: „On the Way to
Myself - Communications to a Friend― (Innenwelt und Außenwelt:
Autobiographie eines Bewußtseins, 1971). Eine Zeichnung auf der
Leinwand dieses Bewußtseins auch ihr erster Roman: ―An Older
Love‖, 1977 (Flickwerk, 1977) der die unterdrückte Liebe dreier
älterer Frauen zu einer Struktur der unterliegenden, verändernden
Augenblicke formt. ―Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit‖
war dann auch der Titel ihrer zweiten Autobiographie („Hindsight―,
1980).
Das widersprüchliche Lebensmuster blieb. Nun: eine
internationale Jüdin mit britischem Paß - als Überlebende schon
immer mit beiden Füßen im Abgrund. Grenzländer der möglichen
Erkenntnis - in denen Gefühl und Verstand gleichermaßen getroffen
wurden - waren ihre bevorzugten Aufenthaltsorte. In diesem Focus
wuchsen die Vitalität und Kreativität, um Neuland zu erforschen. Mit
analytischem Scharfblick und ihrer sensiblen Intuition blieb sie immer
Emigrantin in der Gesellschaft. Jenseits derer festlegenden und
festgelegten Kategorien. Zu weit der Horizont ihres Wissens - zu
unabhängig Ihr Geist, um sich von einer bereits definierten Richtung
vereinnahmen zu lassen.
1980 schon wieder als Pionierin im altvertrauten Neuland: zu
entdecken blieb der Sexualforscher Magnus Hirschfeld. Sechs Jahre
hatte Charlotte mit der intensiven Hingabe an die wissenschaftliche
Seite 80
Entdeckerfreude, das weitverstreute Lebenswerk von Magnus Hirschfeld zu einem Porträt und mehr: zu der Weite einer Landschaft der
menschlichen Liebe geformt. Bisher interessierte sich kein deutscher
Verlag.
Aber für uns: Das Vermächtnis unserer emigrierten Geschichte.
"Liebe und ein starker Geist kennen
kein Alter - Phantasie hat keine
Zeit - ich bin Charlotte Wolff, das
ist alles, was geschieht”.
Berliner
Morgenpost,
4. März 1997,
S. 7
Seite 81
„Charlotte Wolff – internationale Jüdin mit britischem Paß“
Laudatio von Christa Wolf, anläßlich der Namensverleihungsfeier des
Charlotte-Wolff-Kollegs, 5. März 1997
„Anfang des Jahres 1983 bekam ich, durch welche Empfehlung, weiß
ich nicht mehr, die Autobiographie einer Frau in die Hand, die mir bis
dahin unbekannt gewesen war: Charlotte Wolff. Das Buch, in einer
Reihe des S. Fischer Verlags erschienen, heißt: Augenblicke verändern
uns mehr als die Zeit. Während ich noch darüber nachdachte, ob ich
der Behauptung, die der Titel aufstellt, zustimmen könnte, war ich
schon von der Person gefangen, die dieses Buch geschrieben hatte:
Eine deutsche Jüdin, Anfang des Jahrhunderts in einer kleinen Stadt
in Westpreußen geboren, die Medizin und Philosophie studierte und
in den zwanziger Jahren in Berlin lebte und als Ärztin arbeitete; die
glücklicherweise rechtzeitig, nämlich schon Anfang 1933, das nationalsozialistische Deutschland verließ und danach in Paris und London
lebte, wo sie 1986 starb. Dieses Skelett ihres Lebenslaufes will ich später versuchen, etwas anzureichern, zuerst aber möchte ich davon sprechen, wie ich mit Charlotte Wolff in Kontakt gekommen bin - ein
Kontakt, aus dem sich eine wenn auch nie durch persönliche Bekanntschaft erprobte Freundschaft entwickeln sollte. Zu meiner großen Überraschung, fast Bestürzung, stieß ich in ihrer Autobiographie
gegen Ende auf meinen Namen. Sie hatte sich, aus Interesse für die
Dichterin Karoline von Günderrode, eines meiner Bücher besorgt, in
dem eine fiktive Begegnung zwischen Günderrode und Kleist beschrieben wird und hatte da eine Zeile gefunden, in der sie große
Ähnlichkeit mit einer Zeile aus einem der Gedichte erkannte, die sie
als junge Frau geschrieben hat. Ihre Zeile lautet: ,,Durch die Sohlen
seiner Füße brennt das Herzensblut der Erde―, die meine: ,,Und fühlte den Herzschlag der Erde unter seinen Fußsohlen.― Sie sah es als
,,ein Wunder, daß ein solch ähnlicher poetischem Ausdruck von zwei
Geistern geschaffen werden konnte―.
Ich hatte das Gefühl, daß ich ihr schreiben und mich zu erkennen geben müsse. Sie antwortete gleich und mit großem Enthusiasmus, und so entwickelte sich über die dreieinhalb Jahre, die sie noch
am Leben war, ein ziemlich dichter Briefwechsel, ein Austausch von
Büchern und Gedanken, bald gingen wir vom Sie zum Du über und
machten Pläne, uns zu treffen, die leider, einmal weil ich einen Termin nicht einhalten konnte, dann wieder, weil sie nicht gesund war,
nie ausgeführt wurden. Einmal, als wieder eine Begegnung nicht zustande gekommen war, schrieb sie mir einen Satz, den ihr eine Freun-
Seite 82
din ins Ohr geflüstert hatte: lt is later than you think. Ich verstand,
was sie meinte, aber ich nahm nicht wahr, wie ernst ihre Erkrankung
in Wirklichkeit war, die sie immer als ,,Erschöpfung― bezeichnete mich und vielleicht auch ein wenig sich selbst betrügend.
Und erschöpft war sie und mußte sie sein, nachdem sie, eine
Frau in den achtzigern, in einer unaufhörlichen sechsjährigen Anstrengung ohne Erholungspause ein umfangreiches Buch über den
Sexualforscher Magnus Hirschfeld geschrieben hatte, in dem auch ein
Satz steht, der eine versteckte Selbstaussage ist: Das Alter hat keine
Macht über einen starken Geist. Der Satz steht in Englisch da, denn
dieses große Porträt von Magnus Hirschfeld ist noch nicht ins Deutsche übersetzt. Sie hätte
Hirschfeld im Berlin der
zwanziger Jahre begegnen können, schreibt
Charlotte Wolff in ihrer
Einleitung; 1928 arbeitete
auch sie in Berlin, an der
Klinik für Familienplanung der Allgemeinen
Krankenkasse, und die
Bestrebungen, die ihre
Arbeit leiteten, waren
denen von Magnus
Hirschfeld sehr ähnlich:
die Emanzipation von
Frauen und Männern
von jeder Art sexueller
Unterdrückung durch die Gesellschaft, damit natürlich die Beendigung der Diffamierung von homosexuellen, bisexuellen, bösartig
als ,,abartig denunzierten Menschen. Die Forschung auf diesem Gebiet war für Charlotte Wolff die Arbeit ihrer letzten Lebensphase, dokumentiert in Büchern wie „Love between Women―, 1971 in England
und 1973 in Deutschland unter dem Titel: „Psychologie der lesbischen Liebe― erschienen, und ihre Grundlagenstudie über Bisexualität,
die in Deutsch 1980 herauskam. Ich zähle diese Titel hier auf, um einen Anreiz zu geben, diese Bücher zu lesen. weil mir scheint, daß im
Zusammenhang mit der restaurativen Phase, in die Gesellschaft gerade hineingetrieben wird, wie üblich auch Erkenntnisse über Sexualität
und die Folgerungen, die wir daraus ziehen müßten, wieder zurückge-
Christa Wolf,
5. März 1997
Seite 83
drängt werden nicht zuletzt die Einsicht, wie eng sexuelle und sozialpolitische Unterdrückung miteinander verknüpft sind.
Charlotte Wolff, die kein vordergründig politischer Mensch
war, hat, fast möchte ich sagen ,,von Natur― aus immer an jenen noch
ungesicherten Plätzen der Wissenschaft gearbeitet, wo Pioniergeist
erforderlich ist und wo wirklich Neues zutage gefördert wird. Dabei
war es ihr nicht an der Wiege gesungen worden, daß sie Wissenschaftlerin - a u c h Wissenschaftlerin werden würde. Wenn man die
anschauliche, farbige und genaue Schilderung ihrer Kindheit liest, die
Porträts ihrer Eltern und anderen Verwandten, die Städtebilder von
Riesenburg, wo sie geboren wurde, und Danzig, wo sie als Jugendliche
zur Schule ging, in sich aufnimmt und nicht zuletzt ihren Reflexionen
über sich und ihre Entwicklung folgt, meint man, eine kreative
Schriftstellerin vor sich zu haben. Und wirklich war ja diese Kindheit
und Jugend erfüllt von starken emotionalen Erlebnissen. von ersten
leidenschaftlichen Liebeserfahrungen mit Frauen, nicht zuletzt von
der Erschütterung durch die Geburt eines ,,inneren Auges―, während
der eine ,,unbekannte und mächtige Kraft― von ihr ,,Besitz ergreift―.
,,Von diesem Augenblick an“, schreibt sie, ,,wußte ich um das Universum, das ich erblickte und in mir hielt―. Von da an hatten sich
die ,,Tore erhöhten Empfindungs- und Wahrnehmungsvermögens―
für sie ,,von selbst― geöffnet. Natürlich kann sie ihre Sensitivität nicht
in dieser Konzentration bewahren, aber, nach allem, was ich von ihr
weiß, ist Charlotte Wolff ein hoch empfindsamer, auch empfindlicher
Mensch geblieben. Als junges Mädchen schrieb sie Gedichte, wie unter einem Zwang, sie fühlte sich zu Kunst und Literatur hingezogen,
während die prosaische Welt ihres Elternhauses, in dem Geschäftsinteressen im Vordergrund standen, sie abstieß. Aber dieses Elternhaus
hat nie versucht, die jüngere Tochter, die sich so offensichtlich nicht
in das Muster kleinbürgerlichen Verhaltens fügen konnte, zu beeinflussen oder gar zu zwingen, von ihrem Entwicklungsweg abzugehen.
Man habe sie akzeptiert, wie sie war auch in ihrer sexuellen Orientierung, die sich auf Frauen richtete und die ihr selbst zeitlebens niemals
als etwas Besonderes oder gar, „Unnatürliches― vorgekommen ist,
sondern als eine natürliche Neigung, derentwegen sie weder in ihrer
Familie noch in dem Kreis, in dem sie sich später bewegte, ausgegrenzt wurde. ,,Ich brauchte mich nicht zu verstellen―, schreibt sie,
,,zu verstecken oder nach Ausflüchten zu suchen“. Diese Aussagen
sind umso bedeutsamer, als Charlotte Wolff mehr und mehr davon
überzeugt ist, daß ,,alle Menschen von Kindheit an manipuliert wer-
Seite 84
den. So führen die Manipulierten die Manipulierten, und niemand
weiß, was der Mensch wirklich ist.― ,,Gehirnwäsche― nennt sie oft,
noch krasser, die Manipulation, der in der modernen Gesellschaft jeder Mensch unterzogen werde. Das heißt, ihre Gesellschaftskritik
setzt nicht an äußerlichen, z. B. politischen oder sozialen Symptomen
an, sondern da, wo die Mechanismen des modernen Lebens den Kern
des Menschen angreifen. Oft betont sie ihre Überzeugung, daß wir
alle gezwungen seien, unter Masken zu leben, und daß wir nur in seltenen Augenblicken spontaner Berührung mit einem anderen Menschen diese Maske fallen lassen und unser wirkliches Selbst zeigen.
Die Sehnsucht nach diesem Selbst, danach, es zu entwickeln und es
vertrauten Menschen zeigen zu können, das war die innere Leitlinie,
der Charlotte Wolff folgte; außergewöhnlich genau hat sie sich selbst
beobachtet, Abweichungen von dieser Leitlinie, die ihr schwieriges
Leben ihr aufzwang, und die oft in Krankheit mündeten, registriert
und das Glücksgefühl genossen, wenn günstige innere und äußere
Umstände für Augenblicke oder für Tage, Wochen ihr inneres Selbst
und ihr äußeres Leben miteinander übereinstimmen ließen.
Ich habe vorgegriffen, aber es ist hier nicht meine Absicht und
wohl auch nicht meine Aufgabe einen chronologischen Lebenslauf
von Charlotte Wolff zu geben. Doch komme ich noch einmal auf ihre
Studienzeit in den zwanziger Jahren zurück. Sie hatte eingesehen, daß
es vernünftig wäre, Medizin zu studieren und nicht, wie sie eigentlich
wollte, Philosophie, Literatur und Kunst. Allerdings brachte sie es fertig, neben und nach dem Studium in verschiedenen Städten, zuletzt in
Berlin, ein zweites Leben in Künstlerkreisen und in Kabaretts, Theatern, Nachtbars zu leben, mit Freundinnen und Freunden. Es sind
diese Jahre, die sie stark geformt haben und auf die sie später, als
Deutschland für sie ein Un-Ort geworden war, immer wieder zurückkommt. Sie erlebte auch in ihrem Beruf, in der Schwangerschaftsfürsorge der Allgemeinen Krankenkasse in Berlin, in der fortschrittliche
Familienplanung praktiziert wurde, ein neues, sie begeisterndes Medizinverständnis, sie wurde aktives Mitglied des Vereins Sozialistischer
Ärzte, der USPD nahestand, sie richtete die erste Klinik für Schwangerschaftsverhütung in Deutschland ein und bekam so ihren ersten
praktischen Unterricht in Sexualwissenschaft und Psychotherapie. Sie
und die jungen Frauen, mit denen sie zusammen arbeitete und lebte,
waren frei, schreibt sie, ,,wir waren einfach wir selbst, die einzige Befreiung, die am Ende zählt―. Aber: ,,Die Freiheit des Individuums und
die Freiheit für das Individuum gab es in der deutschen Geschichte
Seite 85
immer nur für kurze Zeit―.
