„Liebe und ein starker Geist kennen kein Alter – Phantasie hat keine
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„Liebe und ein starker Geist kennen kein Alter – Phantasie hat keine
Jürgen Minz (Hg.) „Liebe und ein starker Geist kennen kein Alter – Phantasie hat keine Zeit” Materialien zur Erinnerung an Charlotte Wolff Seite 1 Copyright Charlotte-Wolff-Kolleg an der VHS Charlottenburg und Jürgen Minz Berlin 1998 Redaktion, Gestaltung und Satz Rainer Pabst-Wolter Umschlag Felix Wolter Druck Agit Druck, Berlin Bestellungen an Charlotte-Wolff-Kolleg Pestalozzistr. 40/41 10627 Berlin Seite 2 Inhalt 4 Vorwort 5 Grußworte anläßlich der Namensverleihungsfeier, 5. März 1997 11 Warum Charlotte-Wolff-Kolleg? 15 „Eine deutsche Kindheit” Auszüge aus „Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit‖, 1990 18 „Die süßen Trauben wurden zu bittern” Gedichte von Charlotte Wolff, Vers und Prosa, 1924 22 „Meine Freundin Charlotte Wolff” Audrey Wood, 1997 26 „Begegnung mit Audrey Wood” Christa Maria Rüter, 1997 29 „Ich bin ich” Radiosendung, Sender Freies Berlin, März 1981 50 „Für mich ist die Frauenbewegung die größte Revolution aller Zeiten“ Im Gespräch: Charlotte Wolff Psychologie Heute, Heft Mai 1981 68 „Wissen von der wirklichen Gestalt des Menschen” Interview mit Charlotte Wolff, BBC, 23. September 1986 73 „Magnus Hirschfeld. A Portrait of a Pioneer in Sexology“ Kostproben 78 „Ein starker Geist kennt kein Alter” Nachruf, tageszeitung, 27. Oktober 1986 82 „Charlotte Wolff – internationale Jüdin mit britischem Paß” Laudatio von Christa Wolf, anläßlich der Namenverleihungsfeier des Charlotte-Wolff-Kollegs, 5. März 1997 93 „Charlotte Wolff – eine faszinierende, vielschichtige, menschenliebende Frau” Sendung im Sender Freies Berlin, 5. März 1997 97 „Ein Leben aus erster Hand” Courage Heft 1/1982, Berlin 112 „Charlotte Wolff – Ärztin und Forscherin” die, Heft 6/1997, Zürich 118 „Wir über uns“ Lebenslauf des Charlotte-Wolff-Kollegs 121 Bibliografie Seite 3 Vorwort Am Am 30. September 1997 hätte1997 die deutsch-jüdische Ärztin, Psychiaterin und 30. September hätte die deutsch-jüdische Ärztin, Schriftstellerin Charlotte Wolff ihren hundertsten feiern können. Psychiaterin und Schriftstellerin Charlotte Geburtstag Wolff ihren hundertsten Das Charlotte-Wolff-Kolleg nimmt dieses Jubiläum zum Anlass, Geburtstag feiern können. seiner Namensgeberin Das Charlotte-Wolff-Kolleg und ihrem Werk nimmt durch dieses die Jubiläum Publikation zum einer Anlass, Zusammenstellung seiner Namensgeberin von schwer undzugänglichen ihrem Werk Texten durch dievon Publikation ihr und einer über Zusie, ergänzt sammenstellung durch biographische von schwer Hinweise, zugänglichen ReverenzTexten zu erweisen. von ihr und über sie, ergänzt Geboren durch in biografische Riesenburg in Hinweise, Westpreußen Reverenz führte zu erweisen. sie ihr Studium nach Berlin, wo Geboren sie ihrein Studien Riesenburg in in Philosophie Westpreußen undführte Medizin sie ihr 1928 Studium mit einer nach Promotion Berlin, abschloss. wo sie ihreNur Studien kurzzeitig in Philosophie war es ihr und möglich Medizin in Berlin-Neukölln 1928 mit einer in der Promotion Schwangerenfürsorge, abschloss. Nur später kurzzeitig im war sozialmedizinischen es ihr möglich Dienst in Berlinzu arbeiten. Neukölln Als 1933 in der die Nationalsozialisten Schwangerenfürsorge, an die später Macht imkamen, sozialmedizinischen verlor sie ihre Stellung Dienst undzu nach arbeiten. einer Verhaftung Als 1933 die durch Nationalsozialisten die Gestapo im Mai an die 1933Macht flüchtete kasie zunächst men, verlor nach Paris sie ihre undStellung ließ sich und 1936 nach auf Dauer einerinVerhaftung London nieder. durch die Gestapo Sie, dieim sich Mai selbst 1933alsflüchtete ―internationale sie zunächst Jüdin nach mit britischem Paris und Paß‖ ließ sich bezeichnete, 1936 auf hat Dauer dieses inerzwungene London nieder. Exil als Kränkung empfunden, die sie nie ganz verwinden Sie, diekonnte. sich selbst Bis als 1950 ―internationale durfte sie nicht Jüdin als mit Ärztin britischem praktizieren Paß‖ und beverdiente zeichnete, sich ihren hat dieses Lebensunterhalt erzwungenemit Exil Handanalysen. als Kränkung empfunden, die sie nie1974 ganzkam verwinden sie auf konnte. Einladung Bis des 1950Berliner durfte sie Frauenbuchladens nicht als Ärztin Labrys praktierstmals zieren nach undDeutschland verdiente sichzurück. ihren Lebensunterhalt Die Begegnung mit mitHandanalysen. Vertreterinnen der neuen Frauenbewegung 1974 kam sie auf machte Einladung Berlindes für Berliner sie wieder Frauenbuchladens zu einem Ort aufLabrys ihrer „emotionalen erstmals nach Landkarte.‖ Deutschland zurück. Die Begegnung mit Vertreterinnen derÜber neuenden Frauenbewegung Stellenwert ihrer machte wissenschaftlichen Berlin für sie wieder Veröffentlichungen, zu einem Ort ihreraufLyrik ihrerund „emotionalen ihrer Romane Landkarte.