Jahrelang kam ihr nicht die Spur einer Vorahnung von der Gefahr, die sich für sie als Jüdin und für alle, die im Namen der Aufklärung emanzipatorische Theorien und Praktiken vertraten, unter der
oft glänzenden Oberfläche zusammenbraute. Anschaulich hat sie beschrieben, wie stark man sich in ihrer Familie als deutsche Juden fühlte, wie stark sie selbst mit der deutschen Kultur identifiziert war und
niemals auf die Idee gekommen wäre, daß sich zwischen den beiden
Grundelementen, auf denen ihr Dasein aufbaute:
Jüdin und Deutsche zu sein, je ein unüberbrückbarer Abgrund
auftun würde. Drei Schläge hintereinander machten ihr im März/
April 1923 ihre Lage klar: Sie wurde gekündigt, weil sie Jüdin war, und
in der U-Bahn wurde sie als ,,Frau in Männerkleidung und als Spionin― festgenommen. Ihre eigenen Geistesgegenwart und die eines
Wachmanns der Bahnhofswache ließen sie davonkommen. Dann
wurde ihre Wohnung nach ,,Bomben― durchsucht: Am 26. Mai 1933
verließ sie Deutschland in Richtung Paris. Viele Jahre lang hat sie die
Erinnerung an ihre Zeit in Deutschland, an deutsche Kultur und die
deutsche Sprache abgelehnt und gemieden. Wie viele jüdische deutsche Emigranten hat sie dem Schock der Ausgrenzung, Vertreibung,
schließlich der Vernichtung der in Deutschland zurückgebliebenen
Juden nie verwunden. Ihr deutscher Paß galt noch fünf Jahre, danach
hat sie den Paß einer Staatenlosen genommen, schließlich wurde sie
britische Staatsbürgerin. Sie hat sich seitdem immer als ,,internationale
Jüdin mit britischem Paß― bezeichnet, Erst in den siebziger Jahren, als
Berliner Feministinnen auf sie zugingen, hat sie sich dazu überwunden, auf deren Einladung hin nach über vierzig Jahren wieder in das
einst von ihr geliebte Berlin zu kommen. Sie fand einen warmen, sie
überwältigenden Empfang, und sie kam zweimal wieder, hielt Vorträge und Lesungen und freute sich an den Diskussionen. Ihre Autobiografie endet mit den Sätzen: ―Berlin war wieder ein Ort auf meiner
emotionalen Landkarte geworden. Es hatte mir ein neues Leben gegeben.― Auch deshalb war ich froh, als ich hörte, daß Ihr Volkshochschulkolleg sich den Namen von Charlotte Wolff geben will, daß also
ihr Name in Berlin präsent bleiben, daß man nach ihr und ihrem Leben und Werk weiter fragen wird. Ich bin sicher, dank der Berlinerinnen, die sie hergeholt haben und enge Freundinnen von ihr wurden,
könnte sie dieses Angebot annehmen, es würde sie wohl freuen. Sie
war so empfänglich für Liebe und Verständnis.
Die Briefe, die sie mir schrieb, zeugen von dieser Suche nach
Seite 86
gleichgestimmten Seelen, und wenn sie glaubte, einem Menschen begegnet zu sein, der ihr nahe war, hielt sie sich nicht zurück, sie kam
einem offen entgegen, sogar begeistert, konnte rückhaltlos loben, mir
zum Beispiel ein großes Geschenk machen mit der Bemerkung, daß
ich für sie ,,die deutsche Sprache neu ins Leben gebracht― habe.
,,Sehen Sie,“ schreibt sie, ,,als ich ins ,Exil„ (das mir ja großartig bekam) ging, war die deutsche Sprache mir nicht nur verloren sondern
ein Greuel. Die Nazis hatten sie so verunglimpft beschmutzt entseelt
-, daß ich an eine Resurrektion gar nicht glauben konnte.― Nach einem Satz über meine Sprache schreibt sie dann, ich zitiere das, weil
es so kennzeichnend für sie ist: ,,Aber ich will nichts weiter sagen,
weil ich es aus ,Scheuheit‗ nicht mag. Auch glaube ich, daß Sie (und
ich auch) ,siegen‗ wie ,lobpreisen‗ demonstrativ, ungesund, absolut
tödlich finden.―
Charlotte Wolff, hat sich, zuerst in Frankreich, dann in England ihr Brot durch wissenschaftliche Arbeit verdient - zuerst, indem
sie die Hand studierte und herausfand, welche Zusammenhänge es
zwischen Größe, Form, Gestalt unserer Hände, den Handlinien auch,
und den Charakteren der Menschen, ihren Anlagen, ihren Krankheiten gibt und ihre Kenntnisse - nicht unbedingt zu ihrem Vergnügen an wohlhabende Leute weitergab, denen sie „aus der Hand las―. Sie
bemühte sich um eine streng wissenschaftliche Vorgehensweise, aber
natürlich konnte sie auf ihrem Forschungsgebiet nichts machen ohne
Intuition: Sie war unglaublich aufnahmebereit für alle Schwingungen
zwischen Menschen, die kein Apparat messen kann und sie war wie
ein Medium für Vorahnungen, für die oft wunderbaren Zusammenhänge, die uns ,,passieren― und für die wir meistens nicht wahrnehmen, weil wir zu abgestumpft sind. Sie aber lebte in einem feinen Geflecht solch wunderbarer Zusammenhänge, was wir ,,Zufall― nennen,
war für sie eine erstaunliche Fügung, die sie nicht geringschätzen durfte, ihre Briefe gaben mir Beispiele dafür, zum Beispiel, wenn sie in der
gleichen Zeit, in der wir in nähere Beziehung zueinander kamen, eine
Freundin der Ingeborg Bachmann kennenlernte, die ihr wiederum die
Bücher der Bachmann gab, in denen sie nun das Gedicht fand, das sie
gerade in meinen ,,Frankfurter Vorlesungen―. „O – das ging in den
Solar plexus―, schreibt sie. „Ja - diese Zusammentreffen - allherum!
Wir wissen nicht, Gott sei Dank, wie - aber es ist ein Trost, daß es so
vor sich geht.― Und sie war sich bewußt, bei all ihrer Bescheidenheit,
daß sie in einer inneren Verbindung mit solchen Geheimnissen stand.
Sie schickte mir Ihr Buch über die ,,menschliche Hand― in der engli-
Seite 87
schen Fassung genau in dem Augenblick, als das deutsche Exemplar,
das ich mir beschafft hatte, in einem Bauernhaus in Mecklenburg mit
verbrannte. Auch dies schien ihr eine Fügung zu sein und veranlaßte
sie, da ich einen solchen Brand vorher in einem Buch beschrieben
hatte, zu der Bemerkung über meine ,,Vor-ahnung―: ,,Fürchten wir
nicht, wie ancient people, die dauernde Drohung, daß uns, was wir
haben, von den Göttern weggenommen wird - falls wir sie nicht dauernd ,versöhnen‗? Und sogar dann können sie uns immer berauben Aberglaube? Ich glaube an Aberglauben...― In welchem Sinn, das
schreibt sie in ihrer Autobiografie: ,,Einige Menschen verstehen sich
darauf, das Ohr am Boden zu halten und festzustellen, ob sich etwas
Gutes oder Schlechtes nähert. Wir nennen sie intuitiv oder vorausschauend. Aberglaube ist eine Form außersinnlicher Wahrnehmung,
und es ist ein Fehler, ihn als Überbleibsel primitiver Religionen zu
verspotten. Künstler und Schriftsteller sind prädestinierte Beobachter
des Ungewöhnlichen und Unheimlichen, es lohnt sich, ihre ,Visionen‗
und ihren Aberglauben ernst zunehmen. Tatsächlich können sie sich
als die besseren Kenner der Geschichte herausstellen als professionelle Historiker―. Klingt das heute, da wir umstellt sind von angeblichen ,,Fakten―, nicht wie eine Stimme aus einer anderen Welt?
Der Brief, aus dem ich zitierte, ist vom Februar 1984, offenbar
hatte ich ihr vorher über meine Zukunftsängste geschrieben, sie antwortet, daß sie sich vielleicht durch das Anschwellen der Friedensbewegung in England habe täuschen lassen und durch ,,die Millionen in
Europa, die protestieren― (gegen das Aufstellen der Raketen), und
fährt fort: ,,Da ist aber etwas, was mir schon oft durch den Kopf ging:
Es muß gar nicht Krieg sein - daran glaube ich nicht. ... Nein, meine
apprehension ist absolut in der technology
per se. Wenn die
Microchips und giftigen Desinfektionsmittel Menschen de-vitalisieren
(leblos machen durch falschen Comfort), vergiftet durch Nährstoffe Boden und Seele wird dann entmenscht. D a s sind meine Schrecken.
Alles was man Zukunft nennt ist wie Roulette. Man muß (man kann ja
nicht anders) wagen zu spielen. - Vielleicht werden die Zukünftigen
Spielregeln kennenlernen, die die abtötenden Gefahren wiederum töten, und dann doch noch das Lamm mit dem Löwen im Zusammenleben erstreben beinahe vielleicht dem nahekommen. Ist es Utopie
natürlich, aber eine Möglichkeit, die man nicht durch Schrecken der
Gegenwart und Mißtrauen der lebenden, jetzigen Erwachsenen abtun
kann. Die Jugend zeigt mehr Instinkt und absoluten Daseinswillen,
glaube ich.―
Seite 88
Und, ich kann es nicht lassen, Ihnen noch etwas vorzulesen,
was in dem Brief steht - die Briefe, übrigens, sind in einer ausschweifenden, schwer lesbaren Altersschrift geschrieben und, wie Sie
bemerkt haben, mit Brocken aus dem Englischen und englischen
Satzbildungen durchsetzt - etwas vorlesen also, was sie mit der Behauptung ,,Fortschritt ist Fortgehen― beginnt: ,,Es heißt nicht, Menschen, die man liebt oder zu denen man attachiert ist, verlassen das
hat nur mit uns selbst zu tun. Eine neue, nicht gesehene Facette in
uns nimmt eine Beleuchtung an, die uns im Fortschritt zufällt, und
dann sind wir „weiter― , und wenn auch dieses Weiter unmeßbar ist
wir sind von dem, was wir bisher von uns wußten, (ich meine ich,
denn ich verallgemeinere aus meiner subjektiven Erfahrung) eine neue
Einsamkeit. Die ist auch ein Sprungbrett.―
Danach wird es niemand mehr verwundern, daß Charlotte
Wolff sich eine Wissenschaft ohne Menschenliebe und ohne Subjektivität nicht vorstellen kann, am wenigsten die Medizin oder die
Psychologie, ihre Arbeitsgebiete. Ich denke, nicht nur in den Gegenständen, die sie bearbeitete eben die Bedeutung der Hand, oder Homosexualität, oder Bisexualität , auch in der Art und Weise, wie sie
sich ihnen näherte sensibel, immer eingedenk der Tatsache, daß sie es
mit Menschen zu tun hatte, die ihr vertrauten, die ihr ihre Hände
überließen oder ihr in langen Interviews ihre Lebensgeschichte, einschließlich die Geschichte ihrer sexuellen Orientierung erzählten - in
all dem zeigt sie sich für mich als eine Wissenschaftlerin eines modernen Typs, die nicht darauf aus ist, den Gegenstand ihrer Untersuchung zu zerstückeln, um ihn so leichter klassifizieren zu können.
Was ich meine, mag ihr Satz illustrieren, ,,daß wissenschaftliche Entdeckungen mehr mit surrealistischem Denken als mit Logik zu tun
haben―. „Was ich ersehnte, „schreibt sie an anderer Stelle, war eine
Einheit von Medizin, Wissenschaft und Kunst.― Und als „die
schlimmste Sünde― des ärztlichen „Berufsstandes― sieht sie „die mangelnde Anteilnahme an den Patienten, die Kälte des Herzens―. Ich
versage mir hierzu jeden aktuellen gesundheitspolitischen Kommentar.
Als sie lesbische Frauen suchte, mit denen sie ihre Interviews
machen könnte, bemerkte eine Zeitung: Dr. Wolff wants people, not
patients. Charlotte Wolff haßte den Ausdruck „Patient―, sie sah in ihren „Patienten― und „Patientinnen― gleichberechtigte Partner und
Partnerinnen, denen sie half, zu sich selbst zu finden und die ihr eine
Fülle von Einsichten in das Wesen von Menschen vermittelten. Ihre
Seite 89
Beschreibung von Personen zu lesen - gleichgültig, ob es sich um Verwandte, Freunde, Freundinnen, Klienten handeln mochte - ist ein Genuß und zugleich eine Schulung der eigenen Beobachtungsgabe: Aus
körperlichen Ausformungen, aber auch aus der kleinsten Geste zog
sie weitreichende und, wie mir scheint, meistens zutreffende Schlüsse.