‖ kann man geteilter Meinung sein. Die EmigrationÜber schnitt densie Stellenwert sowohl vom ihrerwissenschaftlichen wissenschaftlichenDiskurs Veröffentlichungen, als auch von ihrerihrer Muttersprache Lyrik und ab. ihrer Romane kann man geteilter Meinung sein. Die Emigration Unbestritten schnitt ist jedoch, sie sowohl dassvom unsere wissenschaftlichen NamenspatroninDiskurs Charlotte alsWolff auch mit von ihrerihrer Vitalität Muttersprache und Kreativität, ab. ihrem analytischen Scharfblick und ihrer sensiblen Intuition Unbestritten für uns ist Leitbild jedoch, bleibt: dass unsere Namenspatronin Charlotte Wolff mit ihrer Vitalität und Kreativität, ihrem analytischen Scharfblick und„Liebe ihrer und sensiblen ein starker Intuition Geist für uns Leitbild bleibt: kennen kein Alter – Phantasie hat keine Zeit „Liebe – und ein starker Geist ich bin Charlotte Wolff, kennen kein Alter das ist alles was geschieht.” – Phantasie hat keine Zeit – ich bin Charlotte Wolff, Berlin, im September 1998 das ist alles was geschieht.” Rainer Berlin, Pabst-Wolter im September 1998 Lehrer am Charlotte-Wolff-Kolleg Rainer Pabst-Wolter Lehrer am Charlotte-Wolff-Kolleg Seite 4 Andreas Statzkowski, Bezirksstadtrat für Jugend, Familie, Bildung und Sport Sehr geehrte Frau Wissel, sehr geehrte Frau Ellerbrock, sehr geehrter Herr Minz, die Benennung einer Institution wie die Ihres Kollegs in krisengeschüttelter Zeit, in der mehr von Sparmaßnahmen und Abbau als von Zuversicht, Optimismus und Motivation die Rede ist, finde ich einen wichtigen Akt! ,,Nomen est omen‖ sagt ein lateinisches Sprichwort. ,,Omen‖ ist hier sicher mehr als ,,Vorbedeutung‖ oder ,,Zeichen‖. Es ist vor allem Verpflichtung und Programm; denn immerhin ist eine Namensgebung auch mehr als eine bloße Bezeichnung oder Schmuckformel. Sie ist eine Art ―Palladium‖ (lateinisch „Schutzschild‖), wie es seit der Antike bekannt ist. Und damit wiederum haben Sie es sich nicht leicht gemacht: Die Ärztin und Psychotherapeutin Charlotte Wolff war eine außergewöhnliche Frau, die als Jüdin einen schweren Lebensweg gehen mußte und viel Leid erduldet hat. Ihre Forschungen als Psychotherapeutin über die menschliche Hand und Gestik und später ihre Arbeiten an einer Theorie der psychosexuellen Entwicklung haben weltweite Aufmerksamkeit und Anerkennung gefunden. Sie waren nicht ohne Einfluß – auch auf gesellschaftliche Entwicklungen besonders der 70er-Jahre. Bei der Betrachtung ihrer beruflichen und Forschertätigkeit, ihres Lebensweges und ihrer autobiographischen Schriften fielen die Geradlinigkeit ihrer Persönlichkeit, ihre aktive soziale Bindung, vor allem als Ärztin, und ihr wissenschaftliches und gesellschaftliches Engagement als herausragende Tugenden auf. In schwieriger Zeit ist sie sehr geradlinig und überzeugt von der Richtigkeit des Zieles ihren Weg gegangen. Hier sehe ich ,,Tugenden‖ - und ich benutze ganz bewußt dieses heute oft verkannte Wort ,,Tugend‖ - die uns Charlotte Wolff vorgelebt hat und die wir von ihr auf den Weg ins VHS-Kolleg übernehmen können: 1. die Geradlinigkeit der Persönlichkeit 2. die aktive soziale Bindung und 3. das gesellschaftliche Engagement. Das sind Tugenden, die man erarbeiten muß. Und auch dabei kann uns Charlotte Wolff ein Vorbild sein. Hier möchte ich nochmals aus gegebenem Anlaß eine Brücke zum „Zweiten Bildungsweg” schlagen: Der ZBW ist keine Randerscheinung des Berliner Bildungswesens. Hohe Teilnehmerzahlen sprechen für sich. Wie kaum ein anderer Teil des Bildungswesens leistet der ZBW einen direkten Beitrag zur Chancengleichheit. Deshalb müssen - ohne Zweifel - Lehr- und Lernmittel wenigstens denen an Berliner Schulen entsprechen. Dafür setze ich mich Seite 5 intensiv ein. Hinweisen möchte ich auch auf die hohe Motivation der Teilnehmer am ZBW, die eine abgeschlossene Berufsausbildung und/ oder eine mindestens 3jährige Berufstätigkeit hinter sich haben. Gut zwei Drittel der Teilnehmer sind Frauen. Der ZBW leistet somit auch einen spürbaren Beitrag zur Gleichberechtigung der Frau und gleichzeitig zu ihrer Chancengleichheit, für die sich auch Charlotte Wolff eingesetzt hat. (Ich verweise auf ihre Autobiographie „Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit.―, 1983). Unzweifelhaft sind überdies die Teilnehmer des ZBW´s ein gutes Beispiel für das allseits geforderte, dringend notwendige lebenslange Lernen in unserer Gesellschaft. Sie bringen damit sich und der Gesellschaft einen hohen Zuwachs an Qualifikation, der zusammen mit ihrer Berufs- und Lebenserfahrung erwünscht ist. Angesichts eines solchen Status quo kann keineswegs die Rede davon sein, daß der ZBW aufgrund erfolgreicher Bildungspolitik überflüssig geworden sei. Das Gegenteil ist der Fall: Der ZBW verdient unsere volle Unterstützung! Das Abitur ist noch in hohem Maße die umfassendste Voraussetzung zum Studium und zu besseren Chancen für einen beruflichen Werdegang, zumal auch immer häufiger das Abitur als schulische Voraussetzung für eine Berufsausbildung angesehen wird. Ich erinnere diesbezüglich an den Wirtschafts- und Bankbereich oder an die Polizei. Hier bietet sich bei der derzeitigen Arbeitsmarktlage auch für augenblicklich Arbeitslose eine Chance, berufliche Aussichten durch das Abitur zu verbessern. Vor dem Hintergrund dieser Situation wird die Namensgebung des Kollegs nach Charlotte Wolff im bereits genannten Sinn zu einem verpflichtenden Programm! Ich wünsche Ihnen - Lehrern und Schülern - herzlich, daß Sie diesem mit Ihrer neuen Namensgebung verbundenen Programm in Ihrer Arbeit gerecht werden und daß Ihnen der neue Name Orientierung bietet. Alles Gute und viel Erfolg dem Charlotte-Wolff-Kolleg! 