Selbstverständlich bin ich nicht kompetent, Charlotte Wolffs Untersuchungsergebnisse zu beurteilen, aber ich glaube sagen zu können, daß
sie sich durch ein einzigartiges Zusammentreffen von in sich widersprüchlichen Anlagen, heterogenen Interessen, einer Widerstand provozierenden sozialen Herkunft, die ihr Judentum einschließt, von persönlichem Schicksal und dem Hineingerissenwerden in die barbarischste Periode der deutschen Geschichte zu einem Menschen entwickelte, der aus häufig schwierigen, manchmal verzweifelten Umständen wie soll ich das nennen Unverwechselbares, Wertvolles zutage
förderte. Ein Mensch, der oft innerlich zerrissen war darüber sprechen auch ihre Briefe - und intensiv nach anderen Menschen suchte,
die diese Zerrissenheit sahen und verstanden, der aber zugleich die
widerstrebenden Elemente seiner Persönlichkeit zu binden wußte
eine schwere, andauernde Arbeit an sich selbst - und anderen, ich
glaube: vielen anderen Hilfe und Halt geben konnte.
Denn als Charlotte Wolff auf der Flucht vor den Nazis nach
Paris kam, hatte sie, wie so viele deutsche Emigranten, nichts, war sie
ein Niemand, ein Mensch ohne Schutz, hautlos allen Widrigkeiten des
Emigrantendaseins ausgesetzt. Aber sie hatte das Talent, Freunde, vor
allem: Freundinnen zu finden, die ihr die ersten Schritte erleichterten,
den Boden ebneten. Wie schon in Berlin, ist die Liste berühmter Namen, die ihre zu Freunden oder jedenfalls zu guten Bekannten wurden, lang, und so wird es auch in London sein. Ich stelle mir vor, dass
alle diese Menschen, unter ihnen viele Künstler, Wissenschaftler, fasziniert waren von der Persönlichkeit, dem Geist, den Ideen dieser
Frau; natürlich waren sie äußerst alarmiert durch die Möglichkeit, etwas mehr über sich, ihren Charakter, ihren Anlagen zu erfahren, indem sie ihr ihre Hände überließen: Das war die erste ―Praxis― von
Charlotte Wolff im Exil, auf die sie ihren Lebensunterhalt gründete.
Doch war dies eine „Rettung― mit für sie widersprüchlichen Folgen:
„Meine Rolle bei diesen Handanalysen stimmte nicht mit meinen professionellen Werten überein. Und das führte dazu, daß ich in einen
Zustand depressiver Angst geriet.― Wie oft wird sie, in der langen Zeit
des Exils - mehr als fünfzig Jahre! - noch diesen Zustand an sich erfahren; ich glaube, selten ist so rückhaltlos über die seelischen Folgen
Seite 90
der Entwurzelung geschrieben worden wie durch Charlotte Wolff,
die, keiner Partei, keiner Gruppierung, keiner Verbindung angehörend, als Ärztin auch in England lange nicht zugelassen, im äußersten
Sinn des Wortes ,,ausgesetzt― war und, eigentlich bis zum Schluß, am
Rand der jeweiligen Gesellschaft lebte, da, wo jederzeit der emotionale und auch der materielle Absturz möglich ist. Sie zahlt die andauernde Anspannung und Überanstrengung mit psychischen Störungen,
mit Krankheit. Es erschöpfte sie, in ihrer Arbeit immer „die Tür ihres
Unbewußten― öffnen zu müssen, um „zum Unbewußten der anderen
Menschen― vorzudringen. Sie sehnte sich nach Aufmerksamkeit und
Fürsorge, Unterstützung und Liebe eines anderen Menschen - „nach
einer Mutter in vielen Gestalten, mit vielen Gesichtern.― Sie hat in
England nie eine wirkliche Heimat gefunden, nie das Gefühl der
Fremdheit, des Ausgegrenztseins verloren, aber sie fand einzelne Personen, Frauen, mit denen sie zusammenlebte oder die ihr ihr eigenes
Heim und ihre Zuwendung anboten, die wenigstens teilweise, wenigstens auf Zeit den Rückhalt und die Sicherheit gaben, die für sie lebenswichtig waren. In den zwanziger Jahren hat eine alte russische
Frau in Berlin einmal zu ihr gesagt: „Das schlimmste Schicksal überhaupt ist, im Exil zu leben.― Charlotte Wolff hat bis auf den Grund
die Erfahrung durchlebt, „eine Jüdin zu sein, die sich nirgendwo absolut sicher fühlen kann, nicht einmal in Israel―.
Die Versuchung ist groß, immer weiter aus Charlotte Wolffs
Arbeiten zu zitieren, aber da es sowieso unmöglich ist, die Fülle der
Themen und Einsichten, die sie ausbreitet, auch nur anzureißen, lasse
ich es bei dem wenigen bewenden, in der Hoffnung, es möge mir gelungen sein, auch denjenigen, die bisher nichts von ihr kannten als
ihren Namen, deutlich zu machen, welchen Gewinn sie daraus ziehen
könnten, wenn sie sich mit dem Leben, dem Gedankengut dieser Frau
auseinandersetzen würden. Denn, nicht wahr, nicht ihretwegen bekommt dieses Volkshochschulkolleg ihren Namen: Charlotte Wolff
ist tot und braucht keine Ehrung mehr. Wir brauchen sie, und ihretwegen, unseretwegen hat die Gruppe von Lehrkräften, die auf sie
stieß und sich von Charlotte Wolff gefangennehmen ließ, diese Namensgebung durchgesetzt. Dazu möchte ich Sie beglückwünschen.
Gestatten Sie mir noch ein Postskriptum: Charlottes Freundin
schrieb mir 1986, daß sie, Charlotte, am 12. September in ihrer Wohnung an einer Herztrombose gestorben sei. Dies war der Tag, an dem
ich anfing, die Absätze über sie in meinem Buch „Störfall― zu schreiben, durch die wiederum Sie darauf aufmerksam wurden, daß ich
Seite 91
Charlotte Wolff kannte. So schließt sich ein Kreis. Wie hätte Charlotte, kaum verwundert, diese „Zufälle― genossen!
Veröffentlicht in: Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna Seeghers-Gesellschaft
Berlin und Mainz e.V., Bd. 6, Aufbau-Verlag, Berlin 1997
Seite 92
„Charlotte Wolff – eine faszinierende, vielschichtige,
menschenliebende Frau“
Sendung im Sender Freies Berlin, 5. März 1997
Charlotte Wolff, 1897 in West-Preußen geboren, 1986 gestorben in
London – wie sie selber sich in ihren späteren Lebensjahrzehnten
nannte – als eine internationale Jüdin mit britischem Paß.
Fast niemand bei uns erinnert sich an diese außergewöhnliche
Frau, die vor und neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit als unorthodoxe Medizinerin und Psychologin Gedichte schrieb, Prosa, Baudelaire-Übersetzungen, ein großes Porträt des Sexualforschers Magnus Hirschfeld, einen Roman und mehr. Daß sie aus unsere Erinnerung fast gelöscht wurde, liegt daran, daß sie als Jüdin und Lesbe
gleich 1933 aus Deutschland emigrieren mußte.
Heute wird mit einer Feierstunde eine Ausstellung eröffnet,
Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit, Erinnerungen an Charlotte Wolff. Der Ort der Ausstellung ist das ehemalige Charlottenburger Volkshochschulkolleg, ein Institut des Zweiten Bildungsweges,
das ab sofort Charlotte-Wolff-Kolleg heißt. Ein Beitrag von Gundel
Köpcke über die Gründe dieser Namensgebung:
Kollegiatin: Man hat was, womit man sich identifizieren kann, also einfach man kann sagen, meine Schule ist jetzt die Charlotte-Wolff
-Schule, nicht mehr das VHS-Kolleg, und ich finde, die Frau hat auch
Vorbildcharakter.
Gundel Köpcke: Vorbild kann Charlotte Wolff vor allem wegen
ihrer Zivilcourage und ihres beispielhaften Engagements für andere
Menschen sein. Berlin war sie im Laufe ihres Lebens mehrfach verbunden. Sie studierte hier Medizin und Philosophie, arbeitete in der
Weimarer Republik als Ärztin am Rudolph-Virchow-Krankenhaus
und war stellvertretende Direktorin der ersten Klinik für Familienplanung. In Berlin begann sie ihre Studien zur Chirologie, der Handdeutung, eine unkonventionelle Form der psychologischen Diagnostik.
―Faszinierend‖ ist ein häufig gebrauchtes Wort im Zusammenhang
mit Charlotte Wolff.
Eleanor Katzschner, Dozentin, beschreibt, warum sie sich für
Charlotte Wolff als Namenspatronin des Kollegs eingesetzt hat.
Eleanor Katzschner: Ich persönlich lernte sie schon 1980 kennen
durch die englische Autobiographie Hindsight, (dt. Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit) und fand ihr Leben ungewöhnlich. Als
Seite 93
das dann hier so thematisiert wurde – was für einen Namen wollen
wir? – war das klar, eigentlich sollte es der einer Frau sein, wegen des
Ausgleichs in der Männerwelt! Und dann gehörte ich zu denjenigen
die diesen Namen vorgeschlagen haben, einfach weil sie eine faszinierende, vielschichtige, menschenliebende Frau war; bestimmt nicht einfach, nicht geschmeidig. Unsere Schüler kannten den Namen gar
nicht, d.h. die meisten kennen sie gar nicht, und deswegen war das ein
Stück wie Schatzsuche.
Gundel Köpcke: Als Jüdin konnte Charlotte Wolff ihren Beruf als
Ärztin bald nicht mehr ausüben. Schließlich wurde sie als Kommunistin denunziert, als Spionin festgenommen und als Frau in Männerkleidung von der Gestapo inhaftiert. Im Mai 1933 entschloß sie sich,
nach Frankreich zu emigrieren. In einem Rundfunkinterview, sechs
Jahre vor ihrem Tod aufgenommen, erzählt sie von dieser Zeit.
Charlotte Wolff: Das war eine Tragödie, die ich für viele Jahre gar
nicht überwinden konnte. Ich fühlte mich so mit der deutschen Kultur verbunden, ich schrieb in der deutschen Sprache, natürlich, das
war meine Muttersprache. Ich hatte deutsche Freundinnen, es war mir
unmöglich zu verstehen, daß plötzlich die Juden was anderes waren,
daß Juden vergast wurden. Es war mir ein solcher Schock, daß ich
plötzlich meine Stellung verlor und bedroht war sogar mein Leben zu
verlieren. Im Augenblick als mir das passierte, wurde ich mir vollkommen klar wer ich bin; daß ich eine Jüdin bin und daß ich raus mußte.
Gundel Köpcke: Um sich in Paris ihren Lebensunterhalt zu verdienen, las sie vor allem den amüsierten Angehörigen der Aristokratie
aus der Hand und litt sehr darunter.
Eleanor Katzschner: Sie selber legte Wert darauf, daß sie diese
Studien wissenschaftlich betrieb: Sie wollte nicht eine Zauberin sein,
die die Zukunft liest wie eine Zigeunerin. Sie konnte an der
Handform, an den Linien und der Nagelform Krankheiten erkennen.
Gundel Köpcke: Erst nach ihrer Emigration nach London 1936
konnte sie ihre Untersuchungen über die menschliche Hand fortführen. Sie arbeitete und forschte in Londoner Hospitälern und studierte
im Londoner Zoo die Hände von Menschenaffen. Charlotte Wolff
blieb in London, wurde britische Staatsbürgerin. In den Sechzigern
befaßte sie sich vor allem mit der weiblichen Homosexualität und der
Psychologie der lesbischen Liebe, und sie schrieb die erste umfassende Untersuchung über Bisexualität in der sie unter anderem forderte,
der Mann muß sich ändern und werden was er von Natur aus ist, ein
bisexueller Mensch. Ihre grenzüberschreitenden Thesen fanden je-
Seite 94
doch kaum Anerkennung. Als die Bezirksverordnetenversammlung
Charlottenburg über die Namensgebung für das Kolleg abstimmte,
enthielt sich die CDU-Fraktion der Stimme. Ein Streit um Zuständigkeit zwischen Senat und Bezirk verzögerte die Namensgebung. Inzwischen ist der beigelegt. Kann die Tatsache, daß Charlotte Wolff lesbisch war, hier eine Rolle gespielt haben?
Eleanor Katzschner: Die Frage löst bei mir große Irritation aus.
Denn, wo sind wir denn? Wir sind am Ende des 20. Jahrhunderts:
Homosexualität ist auf der ganzen Welt anerkannt/akzeptiert! Aber
plötzlich soll es nun bei den Frauen etwas ganz Neues und – ich sag
das mal so direkt – Perverses sein! Ich möchte es mir gar nicht vorstellen, daß ein aufgeklärter Politiker heute an sexuelle Neigungen
denkt. Wenn ein Mensch vor einem steht, eine Autorin, eine engagierte Sozialarbeiterin, dann finde ich sexuelle Neigungen ―beside the
point‖. Sie spielen überhaupt keine Rolle!
Gundel Köpcke: Charlotte Wolff ist immer offensiv mit ihrem lesbischen Leben umgegangen. Berlin hatte erst in den Siebzigern für sie
eine Bedeutung – wurde – wie sie schreibt, wieder ―ein Ort auf meiner emotionalen Landkarte.‖ Sie veranstaltete Lesungen, sprach vor
500 Frauen bei der Sommeruniversität 1979 über Feminismus und
Frauenbewegungen – nicht ohne über Veränderungen der neuen
Frauengeneration irritiert zu sein. Im Treppenhaus der Volkshochschule ist über drei Stockwerke eine Ausstellung über die Stationen ihres Lebens zu sehen: Berlin, Paris, London und noch einmal Berlin.
Fotos, Bücher, Briefe, Kollagen und Zitate wurden hier zusammengetragen. Sie dokumentieren auch die Menschen die sie kannte, z.B. Virginia Woolf und Christ Wolf, aber auch Walter Benjamin, Man Ray
und Dali. Was bleibt, ist der starke Eindruck von einer Frau die ein
unglaublich intensives Interesse an Menschen hatte und die auch als
Analytikerin von ihren Patienten lernte.