5. März 1997 Seite 6 Monika Wissel, Bezirksbürgermeisterin Guten Tag, meine sehr verehrten Damen und Herren, Charlotte Wolff schreibt 1980 in ihrer Autobiographie ,,Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit‖: „Bis auf den heutigen Tag danken männliche Juden Gott in Gebeten, daß sie als Mann und nicht als Frau auf die Welt kamen. Damit läßt sich der männliche Chauvinismus orthodoxer Juden in wenigen Worten zusammenfassen.‖ Sie schreibt weiter: „Doch liberale Juden hatten schon damals eine ganz andere Einstellung. Meine Eltern und Verwandten hatten solche altmodischen Überzeugungen als widernatürlich angesehen. Im Wilhelminischen Deutschland lebten die Juden ein freies Leben, erwarben eine gute Ausbildung, und viele folgten kulturellen Ambitionen und machten sich in Kunst und Wissenschaft einen Namen. Meine Eltern machten sich keine Gedanken um das Geschlecht ihrer Kinder. Es kam ihnen niemals in den Sinn, für Jungen und Mädchen eine unterschiedliche Ausbildung vorzusehen. Sie wollten, daß wir die beste Schulausbildung bekamen und zur Universität gehen konnten, wenn wir es wollten. Viele jüdische Familien waren gleicher Ansicht, und so ist es nicht überraschend, daß damals Jüdinnen einen Großteil aller Studentinnen ausmachen.‖ Charlotte Wolff beschreibt hier die günstigen Voraussetzungen; die ihr ein für Bildung aufgeschlossenes und in jeder Beziehung vorurteilsfreies Denken ihrer Eltern gaben - wobei ein relativ gutes finanzielles Auskommen ihrer Eltern hinzukam. Sie kann ohne Einschränkungen ihren Bildungswillen und ihren künstlerischen Ambitionen sowie ihren erotischen Neigungen nachgehen - ein Privileg, das viele ihrer deutschen Altersgenossinnen bei weitem nicht hatten. So erhält sie eine Schulausbildung an der renommierten Victoria-Schule in Danzig und kann in verschiedenen Städten Medizin und Philosophie studieren, was damals für Frauen noch keine Selbstverständlichkeit war. Ihre Tätigkeit in einer Klinik für Schwangerschaftsberatung und -planung im Berliner Arbeiterbezirk NeukölIn wurde von den Nazis unterbunden. Als Jüdin war sie zur Emigration gezwungen und floh zuerst nach Frankreich. 1936 siedelte sie nach England über - dort machte sie sich mit der psychologischen Diagnose der Hände und der Gestik einen Namen. Von 1952-1967 praktizierte sie in London als Psycho- Seite 7 therapeutin. Ein dritter Neuanfang war ihre literarische Tätigkeit; bereits in den 20er Jahren hatte sie Lyrik veröffentlicht, später folgten Sachbücher: Die Hand als Spiegel der Psyche, Psychologie der lesbischen Liebe, Bisexualität; ihre Autobiographie: Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit und einen Roman: Flickwerk. Sie fragen sich jetzt sicher, warum ich die einzelnen Stationen in Charlotte Wolffs Leben so ausführlich beschreibe. Sie haben sich in ihrer Namensgebung eine Frau ausgesucht, die immer wieder nicht immer freiwillig einen Neuanfang gewagt hat. Sie verehrte Kollegiatinnen und Kollegiaten hatten und haben auch den Mut, noch einmal einen Neuanfang zu machen, dazu möchte ich sie beglückwünschen. Der Zweite Bildungsweg verbessert die Möglichkeiten wesentlich, nachträglich Bildung zu erwerben - insbesondere auch für Frauen. Wie notwendig dies ist, zeigt die Tatsache, daß seit Jahren zwei Drittel der TeilnehmerInnen an dieser und Einrichtungen des Zweite Bildungsweges Frauen sind. Trotz der Selbstverständlichkeit, mit der heute Mädchen das Abitur machen, besteht hier offen-sichtlich noch ein großer Nachholbedarf. Angesichts dieser Tatsache ist es konsequent, daß Sie verehrte Kollegiatinnen und Kollegiaten sowie LehrerInnen in Ihrer Gesamtkonferenz eine Frau zur Namensgeberin gewählt haben. Eine Frau, die als Wissenschaftlerin den Mut hatte, ungewohnte Wege zu gehen - unabhängig vom Urteil der Fachkollegen, die mit großem Einfühlungsvermögen und Engagement als Ärztin und Psychotherapeutin wirkte und die während ihres ganzen Lebens eine Neugierde und einen Forscherdrang zeigte, der sie in Grenzbereiche und Tabuzonen gesellschaftlicher Forschung führte, und das immer mit selbstverständlicher kritischer Vorurteilslosigkeit und eigener existenzieller Betroffenheit machte. Möge sie vielen von uns ein Vorbild sein! 5. März 1997 Seite 8 Jürgen Minz, Leiter des Charlotte-WolffKollegs an der VHS Charlottenburg Sehr verehrte Gäste, liebe Kollegiatinnen und Kollegiaten, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ,,Alles, was die Patienten mir als Therapeutin erzählen,‖. sagt Charlotte Wolff 1980 in einem Interview, ,,habe ich ja selber empfunden, denn wir sind ja alle alles, wenn wir nur ein bißchen aufpassen. Aber es ist ja doch eine große Erweiterung. Jeder Mensch ist eine Ent-deckung. Das ist wie ein neuer Planet.― Als wir das erste Mal von Charlotte Wolff hörten, war sie für mich und für viele von uns ein unbekannter neuer Planet und es gehörte schon noch etwas Wagemut dazu, sie in einer Gesamtkonferenz als Namenspatronin zu wählen, nachdem einzelne Kolleginnen und Kollegiatinnen von ihr erzählt und sich für sie eingesetzt hatten. Wir merkten, daß sie keine Säulenheilige sein würde, aber das konnte uns nur recht sein. Und die Mutigen wurden belohnt: Bei fast jedem Treffen unserer Vorbereitungsgruppe zu Ausstellung und Fest gab es für Lehrende und Lernende Augenblicke der Entdeckerfreude. Mal war es ein Zitat, das neue Ausblicke eröffnete oder auch zu Widerspruch reizte, oder ein Foto, bei dem sich eine andere Facette ihres Blickes, ihrer Gestik zeigte, oder es war das Tonband, durch das uns erstmalig ihre akzentuierte und nuancenreiche Stimme fesselte. Erstaunlich ist auch, wie wir beim allmählichen Entdecken einer fremden Person uns selber auch immer ein wenig mehr entdecken, denn wir sind ja, wie Charlotte Wolff sagt: „alle alles―, wir können mitempfinden, und die Begegnung mit anderen Personen kann Bestätigung, Herausforderung oder Ablehnung sein. Von allem hat Charlotte Wolff viel erfahren, und es waren bisweilen sehr schmerzhafte Erfahrungen, sei es die Trennung von einem geliebten Menschen, von dem sie durch die furchtbaren politischen Ereignisse getrennt wurde, oder die Emigration aus Deutschland 1933, die sie aus einem Sprach-und Kulturraum und Freundeskreis vertrieb, mit dem sie aufs innigste verwurzelt war. Und erst viel später, nach langem verständlichem Zögern war sie wieder in der Lage, Verbindung zu Deutschland, insbesondere Berlin, aufzunehmen. Aus ihren autobiographischen Schriften spricht trotz aller Seite 9 Leiden und Umbrüche, die oft auch zu tiefer Niedergeschlagenheit und Isolation führten, tiefe Liebe und Empfindung für andere Menschen. Diese von schwierigsten Zeitumständen und auch von vielen glücklichen und erfüllten Augenblicken geprägte seelische Landschaft der Charlotte Wolff regt in uns vielfältige Mitempfindungen und geistige Prozesse an und wir merken, dass unsere bisherigen Bemühungen, sei es die kleine Ausstellung oder die Lesung von Kollegiatinnen, die Sie soeben gehörte haben, nur erste Annäherungen, eine erste Spurensuche auf dem Planeten Charlotte Wolff sind. Dankbar sind wir vielen von Ihnen, liebe Gäste, daß Sie uns durch Hinweise oder Dokumente geholfen haben, und wir würden uns über weitere Mithilfe sehr freuen. Ein ganz besonderes Glück, eine nicht zu überschätzende Bestärkung auf unserem Weg, unserer Entdeckungsfahrt - die Sie heute ein Stück des Weges mitgehen - war es, als ein Kollege entdeckte, daß in dem Text ‚Störfall‗ der Schriftstellerin Christa Wolf ein Hinweis auf ihre Londoner Brieffreundin Charlotte Wolff enthalten ist. Mit Hoffen und auch ein wenig Bangen haben wir den Brief begleitet, den Herr Bühler an Sie schrieb. Wir können es noch jetzt kaum fassen, daß Sie, sehr verehrte Frau Wolf, bei uns sind und aus Ihrem Briefwechsel mit Charlotte Wolff lesen und zu uns sprechen wollen. Wir sehen darin für unsere Namenspatronin und unsere Schule ein gutes Omen. 5. März 1997 Seite 10 Warum denn ein neuer Name für unser VHS Kolleg? Schließlich sind wir ja seit Jahren unter diesem Begriff bekannt - und werden so weiterempfohlen! Warum also Bewährtes aufgeben? Beim Hören einer anderen Bezeichnung wird niemand mehr sagen: „Das kenn„ ich, da habe ich mein Abi gemacht!‖ Er oder sie wird den Namen überhören. Im besten Fall könnten Fragen auftauchen wie: ,,Charlotte-Wolff-Kolleg, welches ist das?‖ oder: ,,Charlotte Wolff - wer war das denn?!‖ Ja - um dieser Fragen willen: Warum eigentlich kein neuer Name! Schließlich wird es sich herumsprechen, daß unser Kolleg nun so heißt - und wer Charlotte Wolff war: Ein Mensch, eine Frau, die mit all‗ ihren Kräften versucht hat, sie selbst zu sein, authentisch zu leben, unabhängig und frei. Ihre erotische und sexuelle Vorliebe für Frauen vertrat sie ganz selbstverständlich und bezog dieses Interesse in ihre wissenschaftlichen Forschungen ein. Wegen ihrer (jüdischen) Herkunft fristlos entlassen, dann von Verfolgung bedroht, gelang es ihr, die Gefährdung, die das nationalsozialistische Deutschland für sie bedeutete, zu erkennen, das Land rechtzeitig zu verlassen und im Ausland weiterzuleben. Rückblickend sagt sie über ihre Berliner Zeit als Studentin: ,,Wir waren einfach wir selbst, die einzige Befreiung, die am Ende zählt.‖ Ein Gedanke, den wir uns auf unserem eigenen (nicht nur Zweiten Bildungs-) Weg zu eigen machen können.. Claudia Franke, Lehrerin am Charlotte-Wolff-Kolleg Februar 1997 Seite 11 WARUM gerade Charlotte-Wolff-Kolleg? Vor etwa 12 Jahren interessierte ich mich sehr für Handanalyse und -interpretation und stieß per Zufall auf Charlotte Wolffs Buch: „Die Hand als Spiegel der Psyche.‖ Die Erstbegegnung führte bald zu einer großen Faszination für eine sehr ungewöhnliche, eigenwillige und vor allem vielschichtige Frau, deren autobiographisches Werk „Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit (Originalausgabe: „Hindsight‖, London 1980) ich mit größtem Interesse und Bewunderung verschlang. Die Stationen ihres Lebens sind bekannt, sie werden an anderer Stelle dargestellt. Hier geht es darum zu betonen, daß unser VHS-Kolleg Charlottenburg nach einem passenden Namen suchte, nicht unbedingt dem eines berühmten, eher eines weniger bekannten Menschen, mit einer noch zu erschließenden Biographie, mit einem spannenden Wirkungsfeld. Aus meiner Sicht sollte es eine Frau sein, eine Frau deren Lebensweg uns inspirieren und begeistern könnte. Alles schien zu passen: Die jüdische Intellektuelle und Ärztin, die Berlin in den Wirren der Nazizeit verlassen, in Paris sich mit Handanalysen durchschlagen mußte, die Forscherin, die danach in London ihren wissenschaftlichen und schriftstellerischen Neigungen nachgehen konnte. Sie war