Charlotte Wolff: Alles, was sie mir erzählen, habe ich selber empfunden, denn wir sind ja alle alles, nicht? – wenn wir nur ein bißchen
aufpassen, aber es ist ja auch eine große Erweiterung. Jeder Mensch
ist eine Entdeckung. Das ist wie ein neuer Planet!
Charlotte Wolff! Die Feierstunde heute um 14 Uhr findet in der
Volkshochschule in der Pestalozzistrasse 40–42 statt, und da wird
dann z.B. Christa Wolf lesen aus ihrem Briefwechsel mit Charlotte
Wolff und auch aus dem Roman von Charlotte Wolff.
Anna Barbara Walti
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“Ein Leben aus erster Hand”
Courage Heft 1/1982, Berlin
Charlotte Wolff, die 1933 aus Deutschland flüchtete und seit
1936 als Psychiaterin und Schriftstellerin in London lebt,
schreibt hier - zum ersten Mal nach langen Jahren - wieder einen Text in deutscher Sprache. In diesem extra für die Courage
verfaßten Essay stellt sie noch einmal die Grundlagen ihrer Arbeit über Bisexualität und die sich daran anschließenden Gedanken zur Frauenbewegung zusammen.
Sexualität - für sich genommen - hat einen sehr beschränkten
Radius und muß, meiner Meinung nach, als prostituierende und anonyme Handlung verstanden werden. Sexualität ohne Erotik ist eine
onanistische Reflexaktivität, die Gefühlsbeziehungen ausschließt. Der
masturbatorische Befriedigungsdrang ist selbstbezüglich und macht
den Partner zum ,,Ding‖. Diese Art von Sexualität spielt sich zwischen seelisch maskierten Personen ab, die sich nicht preisgeben wollen oder können. Ihr fehlen der erotische Elan und die emotionale
Kraft, ohne die stereotypes Verhalten unvermeidlich ist. Obwohl
Masturbation lustvoll, sogar hygienisch sein kann, verdirbt ein deprimierender Beigeschmack allzu oft das Vergnügen.
Ich sage nichts Neues, wenn ich erwähne, daß viele intime Beziehungen, ehelich oder andersartig, sich mit Masturbation à deux begnügen. Solche Beziehungen enden in einer stereotypen Sackgasse
und sind in der Falle von Langeweile und Übersättigung gefangen. Es
ist bekannt, daß weibliche Prostitution oft mit Homosexualität zusammengeht. Diese Frauen sehen ihr Gewerbe als ein Geschäft an, das
ihnen das Leben in besseren Umständen als bei anderer Arbeit erlaubt, aber ohne Liebe für eine andere Frau unerträglich wäre. In ihr
finden sie die sinnliche Befriedigung und Intimität, die um so mehr
ersehnt werden, je mehr der ,,nackte‖ Mann sie anekelt.
Eine lesbische Prostituierte, die ich in den Zwanziger Jahren
kannte, schilderte ihren Beruf, den sie haßte, folgendermaßen: ,,Ich
hab‗s satt, immer dieselbe stumpfsinnige Bewegung zu ertragen. Ich
kann‗s nicht länger aushalten‖. Sie war ,as good as her word‗: gab ihren Beruf auf und wurde Akrobatin in einem russischen Zirkus.
Ein vielsagendes Beispiel anonymer Sexualität sind die Vergnügungen homosexueller Männer, die sie in öffentlichen Toiletten
mit abgewandtem Gesicht genießen und an denen Heterosexuelle mit
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Eifer teilnehmen. Frauen lassen sich in diskreterer Weise auf sexuelle
Anonymität in ,one night stands‗ ein. Solche transitorischen Erlebnisse haben wohl ebenso viel Anziehung durch ihren sensationellen Charakter wie ,das Ding an sich‗ - ähnlich verbotenen Abenteuern, denen
Kinder nachjagen. Gefahr und Genuß ,verbotener Frucht‗ können
diese Gelüste eine Zeitlang aufpeitschen, doch sie können nicht der
Falle entgehen, die innere Leere und Übersättigung mit sich bringen.
Verwirrung der Begriffe ist nichts Neues in der Psychologie.
Seit über hundert Jahren sind die Konzepte von Sexualität und Erotik
vermengt oder werden synonym gebraucht. Die Autoren, die sich damit in ihren Werken beschäftigt haben, betrachten Erotik als unteilbar
von Sexualität. Ein markantes Beispiel ist Freud, der die erogenen Zonen als integrierten Teil der Sexualität ansah. Andere Bahnbrecher wie
Magnus Hirschfeld und Havelock Ellis begingen denselben Fehler.
Und nichts hat sich seitdem geändert: Sexologen und Psychologen der
heutigen Generation verfallen demselben Irrtum.
Freud hat die erogenen Zonen klar beschrieben, aber unklar
interpretiert, was sein Denken über infantile Sexualität in falsche Richtungen lenkte. Er bezeichnete die Genitalien als erogene Zonen par
excellence, ohne zu berücksichtigen, daß diese Funktion einer späteren Entwicklungsstufe angehört. Unser sexuelles Leben fängt mit
Masturbation, d.h. Autosexualität und nicht Autoerotik an. Die ersten
genitalen Lustgefühle erwecken den ersten Glimmer des IchBewußtseins und sind absolut selbstbezüglich. Sie haben nichts mit
Libido für das Elternpaar zu tun. Die unklare Abgrenzung von Sexualität und Erotik ist wahrscheinlich für den Unsinn des Ödipus - Komplexes verantwortlich. Die ―Liebe‖ des Kindes zur Mutter ist nichts
anderes als ein Ausdruck des Wohlbehagens, gut aufgehoben und vor
allem, beschützt zu sein. Sie ist Bollwerk gegen primäre Angst.
Ich bin überzeugt, daß wir nicht an Erbsünde, sondern an
Erbangst leiden. Der unorthodoxe Psychoanalytiker R. Fairbairn ist
zu einer ähnlichen Folgerung gekommen. Nach ihm sind die ersten ,,Liebesbeziehungen‖ ein primärer Wunsch nach Schutz. Ein Irrtum führt zum anderen. Die psychoanalytischen Ideen über Homound Heterosexualität sind die Konsequenz der mißverstandenen infantilen Sexualität. Homosexualität wird als puerile Entwicklungsstufe
angesehen, die normalerweise von Heterosexualität abgelöst wird.
Diese allein garantiere die Reife der gesamten Persönlichkeit.
Abgesehen von der Absurdität dieser Auffassung, sind die
Werturteile, die in sie eingegangen sind, unvereinbar mit ärztlicher
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Unparteilichkeit. Sie passen in das patriarchalische System, von dem
Freud sich nicht losreißen konnte.
Die Entdeckung sexueller Lust durch Masturbation und die
wiederholte Erregung der erogenen Zonen durch mütterliche
Liebkosungen werden zur Fibel der Liebe und zum Grundriß des
sexuell-erotischen Selbstbildnisses, das sich langsam mit der
Entwicklung der gesamten Persönlichkeit ausprägt. Sie ist
entscheidend für die Geschlechtsidentität, die unabhängig vom
anatomischen Geschlecht sein kann, wofür die Transsexuellen das
markanteste Beispiel sind.
Bevorzugte erogene Zonen sind außer den Geschlechtsorganen auch Mund und Anus, deren unterschiedliche Bedeutung für
Frauen und Männer bekannt ist. Die erotische Bedeutung des Mundes
für die Frau kann nicht überschätzt werden, ebensowenig die sexuelle
des Anus für den homosexuellen Mann. Die Genitalien der Frau
verdienen hier besondere Erwähnung. Sie sind auf bisexueller Anlage
aufgebaut und besitzen in der Vagina und Klitoris zwei verschiedene
Erregungszonen. Die Klitoris kann mit vaginalen Reaktionen
zusammenfallen, funktioniert aber auch separat. Sie ist meiner Ansicht
nach kein verkümmertes männliches Organ, sondern ein Organ sui
generis, dessen scharfe und überaus sensitive Erregbarkeit nicht
kategorisierbar ist. Sie ist die erogene Zone par excellence der Frau
und hat kein Pendant beim Mann.
Corinne Hutt und ihre Mitarbeiter von der Universität Reading
stellten in ihren Untersuchungen über sekundäre Geschlechtscharaktere fest, daß der Mann geistig und kinetisch der Frau überlegen
sei. Die Autoren gingen mit einer vorgefaßten Meinung an ihre Arbeit
heran, indem sie die geläufigen Vorstellungen über maskuline und
feminine Eigenschaften fraglos akzeptierten. Corinne Hutt
veröffentlichte die Resultate in ihrem Buch ,,Males and Females‖. Sie
waren subjektiv gefärbt und voller Irrtümer. Ich habe die Argumente,
die ihre These beweisen sollten, in meinem Buch ,,Bi-sexualität‖
widerlegen können, abgesehen von zweien, über die kein Zweifel
bestehen kann. Sie beziehen sich auf die feinere Sensitivität der Haut
der Frau und auf ihren stärkeren Geruchssinn. Beide beeinflussen
erotische Beeindruckbarkeit und Ausdrucksfähigkeit.
Die differenziertere Ansprechbarkeit, die Frauen von Männern
entfernt, bringt sie näher zu anderen Frauen, was für ihre sexuelle
Orientierung von Bedeutung sein kann. Nach welcher Richtung diese
auch gehen mag, sie nährt sich von der belebenden Kraft der
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Emotion, ohne die weder Sexualität noch Erotik Tiefe und
Standhaftigkeit haben können. Emotion ist der Motor, der alles
bewegt; ohne sie würde das Leben selbst zum Stillstand kommen.
Menschliche Beziehungen werden durch sie allein belebt und erhalten.
Erotische Emotionen überfluten Körper und Seele und halten die
Phantasie in Bann. Ihre entscheidende Rolle in intimen Beziehungen
ist evident. Ich habe dies in meiner Autobiographie ,,Hindsight‖ folgendermaßen ausgedrückt: ,...emotional love alone saves sexual acts
from futility. Without it, the whole razzmatazz of physical acrobatics
is an empty shell‖ (Emotionale Zuwendung allein bewahrt sexuelle
Handlungen vor Sinnlosigkeit. Ohne sie ist das ganze Tamtam körperlicher Übungen eine leere Muschel).
Unser ganzes Leben, und besonders unser Liebesleben, spielt
sich hauptsächlich in der Phantasie ab. Erotische und sexuelle
Phantasien begleiten uns von der Kindheit bis zum Alter. Sie stehen,
bis zu einem gewissen Grad, unter dem Einfluß der Drüsen mit
innerer Sekretion. Man braucht nur an die prämenstruelle und die
Ovulationsperiode der Frau zu denken, um diesen Zusammenhang zu
verstehen. Sexuelle und erotische Erregbarkeit sind zu diesen Zeitpunkten gesteigert, mit Rückwirkung auf Träume und emotionales
Klima. Hormonale Schwankungen müssen intime Beziehungen in
Mitleidenschaft ziehen, sei es im positiven oder im negativen Sinne.
Endokrine Funktion reagiert aber auch auf äußere Einflüsse, wofür
das Ausbleiben der Menstruation durch Schock ein Beispiel ist. Ihre
durchgreifende Wirkung auf die Persönlichkeit ist aber beschränkt.
Diese Beschränkung kann so weit gehen, daß soziale Einflüsse sie in
den Hintergrund drängen oder sogar ausmerzen. Ein schlagender Beweis dafür ist, daß ärztliche Kunst und elterliche Erziehung Kinder
mit endokriner Abnormalität ,,normal‖ machen können, ohne ihnen
einen sichtbaren Schaden anzutun.
Sozialpsychologen halten die Bedeutung der Konstitution für
menschliches Verhalten für unwichtig. Behaviourismus und
Lerntheorie sind Alpha und Omega ihrer Theorie und Praxis. Eine
solche Einstellung erklärt den Menschen zum Spielball seiner
Umgebung. Ich habe keinen Zweifel, daß die Scheuklappen dieser
„Wissenschaft“ klare Sicht und tiefere Einsicht verhindern.
Soziologen stehen der Endokrinologie besonders feindlich gegenüber.
Ihre Abwendung von diesem Zweig der Medizin wurde in
Deutschland in den letzten Jahren stärker denn je. Auch
Wissenschaftler und Psychiater wurden von derselben Phobie
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ergriffen. Der Grund waren die Arbeiten von Dr. G. Dörner,
Professor für Endokrinologie an der Charité in der DDR. Dieser
interessante Wissenschaftler ist in seinen Anschauungen über die
Homosexualität im Mittelalter steckengeblieben. Das Schlimmste an
der Sache Dörner ist, daß er moderne intrauterine Technik benutzen
will (oder schon benutzt), um Homosexualität im Mutterleib zu kurieren. Kein Baby soll anders als ,,normal‖ geboren werden, wenn es
nach ihm geht. Tod der Homosexualität also, ist Dörners Motto, und
seine Ideale und Äußerungen haben leider einen Nazi-Unterton. Es ist
kein Wunder, daß er von allen, die sich direkt oder indirekt betroffen
fühlen, verfemt wird. Seine stumpfsinnige Psychologie sollte aber kein
Grund sein, die psychologische Bedeutung der Drüsen mit innerer
Sekretion einfach abzulehnen.
Soziologen sollten genügend Selbstbewußtsein haben, um zu
wissen, daß sie in jedem Fall die Trumpfkarte in der Hand haben, da
kein Zweifel an der überragenden Rolle der Gesellschaft für
menschliches Verhalten herrschen kann. Sie können sich sogar auf
einige interessante Vorgänger berufen. Einer von ihnen war Edwin
Bab, der 1903 als Kandidat der Medizin ,,Die gleichgeschlechtliche
Liebe‖ veröffentlichte. Obwohl ein Buch über männliche Homosexualität, sind darin Ideen ausgedrückt, die Bezug auf alle Menschen
haben.
Im Gegensatz zu Magnus Hirschfeld und Numa Praetorius
hält Bab die Art der Sexualität nicht für angeboren, sondern für
erlernt. Nach ihm ist Sexualität per se durch anatomische und physiologische Unterschiede bedingt und bezieht sich auf ,,fleischliche‖
Akte allein. Dagegen gäbe es keine Unterschiede sekundärer
Geschlechtscharaktere in Männern und Frauen. Sie seien psychisch
gleichartig. Menschen reagierten erotisch und sexuell auf bestimmte
Typen, unabhängig von deren anatomischem Geschlecht. Nur durch
Massensuggestion sei Heterosexualität so vorherrschend. Männliche
Heterosexualität ist für ihn eine Form der Minne und darin allen
anderen Arten von Liebesbeziehungen überlegen. Bab unterscheidet
sich in einem Punkt von den Soziologen der Gegenwart. Er glaubt an
einen endokrinen Faktor, der manche Menschen befähigt, der heterosexuellen Massensuggestion zu widerstehen. Er hat viel mit Georg
Groddek gemeinsam. Beide sind von unserer angeborenen
Bisexualität überzeugt und lehnen den Begriff Pseudohomosexualität
ab, da die homosexuelle Seite des Menschen früher oder später ans
Licht komme, weil sie zu seiner Natur gehöre.
Seite 101
Sonst geht er seinen eigenen Weg oder Abweg. Er gibt durch
den Untertitel seines Buches ,,Lieblingsminne‖ den Hinweis, wie er
männliche Homosexualität verstanden wissen will: nämlich nach
griechischem Muster. Er hat die Erotik eines Sokrates und Plato im
Sinne, eine Liebe, die Ursprung sophistischer Kultur ist (oder sein
soll). Obwohl seine allgemeinen Theorien über Sexualität und Erotik
verständlich sind, zeigt seine Überschätzung der männlichen
Homosexualität einen patriarchalischen Chauvinismus. Nach ihm ist
sie allein einer ,,Hochkultur‖ fähig. Bab begrüßt die Frauenbewegung
als willkommenes Gegenstück zur Mann-Männerliebe und versteht
Lesbianismus als natürliche Konsequenz einer weiblichen
Gesellschaft. Er mißbilligt die versklavte Stellung der Frau in der
kapitalistischen Welt, tut es aber mit einer gewissen Herablassung, wie
sie noch heute bei homosexuellen Männern üblich ist, den Kämpfern
für die Frauenbewegung inbegriffen.
Die Vorstellung von Bisexualität ist alter Herkunft, wurde aber
seit mehr als hundert Jahren von Psychiatern und Philosophen als
pathologisch angesehen und zumeist mit Homosexualität verwechselt.
Die psychoanalytische Schule erkennt Bisexualität als den Eckstein
der Psyche an, aber verlangt, daß sie im Unbewußten steckenbleibt,
um nicht die Reifung der sexuellen Entwicklung zu verhindern. Bab
und Groddek dagegen sehen Bi- und Homosexualität als natürliche
Lebensweise an. Numa Praetorius war ein Vorläufer derselben
Hypothese, gab aber wie Bab der Mann-Männerliebe den Vorrang vor
allen anderen ―Orientierungen‖.
Georg Groddek war ein hellsichtiger Außenseiter der
psychoanalytischen Schule und hatte einen weiteren Blick als alle
anderen genannten Autoren. Seine Bücher verraten eine umfassende
Sicht auf die menschliche Natur und ihre Deformation durch die
Gesellschaft sowie eine intuitive Einfühlung in den einzelnen.
Groddeks ,,Buch vom Es‖, das ich in englisch las, enthält eine besonders treffende Bemerkung über Bisexualität, die er als Wurzel
menschlicher Sexualität im weitesten Sinne verstand: ,,Man kann kühn
behaupten, und man tut es in der Tat, daß Menschen bis zur Pubertät
- d.h. in der Kindheit - bisexuell sind. Das ist aber nicht die Wahrheit.
Menschen sind ganz und gar bisexuell, in jedem Alter, und sie bleiben
es, auch wenn sie als Konzession an den moralischen Code oder die
gängige Mode einen Teil ihrer Bisexualität verdrängen. Sie verengen
dadurch den Radius ihrer Sexualität. Und wie jeder Mensch nicht
absolut heterosexuell ist, so ist er auch nie absolut homosexuell.―
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Groddek spricht mit authentischer Sprache von seinen
Einsichten und Erfahrungen, ohne je in das vorverdaute
Papageiengeschwätz einer ,Schule‗ zu fallen. Groddeks ,,Buch vom
Es‖ ist in Briefen an eine Freundin geschrieben, und ich zitiere noch
eine zweite Stelle aus dem 27. Brief (in meiner Übersetzung): ,,Ich
nahm ein Magazin in die Hand und blätterte darin .... Ich sah darin einen Artikel, in dem eine der angesehensten Frauen Deutschlands ihre
Ansichten über weibliche Homosexualität äußert. Sie nahm (1912)
eine absolut negative Stellung gegen den Vorschlag ein, weibliche
Homosexuelle zu bestrafen. Sie schrieb, daß ein solches Vorgehen die
Struktur der ganzen Gesellschaft fundamental erschüttern würde. Und
sie sagt weiter, daß in jedem Fall die Gefängnisse viele Tausende
Frauen zu beherbergen hätten, wenn ein solches Gesetz angenommen
würde‖.
Aber weder Bab noch Groddek haben die Begriffe Sexualität
und Erotik klar definieren können, ebensowenig haben sie die
Bedeutung biografischer Ereignisse, die maßgeblich für die psychosexuelle Orientierung sind, erkannt. Lebensereignisse hängen zu
einem nicht zu unterschätzenden Grade von Lebenserwartungen ab.
Massensuggestion, die zur Heterosexualität aufruft, gibt in den
meisten Fällen solchen Erwartungen die von der Gesellschaft
gewünschte Richtung. Wir sind genetisch programmiert, hormonal in
gewissem Grade, sozial in hohem Grade bestimmt. Es ist unmöglich,
aus der genetischen Falle herauszukommen, aber es gibt Ausschlüpfe
aus der sozialen, wenn man konstitutionell stark genug ist, den
gängigen Konventionen der Umgebung Widerstand zu leisten und ein
Leben aus erster Hand zu leben.
Die Bücher Groddeks sind international bekannt und seine
Erkenntnisse
weit verbreitet. Bisexualität wird, nach meiner
Erfahrung, von weiten Kreisen ohne weiteres verstanden. ―Wir
haben doch alle männliche und weibliche Eigenschaften―, war die
wiederholte Antwort auf meine Frage: ,,Halten Sie Bisexualität für
angeboren?‖ Und doch trommelt die Gesellschaft immer weiter zu
Heterosexualität und der sogenannten Maskulinität und Femininität.
Diese Trommelschläge, mit Recht Gehirnwäsche genannt, fangen
früh in der Kindheit an. Du bist ein Junge und du bist ein Mädchen,
wird den Kleinen mit suggestiver Bestimmtheit eingehämmert. Die
entsprechenden Eigenschaften, die sich die Gesellschaft ausgeklügelt
hat, gehen mit dieser Belehrung einher.
Darum ist es erstaunlich, daß Kinder das ABC natürlicher
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Beziehungen nicht vergessen haben und ihre Bi- und Homosexualität
in Gefühl, Erotik und sexuellen Handlungen ausleben. Und Kinder
lehren uns, wie falsch es ist, bestimmte Eigenschaften dem einen oder
dem anderen Geschlecht zuzuschreiben. Wie Groddek in dem
zitierten Buch erklärte, ist niemand in diesem Sinne Mann oder Frau.
Und Simone de Beauvoir macht diesen Punkt noch klarer,
wenn sie sagt: ,,Je ne suis pas femme, je la deviens‖ (Ich bin nicht
Frau, ich wurde dazu gemacht).
Kinder leben ihre homosexuelle Seite aus, ob sie von Eltern
und Lehrern dafür bestraft werden oder nicht. Wenn man überhaupt
von natürlicher Sexualität sprechen kann, dann ist Homosexualität
viel natürlicher als Heterosexualität. Der Lernprozeß ist bei ihr
weitgehend autodidaktisch und schon deshalb authentisch. Man kennt
die Stellen, die den anderen erregen, aus eigener Erfahrung. Hierin ist
Sexualität mit Erotik aufs engste verbunden; und das ist besonders so
beim weiblichen Geschlecht, wo die erogenen Zonen der Haut differenzierter und erregbarer sind als beim männlichen. Heterosexualität
ist darum viel schwerer zu erlernen als Homosexualität. Die Frage:
warum werden Menschen homosexuell? - sollte eher lauten: warum
werden sie heterosexuell?
Die große Plastizität sexueller Reaktionen erklärt ihre
Unpersönlichkeit und das weite Spektrum ihrer Erregbarkeit. Erotik
dagegen ist persönlich, und ihre individuelle Note gibt ihr einen einzigartigen Charakter in intimen Beziehungen aus erster Hand. Die
erotische Ansprechbarkeit der Frau ist aus physiologischen und
psychologischen Gründen größer als die des Mannes. Diese
Verschiedenheit spielt eine Rolle in hetero- und homosexuellen
Beziehungen. Sie prädestiniert zur Homosexualität, wenn biografische
Umstände diese Richtung begünstigen. Emotion und Erotik sind das
Vorrecht der Frau, nicht nur in intimen Beziehungen, sondern auch in
besonderen Begabungen. Ich bin überzeugt, daß die intuitiven
Fähigkeiten, viel stärker ausgeprägt als beim Mann, auf ihrer
emotionalen und erotischen Stärke beruhen. Es ist möglich, daß die
falschen ,,maskulinen‖ Ideale, die dem männlichen Geschlecht
oktroyiert sind, diese ―irrationalen‖ Fähigkeiten zum Verkümmern
verdammten, während das vernachlässigte weibliche Geschlecht der
Natur näher bleiben konnte. Männer sind eben noch mehr als Frauen
von der Gesellschaft deformiert worden.
Die falsche Einschätzung von Objektivität in Wissenschaft
und Kunst gehört zu den falschen Werten des Patriarchats, die es den
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Geschlechtern zuschrieb. Dieses ist glücklicherweise immer mehr
erkannt worden - und auch anerkannt von Wissenschaftlern sowie
von progressiven Männern und Frauen. Der subjektive Anteil in allen
schöpferischen Prozessen wird besonders klar von der jungen
amerikanischen Philosophin Susan Griffin betont. Sie plädierte in
einem Interview über ihr Buch ,,Frau und Natur‖ dafür, daß Logos
durch Eros ersetzt werden sollte. Und Wissenschaft könnte dadurch
nur gewinnen. Die Angst vor Subjektivität hat in der Tat die
Wissenschaft der Tiefe und Breite beraubt. Wissenschaft aus erster
Hand ist nach Griffin nur durch persönliche Anteilnahme möglich, da
man nur so das wahre Verständnis für eine Frage gewinnen könne.
Und Emotion ist unvermeidlich im schöpferischen Impuls jeder Art,
da kein Problem ohne sie voll verstanden werden könne. Ich stimme
vollkommen mit Susan Griffin überein.
Ich möchte zu Griffins Gedankengängen hinzufügen, daß wir
unsere kulturellen Errungenschaften jeder Art der bisexuellen
Veranlagung verdanken. Und unsere homosexuelle Seite spielt eine
besondere und überwiegende Rolle in Literatur und Kunst. Eros, der
die Phantasie beflügelt, belebt und lenkt, ist aber in erster Hinsicht der
Gott der Liebe, und durch ihn allein können intime Beziehungen
lebendig werden und bleiben. Erotik, richtig verstanden, gibt uns die
Wahl zwischen intimem Leben aus erster Hand oder Gefangenschaft
in genitalen Klischees und materialistischen Wertungen.
Denn dies ist der Unterschied zwischen genitaler Sexualität
und Erotik: Sexualität ohne erotischen Schwung ist auf Macht und
Eroberung eingestellt. Sie wird von Männern und Frauen zu
Nutzzwecken gebraucht, als Instrument, den anderen zu beherrschen
und ihn hörig zu machen. Der Triumph des Erfolges zählt mehr als
alles andere. Dies ist das Leitwort des Kapitalismus mit seinen
verheerenden Folgen.
Männer, mehr als Frauen von der Gesellschaft deformiert,
haben ihren Machttrieb seit Jahrtausenden in ihrer Sexualität und
Weltanschauung bewiesen. Die Stereotypie in ihren „Affären―, mit
dem Endziel der Eroberung der Frau, ist nicht nur aufs sexuelle
Gebiet beschränkt. Sie ergreift die Phantasie und ist der Boden für
sadistische Vorstellungen und Handlungen. Männlicher Sadismus ist
die Basis der Pornographie, der bildlichen Darstellung des
Frauenhasses, männlicher Rache und falscher Überlegenheit. Frauen
können in ein ähnliches Muster der Rache gegen den Mann verfallen,
besonders wenn sie von einem Machtbedürfnis besessen sind und der
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Mann sie erfolgreich daran hindern kann, ihr Ziel zu erreichen. Dies
ist die dunkle Seite der Heterosexualität und ihrer perversen
Auswüchse.