ganz und gar keine geschmeidige Frau, sie war neugierig, ehrgeizig, zielstrebig und bis ins hohe Alter voller Energie und Schaffenskraft. Sie hatte eine Vision, die Vision des bisexuellen, differenzierten dennoch ganzheitlichen Menschen, der vollkommen frei von stereotypen Vorstellungen und Fesseln lebt. Es wäre nützlich und hilfreich in diesen zerspaltenen, von Intoleranz geprägten Zeiten diese Vision nicht aus den Augen zu verlieren. Charlotte-Wolff-Kolleg: ein Name der reizt, neugierig macht und herausfordert. Eleanor Katzschner Lehrerin am Charlotte-Wolff-Kolleg Februar 1997 Seite 12 Charlotte-Wolff-Kolleg – klingt gut! 1984 habe ich den ersten Vorkurs am VHS Kolleg unterrichtet. Seitdem hielten sich die Nachfragen in meiner Umgebung die Waage mit dem ‚Weiß-schon-Kommentar‖: Ach ja, Volkshochschulkurse – muß man da eigentlich richtige Lehrerin sein? ... Jede Initiative, unserer Schule einen Namen und damit Unverwechselbarkeit zu verleihen, habe ich laut begrüßt und genauso schnell vergessen wie viele andere konstruktive Ideen, die mit ‚Ärmel-Hochkrempeln‗ verbunden waren. Über einen Zeitraum von mehr als 10 Jahren gab es mehrere Ansätze für eine Namengebung unserer Schule. Eine ist mir in besonderer Erinnerung. Wir stimmten mehrheitlich ab, daß der zu bestimmende Name der einer Frau sein sollte. Es ist schon eine Weile her, und obwohl sich das Zahlenverhältnis männlicher/weiblicher NamenspatronInnen wahrscheinlich leicht verbessert hat, gibt es keinen Grund, Frauen als Repräsentantinnen unserer Gesellschaft aus dem Auge zu verlieren. 1995 stand es wieder auf unserer Tagesordnung: Wir brauchen einen Namen. Jemand/ein Mann/ein Kollege schubst uns wieder an, sammelt Vorschläge, stößt auf Interesse bei KollegiatInnen und KollegInnen. Wir sammeln potentielle Namen, die für unsere Schule passen könnten. Es gibt mehrere Vorschläge, wieder sind auch Männer in der Diskussion, und wir fangen zum xsten Mal von vorne an. Die Gesamtkonferenz soll abstimmen. Die Entscheidungsfindung läuft ziemlich schräg. So viele Meinungen, so viele unaufrichtige Kommentare. Ich komme zu dem Schluß, daß es bedeutender sei, überhaupt einen Namen für unsere Schule zu finden, als eine bestimmte Person wichtiger zu finden als andere. Ich habe zunächst nicht für Charlotte Wolff gestimmt. Sie erhielt schließlich die Mehrheit, und ich war zufrieden. – Endlich! Dann folgte die Planung für die Schulbenennung. Die meisten von uns wußten nicht viel über Charlotte Wolff. Rainer P.-W. suchte Material und Mitsuchende. Beides verlief nicht gerade reibungslos. Ich las ihren Roman ohne große Begeisterung, ihre Dissertation fand ich sehr eindrucksvoll, ihre Autobiographie wollte ich gar nicht mehr weglegen. Als ich einen Brief von ihr an Christa Wolf vorgelesen hörte, hatte ich irgendwie das Gefühl, sie persönlich zu kennen. Charlotte Wolff hatte ein langes Leben, und es ist nicht leicht, die vielen, teilweise brüchigen Mosaiksteine aus ihren Lebensstationen zu einem Gesamtbild ihrer Persönlichkeit zusammenzutragen. Aber bei der Spurensuche durch ihre Zeitgeschichte gefällt mir immer mehr der Gedanke, daß wir durch die Wahl ihres Namens für unsere Schule zu einer angemessenen Würdigung von Charlotte Wolff beitragen werden. Brigitte Menzel Seite 13 „Es ist schwieriger, der Namenlosen zu gedenken als der Berühmten“ (Walter Benjamin) oder: warum Charlotte Wolff ? Am Anfang stand die Idee – unsere Schule braucht einen Namen. Die Argumente dafür waren den meisten einleuchtend, einige wollten das „Bewährte bewahren” – die Pro-Position setzte sich durch. Der dann beginnende Prozeß einer Namensuche brachte vielfältige Ergebnisse – alberner, humoristischer, sarkastischer, aber auch seriöser Art. Schließlich stand die Entscheidung für Charlotte Wolff – immerhin mit einer Mehrheit von drei Vierteln der (zahlreichen) Abstimmenden - fest. Auch ich stimmte für sie. Zu Beginn war Charlotte Wolff für mich eine Unbekannte. Fast zu perfekt schien sie den Kriterien der „political correctness‖ zu genügen: Frau, Jüdin, Emigrantin und dann auch noch Lesbe. Ein komplettes „Set Minoritäten‖ (die Frauen mögen verzeihen), in dieser Kombination praktisch unschlagbar. Nachfragen im Freundinnenkreis brachten bemerkenswerte Ergebnisse. Viele Frauen meiner Generation wußten durchaus etwas mit dem Namen Charlotte Wolff anzufangen, hatten ihre Bücher in den 70er und frühen 80er Jahren gelesen, sie auf der Berliner Sommeruni erlebt und fanden es toll, daß unsere Schule nach ihr benannt werden sollte. Unsere Entscheidung stieß auf unübersehbare Hindernisse, die Angelegenheit wurde auf die lange Bank gelegt, verschleppt, zur Prüfung an das Landesschulamt weitergereicht, dort an SenSchul verwiesen, dessen Nichtzuständigkeitserklärung wiederum an den Bezirk zurückgegeben etc.. Offensichtlich hatten einige Honoratioren damit gewisse Bauchschmerzen, was meine Motivation, die Angelegenheit zu einem guten Ende zu führen, durchaus stärkte. Nun steht der große Namensverleihungsakt unmittelbar bevor. Zwischenzeitlich habe ich mich gründlich mit unserer Namenspatronin beschäftigt. Und ich muß gestehen, daß meine anfängliche Skepsis der Hochachtung gewichen ist. Über ihre Bücher, durch Videos und Tonbandaufnahmen lernte ich Charlotte Wolff als faszinierende und eigenwillige Frau