Man darf aber nicht vergessen, daß auch Homosexuelle in
dieselben Fallen sexueller Stereotypie und sadistischen Machttriebes
rennen können. Diese Perversionen, die Hand in Hand mit sexueller
Stereotypie und materialistischen Wertungen gehen, sind, wie zu
erwarten, öfter bei Männern als bei Frauen zu finden, was ich in
meiner Studie über Bisexualität experimentell aufzeigen konnte. Es
gab mir die Gelegenheit, verschiedene Verhaltensmuster in der hetero
- und homosexuellen Seite der Probanden zu untersuchen. Die
Resultate sind aufschlußreich und illustrieren einige der erwähnten
Punkte. Bisexuelle sind immer noch ,Ausgestoßene‗ der Gesellschaft,
und meine Probanden mißbilligten natürlich die bestehenden
Konventionen. Und doch hielt eine Anzahl von Männern an
typischen heterosexuellen Vorurteilen fest.
Es war bemerkenswert, daß ältere Männer geneigt waren, ihre
Ehefrauen als Haushälterin und Muttersurrogat anzusehen. Einige
hielten ihre Adresse geheim, so sehr fürchteten sie, daß ihre
Homosexualität ihren Frauen zu Ohren kommen könnte. Sie machten
nicht nur ein Geheimnis aus ihrer Homosexualität, sondern waren
empört, wenn ich sie fragte, ob die Gattinnen vielleicht lesbische
Neigungen hätten. Die jüngere Generation männlicher Probanden
stand dazu in vollem Gegensatz. Sie waren stolz auf ihre weibliche
Seite, die sie kultivierten. Sie teilten alles mit ihren Partnerinnen, von
Hausarbeit bis zu Erziehung der Kinder und geistigen Interessen.
Einige jüngere Männer gehörten einem Verein gegen Sexismus an.
Summa summarum: die Untersuchung zeigte die Frau als
starkes Geschlecht auf. Die Männer waren emotional an Frauen
gebunden, während die Frauen emotional und erotisch auf ihr eigenes
Geschlecht fixiert waren. Das Schwergewicht ihrer Beziehung zu
männlichen Partnern lag in Mütterlichkeit und gemeinsamer Sorge für
die Kinder. Dennoch waren die meisten Ehen der weiblichen
Probanden — im Gegensatz zu den männlichen — unglücklich. Nur
10 der 75 Frauen fanden ihre Ehe glücklich. Die sexuelle Verbindung
mit Männern wurde dagegen von der Mehrzahl als nicht unangenehm
und von der Minderzahl als zufriedenstellend empfunden. Aber ein
überwältigendes emotionales und erotisches Verlangen nach anderen
Frauen beherrschte das Gefühlsleben der ganzen weiblichen Gruppe.
Der emotionalen Abhängigkeit der Männer von den Frauen
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entsprach eine ebenso große emotionale Unabhängigkeit der Frauen
von den Männern. ,,Il faut chercher la mère‖, um diesen Gegensatz zu
verstehen (―man muß die Mutter suchen‖). Die allgemeine Höherbewertung des männlichen Geschlechts beeinflußt die überwiegende
Mehrzahl der Mütter zugunsten des männlichen Kindes. Und sie
überschütten es mit ihrer Liebe und Protektion, die sie in
Liebkosungen und Behandlung des Babys ausdrücken. So wird dem
Jungen der erste Platz im Leben der Mutter und im Leben überhaupt
zugesichert. Die emotionale Abhängigkeit des Mannes von der Frau
sowie seine Arroganz und sein Überlegenheitsgefühl sind dadurch
auch sichergestellt.
Die Beziehung der Mutter zu ihrer Baby-Tochter ist in den
überwiegenden Fällen von einem Gefühl der Enttäuschung getrübt.
Eine gewisse Unsicherheit in Handeln und Gefühlsäußerung der
Mutter geben der kleinen Tochter den Eindruck von Zurücksetzung
und mangelhaftem Wert. Sie merkt früher oder später, daß sie das
zweite Geschlecht ist. Sie verlangt die mütterliche Liebe ebenso stark
und absolut wie das männliche Kind und muß sich enttäuscht mit
dem zweiten Platz begnügen. Die Folgen davon sind Distanzierung
und Ressentiment einerseits und Drang zu Unabhängigkeit
andererseits, was sie zu Selbständigkeit prädisponiert. Die Sehnsucht
nach der ganzen Liebe der Mutter bleibt jedoch, und sie sucht sie in
anderen Frauen, falls sie sich nicht zum Vater und später anderen
Männern als Substitut zuwendet.
Es liegt auf der Hand, nach dem Unterschied zwischen
bisexuellen und lesbischen Frauen zu fragen. Viele Soziologen
glauben, daß der Unterschied nur darin besteht, daß eine lesbische
Frau die Ehe als Unterschlupf benutzt und sich für bisexuell erklärt,
ohne es zu sein. Dies widerspricht meiner Untersuchung. Bisexuelle
Frauen können sich in Männer verlieben, lesbische nicht, auch wenn
sie sich verheiraten. Aber beide sind erotisch und emotional an
Frauen gefesselt. In diesem Sinne liebten die bisexuellen Frauen
meiner Studie ihr eigenes Geschlecht nicht nur anders, sondern auch
besser als bisexuelle und heterosexuelle Männer.
Die weiblichen Probanden fühlten sich geistig und kreativ
mehr von Frauen als von Männern inspiriert und hielten Bisexualität
für wesentlich in kulturellen Errungenschaften. Besonders interessant
war die Abwesenheit von Schuldgefühlen über Homosexualität bei
den Frauen im Gegensatz zu den Männern. Man fühlt sich nicht
schuldig wegen Beziehungen, die man als absolut richtig empfindet.
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Meine experimentellen Studien sowie meine eigenen
Erfahrungen haben mich gelehrt, daß Frauen, die Frauen lieben, ein
größeres erotisches ,Arsenal‗ als ihre heterosexuellen Schwestern
besitzen. Und beide sind den Männern darin überlegen. Simone de
Beauvoir schreibt in ,,Das andere Geschlecht‖: ,,Und wenn man die
Natur befragt, muß man sagen, daß alle Frauen von Natur
Homosexuelle sind‖ (meine Übersetzung). Karen Horney und Marie
Bonaparte äußerten sich in ähnlicher Weise. Emotion und Sinnlichkeit
erregen die erotische Phantasie und umgekehrt. Und Erotik insgesamt
ergreift den ganzen Menschen. Sie kann sich in einem Blick, einer
Geste, in einem Wort, in der Stimme und der leichtesten Berührung
bemerkbar machen. Erotischer Magnetismus erregt nicht nur die
erogenen Zonen, sondern jeden Flecken der Haut, wenn er richtig
berührt wird, und bringt den Körper zu einem
„globalen“ Orgasmus, in den der sexuelle einbegriffen sein kann, aber
nicht muß.
Wir haben genug von der hygienischen und psychologischen
Befriedigung durch Orgasmus gehört. Es ist uns aber verschwiegen
worden, daß diese Einseitigkeit in die Sackgasse der Stereotypie führt,
wenn sie nicht mit erotischer Ekstase verbunden ist. Es sind nicht die
mechanischen Antworten des Körpers, sondern die individuelle
Sprache der Erotik, die physische Intimität jedesmal zu einem neuen
Erlebnis macht. Alle diese Autoren, die Sexualität nicht klar von
Erotik unterscheiden konnten, waren unfähig, ihre Bedeutung für ein
Liebesleben aus erster Hand und für das Liebesleben überhaupt zu
verstehen. Durch die Vermengung beider Begriffe gaben sie dem
genitalen Orgasmus die entscheidende Bedeutung für ,erfolgreiche‗
Partnerschaften.
Kinsey und seine Mitarbeiter erkannten die hochgradige
Sensualität und Sexualität der Frau, die die des Mannes weit
übertreffen. Sie verstanden hieraus auch die Natürlichkeit der
lesbischen Liebe. Leider nahmen sie in ihren Forschungen die
Häufigkeit des sexuellen Orgasmus zum Beweis ,sexueller‗
Überlegenheit des weiblichen Geschlechts. Sie hielten Sexualität in
diesem beschränkten Sinn für fundamental und arbeiteten so mit dem
abgeklapperten patriarchalischen Eroberungskonzept. Sie verwechselten Quantität mit Qualität. Liebesfähigkeit und Liebesglück hängen
vom Reichtum der Sensualität und der erotischen Phantasie ab. Nur
diese entheben physische Intimität der Stereotypie. Die geringere erotische Erregbarkeit des Mannes ist wahrscheinlich für seine genitale
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Besessenheit verantwortlich, ob er hetero- oder homosexuell ist. Neid
auf die Gebärfähigkeit der Frau kann in diese genitale Überbewertung
hineinspielen.
Zweifellos ist Massensuggestion für das Überwiegen
heterosexueller Beziehungen verantwortlich, aber man darf nicht
vergessen, daß eine Art der Liebe auch ebenso authentisch sein kann
wie die andere. Und darauf kommt es an. Kategorisierungen und
Werturteile über die Variationen intimer Beziehungen sind arrogant
und sinnlos. Sogenannte heterosexuelle Männer machen freudig in
den heimlichen Abenteuern von Homosexuellen mit, und verheiratete
Frauen, die ihre Ehepartner zu lieben glauben, aber in späterem Alter
ihre Homosexualität entdecken, sind keine Seltenheit.
Mängel an der einen oder anderen Art der Liebe zu finden,
zeigt Unverständnis für die Liebe selber. Die höher entwickelte
erotische Fähigkeit der Frau, die besonders in homosexuellen
Beziehungen zutage tritt, enthält kein Werturteil über Lesbianismus,
sondern ist Feststellung einer Tatsache. Es kann aber kein Zweifel
sein, daß homosexuelle Frauen einen besonderen Platz in der
Entwicklung der Gesellschaft haben, da sie die Entwicklung der
Frauenbewegung begünstigten. Nach Simone de Beauvoir ist
weibliche
Homosexualität ein Versuch, die Autonomie der Frau mit
ihrer physischen Passivität zu versöhnen. Sicherlich ist die Lesbe autonom, weil sie emotional und sexuell unabhängig vom Mann ist. Sie hat
aber durchaus keinen Grund, sich ihrer ,physischen‗ Schwäche
entledigen zu wollen, da die sportliche Entwicklung des letzten
Jahrzehnts sie als gleichwertigen Gegner (oder Kameraden) des
Mannes aufgezeigt hat. Und dieser Prozeß schreitet fort. Frauen
haben sich nicht nur geistig verändert, sondern auch körperlich.
Dasselbe gilt für den Mann, in umgekehrter Richtung, was den Unterschied zwischen den Geschlechtern immer mehr zu verringern
scheint.
Es wäre aber eine falsche Schlußfolgerung, sexuelle Polarität
für verschwindend zu halten. Obwohl Frauen physisch stärker und
Männer psychisch ansprechbarer werden, kann man kaum Veränderungen fundamentaler sexueller und erotischer Strukturen erwarten.
Diese sind insoweit unveränderlich, als sie in der
konstitutionellen Anlage und der sozialen Bedingtheit der Geschlechter begründet sind. Der Überlegenheitskomplex des Mannes
ändert sich nicht, auch wenn er sich angesichts der steigenden Bedeu-
Seite 109
tung der Frau unbehaglich und bedroht fühlt. Die Hetero- und
Homosexualität des männlichen Geschlechts haben eine seit Jahrtausenden zu beträchtliche Macht ausgeübt, als daß sie ihre Fahnen vor
den Frauen senkten. Dennoch sind die Frauen jetzt an der Reihe, uns
vor einem Atomkrieg und anderen Auswüchsen des Patriarchats zu
bewahren. Frauen, die Frauen lieben, sind am besten vorbereitet,
Pfeiler einer neuen gesellschaftlichen Entwicklung zu werden. Man
kann nur hoffen, daß der bestehende Widerstand der sogenannten
heterosexuellen Schwestern sich mit der Zeit verlieren wird, je mehr
sie sich ihrer bisexuellen Natur bewußt werden. Die homosexuelle
Frau selber hat nach meinen Beobachtungen aber auch noch viel zu
lernen. Ihre intimen Beziehungen ahmen immer noch heterosexuelle
Muster nach. Lesbische Frauen sollten verstehen, daß sie sich damit
eine Falle stellen. Eroberungs- und Sensationslust und die
Überbewertung des sexuellen Orgasmus sind Lernstoff der
patriarchalen Sexualität. Eine Frau muß sich ihrer autonomen
erotischen Macht bewußt werden, um ein Leben aus erster Hand
leben zu können. Dies ist die conditio sine qua non für die
homosexuelle Frau. Durch Imitation heterosexueller Rollen, Gesten
und Handlungen setzt sie sich einer falschen Einschätzung von
anderen und sich selbst aus und verrät sexuelle
Minderwertigkeitsgefühle. Die Folgen sind nicht nur für die Betroffenen, sondern für die Frauenbewegung als Ganzes negativ, denn
Individualität und Selbstbewußtsein im intimen Leben stehen in
direkter Beziehung zu Freiheit im sozialen Leben.
Niemand kann leugnen, daß es Zeit braucht, aus dem
Gefängnis gewohnter Lebensweisen herauszukommen. Die heterosexuellen Strukturen sind tief im Gedächtnis eingebettet, und die
Aufgabe des Umlernens ist eine der schwersten überhaupt. Es ist
nicht nur notwendig, alte Rollen, sondern Rollen überhaupt
aufzugeben, um ein authentisches Leben zu führen. Authentizität ist
der Boden, auf dem die Originalität erotischer Phantasie beruht, die in
lesbischen Beziehungen eine besondere Bedeutung hat, um physische
Erlebnisse immer neu und einzigartig zu machen.