kennen, deren Leben und die Zeugnisse ihres Wirkens unserer Schule gut zu Gesicht stehen werden. Rainer Pabst-Wolter Lehrer am Charlotte-Wolff-Kolleg Februar 1997 Seite 14 „Eine deutsche Kindheit” Auszüge aus Charlotte Wolffs Autobiografie: Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit “Riesenburg heißt das Städtchen, in dem ich geboren wurde, doch es trägt seinen Namen zu Unrecht. In dieser 4000 Seelen-Gemeinde gab es nur zwei wirkliche Anziehungspunkte: den Großen und den Kleinen Markt. Zum letzteren gelangte man durch das Riesenburger Tor, eine mittelalterliche Ruine – Überreste einer ruhmreichen Vergangenheit; durch seinen Bogen betrat man die Altstadt. Doch weder die Anlage der Stadt noch die Architektur der Gebäude verwiesen auf irgend etwas Altehrwürdiges oder Bemerkenswertes. Nichts konnte darüber hinwegtäuschen: Riesenburg war nur eine langweilige Kleinstadt. Um das Städtchen herum lagen Wiesen und Felder. Doch wanderte man etwa acht Kilometer weiter nach Süden, dann betrat man einen ausgedehnten, unberührten Wald, den Großen Wald; und drei Kilometer weiter nördlich befand sich ein kleiner Nadelwald auf sandigem Boden, der Kleine Wald. Der Große Wald besaß die Attraktion eines reichhaltigen Tier- und Pflanzenlebens, während der Kleine Wald als beliebtes Ausflugsziel galt. In meiner Erinnerung hat Riesenburg Prabúty (ehem. Riesenburg), Torturm, Seite 15 Sorgensee, 1997 heute noch eine romantische Anziehungskraft. In seiner Nähe fließt die Liebe, ein Nebenfluß der Weichsel, die vor dem Ersten Weltkrieg die Grenze zwischen West- und Ostdeutschland bildete. In die Liebe mündet der Sorgensee, ein Name, der geeignet ist, die Phantasie mit Sehnsuchtsgedanken anzuregen. Sowohl der Fluß als auch der See spielten in meiner Kindheit eine wichtige Rolle.‖ Danzig „Der einzige Bruder meines Vaters bewohnte ein altes Patrizierhaus in der Frauengasse, die überall in Deutschland wegen ihrer einzigartigen Architektur bekannt war. Die Frauengasse lag im Schatten der mächtigen Marienkirche, einem hervorragenden Beispiel gotischer Architektur, das ein eindrucksvolles Monument und zugleich Ort der Anbetung war. Ihr kostbarer Besitz war das „Jüngste Gericht‖ von Hans Memling. Diese größte protestantische Kirche der Welt bedrückte mich, solange ich mich erinnern kann. Im März 1913 zogen meine Eltern nach Danzig und mieteten eine Sechszimmerwohnung in der Fleischergasse 60. Mein Herz hüpfte vor Freude. Wie wenig wußte ich damals über den unwiederbringlichen Verlust, den die endgültige Trennung von meiner früheren Heimat bedeutete! Ungefähr zur selben Zeit gab es eine weitere Seite 16 Veränderung für mich. Ich wurde in der Viktoria Schule angemeldet, die für ihren hohen Ausbildungsstandard bekannt war. Ihr abstoßendes Äußeres ging zurück auf das frühe 19. Jahrhundert, als öffentliche Gebäude wie eine Mischung aus Kirche und Arbeitshaus aussahen. Aber der Innenhof, auf dem die Schüler während der großen Pause ihr Frühstück verzehrten, war hell und freundlich; umso düsterer sahen die Klassenräume aus. Mein neuer Wohnsitz in der Fleischergasse war nur ein Steinwurf von der Schule entfernt. Alles paßte gut zusammen, und es schien vorherbestimmt zu sein, daß ich zur gleichen Zeit, als meine Eltern ihren Wohnsitz änderten, Schülerin des berühmten Gymnasiums wurde.‖ Charlotte Wolff, Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit, Frankfurt a.M. 1990, S. 9 ff Ehemalige ViktoriaSchule, Gdansk, 1997 Seite 17 „Die süßen Trauben wurden zu bittern“ Gedichte von Charlotte Wolff „Meine Versenkung in philosophische Texte war während meiner Schulzeit zunächst hauptsächlich Flucht, wurde aber später lebensbestimmend. Das zwanghafte Bedürfnis, Gedichte zu schreiben, folgte demselben Muster, doch es wurde von anderen Quellen gespeist. Kreative Regungen sind in uns allen vielleicht angeboren, von mir griffen sie wie ein körperliches Bedürfnis Besitz. Wir wissen nichts darüber, welche Impulse den Geist zwingen, inneren Rhythmen zu lauschen und Bilder in Poesie umzusetzen. Dies war das wirkliche Leben für mich. Es verschaffte mir Befriedigung, obwohl ich unter den Auf und Ab zwischen Euphorie und Depression litt, den notwendigen Begleitumständen kreativer Bemühungen. Doch der Geist muß auch von Außen gespeist werden, und was kann erfüllender sein als gegenseitige Liebe? Die späteren Gedichte, die ich schrieb, waren ausnahmslos Liebesgedichte. Poesie ist naturgemäß oft schwärmerisch und das Ergebnis halb oder gar nicht erfüllter Sehnsüchte nach erfahrenen oder vergangenen Dingen. [...] Die meisten meiner Gedichte waren Liebesgedichte für Frauen. Mein Gefühl, daß Liebe eine Sache ist, die sich nur zwischen Frauen abspielt, entsprach meiner festen Überzeugung, solange ich mich erinnern kann.‖ Charlotte Wolff, Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit, Frankfurt a. M. 1990, S. 74 f. Vor Menschenblick verbergen Will ich für dich meinen Glanz Mit sanft geschlossenen Lidern Durchtaste ich die Nacht. Ob du mich einmal riefest Hütetest du scheues Licht Verborgen, mit dunkelndem Auge, Das mir die Heimat gibt? Stirn und Mund und Hände Wende nicht zu dir zurück, Wir müssen dann beide erkalten Und alles Leben lügt. ♦♦♦ Seite 18 Neigen wir unsere Stirnen Fängt wo ein Wind an zu zittern Tasten wir Häuser und Menschen immer stehen wir beide vor Gittern Finden sich einmal die Hände Wird ein trennloser Hauch uns umwittern Du erblichest mir immer Die süßen Trauben wurden zu bittern Wird uns einmal das Lied Der Kuß uns einmal die Blüten erschüttern Werden heimlich die Blätter In Frühlingsnächten zittern ♦♦♦ Hast du nie mich gerufen Kehrte ich nie bei dir ein Blieb ich auf Nebelstufen Immer und immer allein? Sind wir einsame Inseln In einem tönenden Meer, Wirft ein Wind denn mein Winseln Wie Hagel über dich her? Liebst du das Schicksallose Nur, das kristallene Gut, Das, eine Feuerrose In deiner Stirne ruht? Seite 19 Über die wehrlosen Brüste Schlägt ungehinderte Flut; Schleicht ein Kind ohne Lüste, Ist sein Spiel ohne Blut. Rette dir deine Freude, Schwarze Sterne stehn, Suchen nach neuem Leide, Werden sich zu dir drehn. ♦♦♦ Weil du niemals kamst Weil in keinem Schritt Du mich zu dir nahmst Bis ich langsam glitt Hintenübersank Meine Kehle preßt Eine Träne scheint Wen sein Stern verläßt Der ist keinem Freund und vor Heimweh krank. ♦♦♦ Gesicht wird Glas Die Öde dörrt Schnee macht mich bunt Ich werde verwehen. in: Franz Hessel (Hg.), Vers und Prosa, Rowohlt 1924. Seite 20 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. April 1998 S. 34 Seite 21 „Meine Freundin Charlotte” Erinnerungen von Audrey Wood, 1997 Am 30. September wäre Charlotte Wolff 100 Jahre alt geworden. Sie starb kurz vor Vollendung ihres 89. Lebensjahres am 12. September 1985. Audrey Wood, ihre langjährige Freundin und Helferin hat uns liebenswürdigerweise aus ihrem gemeinsamen Leben mit Charlotte Wolff geschrieben. Bitte bedenkt, daß in England das Understatement üblich ist, dann läßt sich sicherlich noch manches zwischen den Zeilen lesen. Das erste Mal traf ich Charlotte Wolff in den 50ern in Chelsea (London), wo sie als Psychiaterin praktizierte. Eine Bewährungshelferin vom West London Magistratsgericht kannte sie und hatte sie gebeten, einige junge Frauen zu untersuchen, die vor Gericht erscheinen mußten. Charlotte stimmte zu, und ihre Konsultationen waren sehr geschätzt. Die Bewährungshelferin gehörte zu den Quäkern in Westminster, zu denen auch ich gehöre, und Charlotte Wolff wurde von ihr zu einem informellen Treffen eingeladen; dort lernten wir uns kennen. Wir wohnten ziemlich nahe beieinander und hielten seit dem ersten Zusammentreffen Kontakt. Aber wir haben nie zusammen gewohnt. Charlotte hatte ein Häuschen gemietet. Ich hatte eine Dachwohnung, von der sie immer sagte, es sei wie ein Picknick bei mir. Sie überredete mich schließlich, mich um eine Wohnung im Kensington und Chelsea Borough zu bewerben, die ich nach etwa 1 1/2 Jahren bekam und in der ich nun seit 30 Jahren lebe. Noch heute bin ich Charlotte Wolff dankbar, daß sie mir zu diesem Umzug geraten hatte. Sie war eine bemerkenswerte Frau, ganz anders als jede andere Person, die ich bis dahin kannte, und ich meine, daß ich mich geschmeichelt gefühlt hatte, weil jemand mit so hohem intellektuellen Standard von mir Notiz nahm. Allmählich wurden wir gute Freundinnen, ich verdanke ihr sehr viel. Charlotte hatte (in Deutschland) Medizin studiert und war als Ärztin einige Zeit im Krankenhaus tätig. Sie war aber auch sehr an der sozialen Lage ihrer PatientInnen interessiert und übernahm eine Stelle in der Schwangerschaftsberatung der Abteilung für Präventivmedizin an einem allgemeinen Krankenhaus. Das war das Richtige für sie und sie arbeitete mit anderen jüdischen ArztInnen und Sozialarbeiterlnnen zusammen. 1933 wurde ihr klar, daß sie durch die Nazis in Gefahr war Seite 22 und sie schaffte es, im selben Jahr nach Paris zu entkommen. Zuvor hatte sie noch an einem Kurs im Handlesen bei Julius Spier teilgenommen. Er war ein bemerkenswerter Mann, der zu der Erkenntnis gekommen war, daß durch Studien der Hand gewisse Charakterzüge und die Tendenz zu bestimmten Krankheiten festgestellt werden konnten. Er konnte sein Wissen an andere weitergeben, hatte aber keine entsprechende wissenschaftliche Methode entwickelt. Charlotte war sehr interessiert und arbeitete an einer Methode, mit der sie selbst die Handstudien betreiben konnte. Sie begann damit in Paris, und als sie 1936 nach England kam, trieb sie vergleichende Studien an den Extremitäten von Affen im Londoner Zoo, dessen Direktor Julian Huxley, der Bruder von Aldous Huxley, war. Sie konnte Handabdrücke von vielen wohlbekannten Personen mit Hilfe von Aldous und Maria Huxley machen. Darunter waren Virginia Woolf, die Herzogin von Windsor und Osbert Sitwell. Das Resultat der ,,Reise um die Hand‖ wie sie es nannte, waren drei Bücher: The Human Hand (1945), gefolgt von The Hand in Psychological Diagnosis und The Psychology of Gesture. In Anerkennung dieser Arbeiten wurde sie Fellow of the British Psychological Society. Charlotte hörte während ihres ganzen Lebens nicht auf zu arbeiten. Im letzten Interview mit BBC World Service sagte sie noch, sie plane einen Roman, der in Berlin spielt. Das war ungefähr zwei Wochen vor ihrem Tod am 12. September 1985 und etwa vier Monate nach ihrer letzten Veröffentlichung A Portrait of Magnus Hirschfeld, dem großen deutschen Sexologen, der das Institut für Sexualkunde nach dem Ende des 1. Weltkriegs gegründet hatte. Die Fertigstellung dieses Buches hatte fünf Jahre gedauert und viele Recherchen