Wenn zärtliche Gefühle und Emotionen zusammen mit
erotischer Phantasie an erster Stelle stehen, haben sexueller Ehrgeiz
und Eroberungssucht ihre Herrschaft verloren. Sie sind der Grundriß
für ein individuelles und originelles Liebesleben, das sich vom
patriarchalischen Alpdruck befreit hat. Nur im Vertrauen auf ihr
autonomes Anderssein kann sich die lesbische Frau von männlichen
Seite 110
Stereotypen losreißen. Jedes Wort in der Sprache der Liebe muß
klingen, als ob man es zum ersten Mal hörte. Das ist der ―touchstone‖
ihrer Einzigartigkeit. Ein anderes Verhängnis der Liebe zwischen
Frauen, das vielleicht mit unbewußtem Nachahmen heterosexueller
Formen zusammengeht, ist eine oft krankhafte Eifersucht. Dieses
Gift wirkt am stärksten, wenn ein Mann ins Gehege zweier Frauen
kommt. Es gibt immer Ausnahmen von Regeln, und eine solche war
die geistreiche und verführerische Natalie Barney. Jean Chalons ,,Portrait d‗une Séductrice‖ läßt keinen Zweifel, daß sie vielleicht auf
andere Frauen, aber nie auf Männer eifersüchtig war. Sie hatte eine
unwiderstehliche Anziehungskraft für Frauen, die - wie sie wohl
wußte - kein Mann überbieten konnte.
Die Frauenbewegung arbeitet an einer Erneuerung der
Sprache, um sie von patriarchalischen Prägungen zu befreien. Das ist
eine überaus wichtige Aufgabe. Aber mindestens ebenso wichtig ist
meiner Meinung nach die Befreiung homosexueller Frauenliebe von
heterosexuellen Mustern; denn das ist wesentlich für die Lebendigkeit
der Bewegung und ihrer Anhängerinnen.
Literatur:
Bab, E.: Die gleichgeschlechtliche Liebe, Berlin 1903
Beauvoir, Simone de: The Second Sex, London 1967
Ellis. H.: Studies in the Psychology of Sex, New York 1942
Freud, S.: Three Essays on the Theory of Sexuality, London 1967
Griffin, S.: Interview in Psychologie Heute, Nr. 7, Juli 1981
Groddek, G.: The Book of the Id, London, 1950
Hirschfeld, M.: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes,
Berlin 1914
Hutt, C.: Males and Females, London 1972 Wolff, C.: Bisexualität,
Frankfurt/Main 1979
Wolff, C.: Hindsight, London 1980
Seite 111
Charlotte Wolff
Ärztin und Forscherin
Charlotte Wolff (1897-1986) ist die Verfasserin eines
Standardwerkes über wissenschaftliche Handdeutung und die
Verfasserin zweier Bücher zur Sexualforschung sowie zweier
Autobiografien und eines Romans. Im folgenden stehen die
eher unbekannten wissenschaftlichen Arbeiten Wolffs im Vordergrund.
Studium und Assistenzzeit in Deutschland
Im Mai 1920 begann Charlotte Wolff ihr Medizin- und
Philosophiestudium in Freiburg. Weitere Semester in Königsberg,
Tübingen und Berlin folgten. Die intellektuelle Begeisterung als
Studentin von Husserl und Heidegger, die langen Diskussionen mit
Walter Benjamin, einem engen Freund aus dieser Zeit, Liebeskummer
und eine gefährliche Reise nach Sebastopol 1924, Deutschunterricht
für russische Studenten und nächtelange Besuche in Lesbenlokalen
und nachmittags in den entsprechenden Cafés machten das
Medizinstudium nicht immer zu einer leichten Sache. Trotzdem
bestand Charlotte Wolff das Staatsexamen in allen Fächern, außer
Psychiatrie. Nach dem praktischen Jahr im Virchow-Krankenhaus
erhielt sie 1928 die Zulassung zur Berufsausübung.
Ärztin war ihr jedoch mehr Beruf als Berufung. Sie bekam
leicht Kontakt zu Menschen und war jederzeit bereit, ihnen
zuzuhören und zu helfen. Dennoch zweifelte sie an ihren
Fachkenntnissen und litt an verschiedenen Ängsten. Ihr Interesse an
psychosozialer Medizin und Sexualmedizin erwachte bei ihrer Arbeit
in einem Ambulatorium der Allgemeinen Krankenkassen, wo sie für
Schwangerschaftsfürsorge zuständig war. Sie führte viele
Beratungsgespräche: Einzel-, Paar- und Familiengespräche. Ihre
Vorgesetzte, Dr. Alice Vollnhals, versicherte ihr, sie habe einen
sechsten Sinn für diese Arbeit, und beauftragte sie mit der
Einrichtung der ersten Klinik für Schwangerschaftsverhütung in
Deutschland.
Das neue Medizinverständnis in den Ambulatorien begeisterte
sie. „Hier arbeitete die Avantgarde der Präventivmedizin und der
sozialen Fürsorge. Ärzte, die nur Privatpatienten behandelten, sahen
auf uns - die Angestellten der öffentlichen Krankenkassen - herab.»
Seite 112
Vier Ärztinnen arbeiteten im Team mit Charlotte Wolff: Minna
Flake, Kommunistin und Jüdin, Alice Vollnhals (Direktorin), Polin
und mit einem Juden verheiratet, Hella Bernhardt, Deutsche, ebenfalls
mit einem Juden verheiratet. Diese drei Frauen wurden ihre
Freundinnen und beeinflussten sie in verschiedener Hinsicht. Die
vierte Ärztin verhielt sich ―uns gegenüber stets höflich und korrekt,
war aber recht verschlossen. Ihre Ansichten blieben unergründlich bis zum Jahr 1933. Dann stellte sich heraus, dass sie seit 1924 aktive
Nationalsozialistin war. Wahrscheinlich hatte man sie auf uns
angesetzt, und sie hatte regelmäßig Berichte erstellt - vermutlich
während all jener Jahre, die ich als Ärztin in Deutschland tätig war.―
1929 habe sie - sagt Charlotte Wolff von sich selbst - „den
Hitlerputsch von 1923 nicht ernst genommen, wie ich schon andere
Warnzeichen missachtet hatte. Nach wie vor waren Poesie, Kunst und
Philosophie meine Welt, ich war mit Haut und Haaren eine
Individualistin.―
1931 wurde sie als Jüdin dazu gedrängt, ihre klinische Arbeit
aufzugeben und in ein Institut für elektro-physiologische Medizin zu
wechseln. Nach einem Jahr wurde sie dort Direktorin und begann ihre
erste Forschungsarbeit.
Im Februar 1933 bekam sie die Kündigung. Der Schlag war ein
kollektiver: alle Jüdinnen und Juden mussten ihren Beruf aufgeben.
Von dreitausend zugelassenen Ärztinnen in Deutschland erhielten
sechshundert als „Nicht-Arierinnen― ein Berufsverbot.
Exil in Frankreich und England
Knapp der Verhaftung entgangen, flüchtete Wolff nach Paris. Für die
nächsten 19 Jahre würde sie ihren Beruf nicht mehr ausüben dürfen.
Erst 1952 erhielt sie in London erneut eine Bewilligung, als Ärztin zu
arbeiten. Das Berufsverbot dauerte von ihrem 36. bis zum 55.
Altersjahr. Sie litt an reaktiven Depressionen und machte für kürzere
Zeit vor und nach der Flucht eine Jungsche Psychoanalyse. Diese
Information lässt sie in ihrer Autobiografie quasi beiläufig in ein
Gespräch mit Virginia Woolf einfließen.
Handdeutung aus physiologischer und psychologischer Sicht
Während dieser knapp zwanzig Jahre entwickelte Charlotte Wolff eine
wissenschaftliche Methode der Handinterpretation.
Sie sammelte Hunderte und Tausende von Handabdrücken. In
Frankreich begann sie ihre Forschung durch die Vermittlung von
Seite 113
Prof. Wallon, einem Spezialisten für Kinderheilkunde, in einer Klinik
für geistig behinderte Kinder. Daneben gaben sich in ihren
Privaträumen - durch die Vermittlung ihrer Freundin und Geliebten
Helene Hessel, einer Journalistin - Prominente aus Aristokratie, Kunst
(v. a. die Surrealisten), Schauspiel und Politik die Klinke in die Hand.
So konnte sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen. Als Hessel und
sie sich trennten, beschloss Charlotte Wolff, nach London zu gehen,
auch aus Angst vor dem Nationalsozialismus. Sie konnte dort ihre
Forschungen fortsetzen, untersuchte nacheinander Menschenaffen,
menschliche Neugeborene, Studenten und Patienten endokrinologischer und psychiatrischer Kliniken.
Nach ihrer Theorie prägen die Handfunktionen Greifen und
Tasten, also die motorischen und sensiblen Funktionen der Hand
(durch ein image motorique und ein Tastbild), die Entwicklung und
Ausgestaltung der Hirnfunktionen entscheidend mit. So stehen Tasten
und Begreifen mit Begriffsbildung, Sprache, Denken, Schrift und
Lesen in einem unmittelbaren Zusammenhang. Überzeugt davon,
dass sich Emotionen in einer Art Psychogramm direkt auf die Hände
auswirken, entwickelte Charlotte Wolff ein System zur Erfassung von
Konstitution, Temperament, Charakter sowie zur Diagnose von
psychischen und endokrinologischen Krankheitsbildern.
Sie unterscheidet sechs Handtypen, denen sie je eine entsprechende Konstitution sowie Temperament, Mentalität und Befähigungen zuordnet. Die Nägel geben Auskunft über die Gesundheit.
Die einzelnen Teile der Hand, Handwurzel und -ballen, Finger
und Daumen geben in ihrem Zusammenspiel ein Bild der
individuellen handlungs- und wahrnehmungsorientierten Aspekte der
Persönlichkeit. Die Handlinien schließlich zeigen die psychische
Stabilität oder Verletzlichkeit an, erworben oder vererbt.
Eine Deutung des Schicksals aus jedem Quadratzentimeter der
Hand hielt Charlotte Wolff für Aberglaube; davon distanzierte sie sich
vehement.
Es gibt drei Traditionen des Handlesens: die Deutung der Sinti
und Roma, der Astrologen und die ärztliche Handdeutung, die seit
dem klassischen Griechenland als wichtiges diagnostisches Mittel
eingesetzt wurde. Sich selbst sah sie in der ärztlichen Tradition - unter
Einbezug der ihr bekannten Resultate der Hirnforschung.
Die diagnostische Gültigkeit überprüfte Wolff in mehreren
Grossversuchen, verglich ihre Handdiagnostik mit den medizinischen
Diagnosen, wobei sie eine Übereinstimmung von 80 % erreichte.
Seite 114
Diese Ergebnisse weckten das Interesse der englischen Psychologen
und Mediziner. Charlotte Wolff wurde zu einem respektierten
Mitglied der psychologischen Forschung, veröffentlichte im British
Journal of Medical Psychology, und erhielt den Titel Fellow of the British
Psychological Society.
Love beetween Women - Lesbenforschung
Charlotte Wolff schrieb 1961 zum erstenmal über das Thema
weibliche Homosexualität im Zusammenhang mit ihrer ersten
Autobiografie mit dem Titel „On the way to myself―.
Sechs Jahre später, 1967, im Alter von siebzig Jahren, begann
sie ihr zeitintensivstes Forschungsprojekt. Sie befragte 108 lesbische
und 123 heterosexuelle Frauen zu Biografie und Sexualität. 231
Fragebogen wurden statistisch ausgewertet. Die 108 lesbischen
Frauen befragte Charlotte Wolff persönlich zu Hause bei Tee und
Kuchen, abends und am Wochenende. Es handelte sich um
tiefenpsychologische Interviews. Vorgängig hatten die Frauen Wolff
einen schriftlichen Bericht geschickt über Lebensumstände,
emotionale und sexuelle Erfahrungen. Zwei dieser Interviews sind
protokollarisch im Buch „Love between Women― wiedergegeben.
Wolff wollte mit dieser Untersuchung die weibliche Homosexualität,
Homoemotionalität und lesbische Lebensweise möglichst umfassend
beschreiben. An früheren Arbeiten anderer Autoren kritisierte sie
deren zu engen Blickwinkel.
Zu welchen Resultaten kam Wolff?
Lesben zeigen ein größeres Bestreben ―nach Freiheit und
Unabhängigkeit, größere emotionale Neugier und Abenteuerlust. Sie
sind häufiger gewalttätig in Wort und Tat‖. Lesben scheinen ständig
in Abwehrbereitschaft zu sein. Wolff sieht darin die Auswirkung einer
diskriminierenden Umwelt. Lesben können es sich weniger leisten,
sich zu entspannen, und zeigen oft weniger Lebensfreude. Dafür
bescheinigt ihnen Wolff eine größere erotische Verspieltheit und
allgemein ein stärkeres erotisches Interesse.
Die lesbischen Frauen ihrer Studie machten häufiger Angaben
zu Depressionen und Sucht als die heterosexuelle Vergleichsgruppe.
Dieser Befund wird von Bell und Weinberg nicht bestätigt. Sie
befragten 1978, also zehn Jahre später, 785 lesbische Frauen in San
Francisco. (Barbara Giessrau hat alle ähnlichen Studien in ihrem Buch
«Die Sehnsucht der Frau nach der Frau» (1993) bestens
Seite 115
zusammengefasst.) Bestätigen kann Gissrau hingegen, auch aufgrund
eigener Forschungen, eine größere Aktivität, Aggressivität,
Durchsetzungsfähigkeit und Zielgerichtetheit von Lesben - sowie
mehr Selbstbewusstsein - im Vergleich zu heterosexuellen Frauen.
Reaktionen auf das Buch „Love between women“
Wolff schrieb ihr Buch für ein medizinisch-psychologisches
Fachpublikum, für die Öffentlichkeit und für lesbische Frauen.
Psychologen und Mediziner missachteten das Buch tapfer, stur
und konsequent. Wolff wurde zu einem einzigen Vortrag in einer
Londoner Klinik eingeladen.
Die Öffentlichkeit zeigte sich nicht berührt: „... einige Männer
hielten es für eine amüsante Angelegenheit, andere reagierten zynisch.
Wieder andere machten körperliche Angriffe auf Lesben.»
Trotzdem war das Buch ein beruflicher Meilenstein für Wolff,
und sie wurde zu einer Expertin, die von vielen homosexuellen
Frauen und Männern konsultiert wurde.
Was heute am Buch am meisten auffällt, ist Wolffs psychopathologische Ausdrucksweise. Da sie in Deutschland in den 20er
Jahren studierte, zu einer Zeit, als die sogenannte „Rassenhygiene― ein
integraler Bestandteil des Medizinstudiums war (nicht nur in
Deutschland), ist ihre Sprache von diesem Vokabular durchsetzt.
Durch die unkritische Übersetzung wird das Unbehagen am Text
noch verstärkt, was grundsätzlich die Frage aufwirft, ob die
psychopathologische Forschung für Lesben nicht per se diskriminierend ist, trotz der ehrlichen Absicht, aufklärend zu wirken.
Intermezzo
Wolff war zugleich stolz und enttäuscht: „Es war eine Illusion, das
Buch könne zu einer Verringerung der Vorurteile gegen homosexuelle
Frauen führen.―
Sie selbst fühlte sich nach der Veröffentlichung müde und
erschöpft. „Der Versuch, einen angemessenen Platz in der Welt zu
finden, kostete mich ungeheure Anstrengung und ließ mir wenig Zeit
zum Ausruhen und Nachdenken (...), ich litt an Depressionen und
einem Gefühl der Leere (...), doch nichts, außer der Fürsorge und
Liebe einer mütterlichen Person, heilte die Wurzeln des Übels. (...) ich
wollte meinen Kopf auf ein Kissen legen, das nicht meines war, und
ein Stück Leben genießen, das ich mir von einer Freundin oder
Geliebten lieh.― Aus diesen Gefühlen heraus schrieb sie nach Love
Seite 116
between women den Roman An older Love.
Auf besagtem Kissen ruhte sie sich nicht lange aus, sondern
wandte sich der Frage zu, „ob Bisexualität für normale Menschen
eher akzeptabel sei als lesbische Liebe―. Sie schrieb ein neues Buch
mit dem Titel „Bisexuality: A study.―
Darin vertritt sie die Ansicht, dass nur eine bisexueIle Gesellschaft von Sexismus und der ganzen Skala psychosexueller und sozialer Unterdrückung befreien kann. Nach ihrer Definition ist Bisexualität die Wurzel der menschlichen Sexualität und die Grundsubstanz aller biopsychischen Reaktionen, seien diese nun passiv oder aktiv.
aus: die, Heft 6/1997, Zürich
Seite 117
“Wir über uns“
Lebenslauf des Charlotte-Wolff-Kollegs
1970
In Berlin gibt es im Zweiten Bildungsweg (ZBW)
nur zwei staatliche Einrichtungen zum Nachholen
des Abiturs mit interner Prüfung, das Berlin-Kolleg
(BK) und die Peter-A.-Silbermann-Schule
(Abendgymnasium). Weiterhin gibt es die
Begabtenprüfung und private Schulen (zumeist
hohe Schulgelder und hohe Abbrecher- und
Durchfallquoten - ca. 50%).
Frühjahr 1970 Berliner Volkshochschulen planen angesichts dieser
unzureichenden Situation, Abiturlehrgänge für
Erwachsene mit Stufenprüfung einzurichten.
Gleichzeitig läuft die Werbung an, obwohl noch
keine Zustimmung der Ständigen Konferenz der
Kultusminister der Länder (KMK) vorliegt.
September 1970 Trotz der noch fehlenden Zustimmung der KMK
wird an der Volkshochschule Charlottenburg ein
Vorlaufkurs eingerichtet, den etwa 30
Teilnehmer/ -innen in der bloßen Hoffnung auf
KMK-Genehmigung und mit dem Risiko der
Absage besuchen.
Frühjahr 1971 Vorläufige und widerrufliche Genehmigung der
VHS-Lehrgänge als Modellversuch mit
Anerkennung der Abiturzeugnisse von allen
Bundesländern.
Herbst 1973
Ablegung der ersten Stufe des Abiturs nach
zweieinhalb Jahren (Mathematik und, wenn als
Wahlpflichtfach gewählt, eine zweite Fremdsprache
oder eine Naturwissenschaft)
Herbst 1974
24 Teilnehmer/-innen legen die zweite Stufe des
Abiturs ab (Fächer Deutsch, Englisch, Politische
Weltkunde und - sofern sie nicht eine zweite
Fremdsprache oder eine Naturwissenschaft gewählt
hatten - Sozialwissenschaften oder
Wirtschaftslehre) und verlassen als erste
Abiturient/-inn/en die VHS-Abiturlehrgänge in
Seite 118
1975
1977
Charlottenburg. Weil einige Teilnehmer/ -innen die
Doppel- Dreifachbelastung von Ausbildung, Beruf
und Familie nicht bewältigen können, wird im
Laufe des ersten Jahrgangs mit Hilfe der
Senatsverwaltung für Schulwesen durchgesetzt, daß
die Teilnehmer/-innen, wenn sie ihren Beruf
aufgeben, nach den Sätzen des elternabhängigen
BAFöG gefördert werden können. In den
folgenden Jahren erreichen andere Kollegiat/-inn/
en auf dem Prozeßweg den wichtigen Fortschritt,
daß alle Teilnehmer/-innen elternunabhängige
Förderung beantragen können.
Erstmalig und (zunächst) einmalig werden fünf
hauptamtliche Lehrer/-innen-Stellen geschaffen.
Zuvor waren die Dozent/inn/en - wie leider noch
alle nicht im ZBW tätigen VHS-Dozent/-inn/en
bis heute - als Honorarkräfte oder sogenannte freie
Mitarbeiter bezahlt worden (nur ca. die Hälfte eines
normalen Lehrer-Einkommens, sozial und
arbeitsrechtlich ungesicherte Stellung; dadurch
hohe Fluktuation, häufiger Lehrerwechsel, wenig
kontinuierliche pädagogische Arbeit).
Beginn der schwersten Krise für die VHSLehrgänge: Die Senatsverwaltung für Schulwesen
muß der KMK einen Erfahrungsbericht vorlegen,
um anstelle der widerruflichen Anerkennung die
endgültige zu erreichen. Der Bericht fällt so negativ
aus, daß er bei den Teilnehmer/-innen, Lehrer/innen, den Volkshochschulleitungen und den
Lehrgangsleitern einhelligen Protest hervorruft, da
er in den wesentlichen Punkten, die auch vorher
von der Senatsverwaltung nie beanstandet worden
waren, nicht gerechtfertigt ist. Bayern zieht
aufgrund des Berichts nunmehr seine Zustimmung
zurück. Der Streit in der KMK um die
Anerkennung der VHS-Abiturlehrgänge zieht sich
etwa zwei Jahre hin; das Land Berlin muß
schließlich nachgeben, die Stufenprüfung
abschaffen und das gymnasiale Modell
übernehmen.
Seite 119
1979
1981
1991
1997
Alle Dozent/-inn/en des ZBW an den Berliner
Volkshochschulen müssen aufgrund erfolgreicher
Klagen einzelner Kolleg/-inn/en vor dem
Arbeitsgericht mit dem gleichen Status wie
Lehrer/-innen der Schulen festeingestellt werden.
Ohne nennenswerte Änderungen muß die
gymnasiale Oberstufe übernommen und das
Stufenabitur abgeschafft werden. Zwar ist damit die
endgültige bundesweite Anerkennung des VHSAbiturs gesichert und das VHS-Kolleg in seiner
heutigen Form geboren, aber auch das
Oberstufenkurssystem mit seinen Vor- und
Nachteilen eingeführt: einerseits größere
Fächerauswahl, etwas größere Wahlfreiheit,
andererseits Auflösung der festen Klassenverbände
im Kurssystem, häufig wechselnde Bezugsgruppen,
Jagd nach Punkten und verstärkter Klausurendruck.
Die 20-Jahr-Feier offenbart, dass die Schule längst
ihren Kinderschuhen entwachsen ist. Seit 1971 hat
sich die Teilnehmerzahl von 34 auf ca. 500 pro Jahr
ausgeweitet, und ca. 1500 Erwachsene haben bisher
das Abitur mit einer Durchschnittsnote von 2,5
erfolgreich bestanden; nur etwa 2% der Prüflinge
waren nicht erfolgreich.
Nach langer Suche, kontroversen internen
Diskussionen und nach Überwindung einiger
Irritationen in Politik und Verwaltung darf sich die
Schule den Namen ―Charlotte-Wolff-Kolleg an der
Volkshochschule Charlottenburg‖ geben. Am 5.
März findet in der Aula des Kollegs eine auch von
Presse und Rundfunk beachtete Feier mit
Namensverleihung statt. Die bekannte Schriftstellerin Christa Wolf hält die Laudatio auf ihre
―alte Londoner Freundin und Namensvetterin‖
Charlotte Wolff.
Seite 120
Bibliografie
Deutschsprachige Veröffentlichungen
Wolff, Charlotte: Psychologie der lesbischen Liebe: eine empirische
Studie der weiblichen Homosexualität / Charlotte Wolff
[Autoris. Übers. a. d. Engl. von Christel Buschmann]. - [1. -13. Tsd.].
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1973, 170 S.
Wolff, Charlotte: Flickwerk. Aus d. Engl. Von Gerlinde Kowitzke
Verlag Frauenoffensive, München 1977
2. Aufl. 1979, 188 S.
Wolff, Charlotte: Bisexualität. Aus d. Engl. von Brigitte Stein. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl., 1981. - 307 S.
(Fischer-Taschenbücher; 3822)
S.-Fischer-Verl., Frankfurt am Main
Wolff, Charlotte: Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit : e.
Autobiographie / Charlotte
Wolff [Aus d. Engl. von Michaela Huber]. - 1. Aufl., von d. Autorin
durchges. u. autoris. Ausg. Weinheim [u.a.] : Beltz, 1982. - 319 S. :1 Ill.
(Edition Monat)
Wolff, Charlotte: Die Hand als Spiegel der Psyche:
[Einzig berechtigte Übers. aus d. Engl. von Ursula von Mangoldt]. - 1.
Aufl. d. Neuausg. - Bern; Wien [u.a.] : Scherz, 1983. - 261 S. :Ill.
Wolff, Charlotte: Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit: eine
Autobiographie / Charlotte Wolff Aus d. Engl. Von Michaela Huber.
- Ungekürzte Ausg. - 20. - 21. Tsd. - Frankfurt am Main FischerTaschenbuch-Verl., 1990. - 317 S.
(Fischer-Taschenbücher; 3778 : Die Frau in der Gesellschaft)
Seite 121
Englischsprachige Veröffentlichungen
Wolff, Charlotte:
Title: A psychology of gesture / by Charlotte Wolff Transl. from the
French manuscript by Anne Tennant.
Published: London: Methuen, 1945.
Wolff, Charlotte,
Title: On the way to myself: communications to a friend.
Published: London, Methuen, 1969.
Wolff, Charlotte
Title: Love between women / [by] Charlotte Wolff.
Published: London : Duckworth, 1973.
Wolff, Charlotte
Title: Bisexuality : a study / [by] Charlotte Wolff.
Published: London ; New York : Quartet Books, 1977.
Wolff, Charlotte
Title: Bisexuality, a study / Charlotte Wolff.
Published: London ; New York : Quartet Books, 1979.
Wolff, Charlotte
Title: Hindsight / Charlotte Wolff.
Published: London ; New York : Quartet Books, 1980.
Wolff, Charlotte
Title: Hindsight / Charlotte Wolff.
Published: Charlestown, MA : Charles River Books, 1981.
Wolff, Charlotte
Title: Magnus Hirschfeld : a portrait of a pioneer in
sexology / Charlotte Wolff.
Published: London ; New York : Quartet Books, 1986.
Seite 122
“Lektoren scheinen auch nicht mehr das Richtige zu lesen. Jedenfalls versicherte man mir am Stand von Quartet Books, daß
für die fast 500seitige Biographie Magnus Hirschfelds, verfaßt
von Charlotte Wolff, sich noch kein deutscher Verleger interessiert hat.“
tageszeitung, 10. Juni 1986
1999 wartet die Biographie von Magnus Hirschfeld immer noch
auf eine Übersetzung!
Seite 123
Abbildungsnachweis
S. 15-17
S. 21, 92
S. 24, 27
S. 30, 33, 35, 38, 39
S. 42, 45
S. 77, 123
S. 81
S. 83
S. 96
S. 117
Helga Tscharke-Holtz
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Christa Maria Rüter
Ch. Wolff, Hindsight
Archiv Charlotte-Wolff-Kolleg
Ch. Wolff, Magnus Hirschfeld
Berliner Morgenpost
Konrad Komm McDavid
Courage, Berliner Frauenzeitung
die, Zürich
Wir danken allen Beteiligten für ihre Mühe.
Besonderen Dank an: Sybille Binder, Eugen Bühler, Claudia Franke,
Eleanor Katzschner, Konrad Komm McDavid, Brigitte Menzel,
Jürgen Minz, Rainer Pabst-Wolter, Christa Maria Rüter, Helga
Tscharke-Holtz, Felix Wolter.
Seite 124