erfordert. Ich bin glücklich, daß sie die Veröffentlichung des Buches und die positiven Rezensionen noch erlebt hat. Charlotte war lange Zeit besonders an der Arbeit über weibliche Homosexualität interessiert, nicht wegen ihrer eigenen Freundschaften mit Frauen, sondern weil sie jegliche Art der Kategorisierung und Stereotypisierung wie z.B. Homosexualität und Heterosexualität ablehnte. Um mehr über lesbische Frauen herauszufinden, ließ sie sich auf ein Forschungsprojekt ein. Sie konnte 108 Frauen, die sich als lesbisch bezeichneten, dafür gewinnen. Sie interviewte sie, ließ sie einen Fragebogen ausfüllen und eine „emotionale Autobiographie‖ schreiben. Das gleiche führte sie mit 100 heterosexuellen Frauen durch. Das Forschungsresultat veröffentlichte sie in ihrem Buch Love Between Women, 1971 (Psychologie der Seite 23 Audrey Wood, 1997 lesbischen Liebe). Durch diese Studie wurde sie auf die Bisexualität aufmerksam und unternahm weitere Forschungen an je 75 Männern und Frauen, die sich als bisexuell bezeichneten. Daraus entstand das Buch Bisexuality - A Study (1977). Beide Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Ab der Zeit war ich eng mit Charlottes Arbeit und auch ihrem Leben verbunden. Ich hatte mir selbst das Maschineschreiben beigebracht und habe es geschafft, die meisten ihrer Manuskripte zu schreiben - manchmal gab es mehrere Entwürfe. Ich habe auch ein Großteil des Haushalts und der Einkaufe usw. erledigt. So war ich ziemlich stark beschäftigt. 1978 wurde Charlotte von einer Gruppe Feministinnen nach Berlin zu Lesungen eingeladen. Es war 45 Jahre her, daß Charlotte Deutschland verlassen hatte, und Deutschen gegenüber war sie noch immer vorsichtig. Sie nahm jedoch die Einladung an, und ich begleitete sie. Wir blieben etwa eine Woche, und es war eine großartige Zeit mit Besichtigungsfahrten durch Berlin und über den Checkpoint Charly nach Ostberlin. Der Höhepunkt dieses Besuchs war ihre Lesung aus zwei ihrer Bücher vor ca. 500 Frauen in der AmerikaGedenk-Bibliothek Bei einer anderen Gelegenheit hielt sie eine Rede Seite 24 vor einer informellen Gruppe in einem Raum, der mir wie eine riesige Lagerhalle vorkam. Sie hörten hingerissen zu und stellten viele Fragen. Unglücklicherweise konnte ich nur sehr wenig verstehen, denn meine Deutschkenntnisse sind so gut wie nicht vorhanden. Ilse Kokula, Käthe Kuse, Christiane von Lengerke und Heidi Giesenhauer sowie viele andere waren unsere sehr angenehmen Gastgeberinnen. Dies war der erste von mehreren Besuchen in Deutschland. 1980 hatte Charlotte eine Einladung nach Düsseldorf zu einem Referat bei einer Konferenz von Schwulen und Lesben erhalten und wir verbrachten vier oder fünf Tage in wundervoller Umgebung. Mir hat es viel Spaß gemacht, mit Bussen in Berlin unterwegs zu sein, die wirklich immer pünktlich fuhren, und notwendige Einkäufe zu machen. Charlottes Fähigkeit, die Persönlichkeit eines Menschen zu erkennen, war bemerkenswert, dies muß sehr dazu beigetragen haben, daß sie eine so gute Psychiaterin und Forscherin war. Nach ihrem Tode sagten mir vier Leute, daß Charlotte ihnen das Leben gerettet habe. Durch ihre Arbeiten über die menschliche Hand und ihre Forschungen über die menschliche Sexualität trug sie in bemerkenswerter Weise zum Wissen über Menschen und menschliche Verhaltensweisen bei. Ich lernte viel durch sie, nicht zuletzt, wie wichtig die Integrität des eigenen Ichs ist. Ich gewann auch Einblick in Probleme der homosexuellen Männer und Frauen, was mich erkennen ließ, wie wichtig es ist, sie zu akzeptieren und nicht nur zu tolerieren, was zweierlei ist. Es war nicht immer leicht, so sehr in Charlottes Arbeit und Leben eingebunden zu sein; aber wenn ich auf die Jahre mit ihr zurückblicke, bin ich dankbar für alles, was sie mir durch ihre Freundschaft gegeben hat. Ich kann mir gut vorstellen, wie sie sich freuen würde, daß die Erinnerung an sie in Berlin durch die Namensgebung des CharlotteWolff-Kollegs und die Veröffentlichungen in der UKZ zu ihrem 100. Geburtstag wieder auflebt. Audrey Wood, 1997 Deutsche Übersetzung: Eva Bornemann für Unsere Kleine Zeitung, Berlin, Heft 10/11/1997 Seite 25 „Begegnung mit Audrey Wood” Besuch von Suzanne Bégin und Christa Maria Rüter (Lehrerinnen am Charlotte-Wolff-Kolleg) bei Audrey Wood, Sommer 1997 Im 4. Stock eines elfgeschossigen Hochhauses in Chelsea, einem gutbürgerlichen westlichen Stadtteil Londons, wohnt Audrey Wood in einer hellen , etwa 55 m² großen Wohnung. Im Juni 1997 blinzelte sie uns freundlich entgegen, als wir aus dem Aufzug kamen. Bisher hatten wir nur telefoniert oder uns geschrieben. Nun waren wir neugierig aufeinander, hatte sie doch die spontane Bereitschaft ausgedrückt, uns während unseres Londonaufenthaltes zu empfangen. Jetzt begrüßt sie uns mit einem warmen Lächeln. Sie ist kleinwüchsig, trägt dichtes, graues Haar. Ihr Körper ist altersgebeugt. Kaum sitzen wir auf ihrem Sofa, möchte sie wissen, was Christa Wolf bei der Feier der Namengebung im Kolleg über Charlotte Wolff gesagt hat. Damit sind wir auch gleich bei Charlotte Wolff als Thema angelangt. Miss Wood (obwohl weit über 80, möchte sie Miss genannt werden) deutet auf die manuelle Schreibmaschine auf dem Tischchen am Fenster und sagt: ,,Damit habe ich alle Manuskripte von Charlotte getippt. Und das letzte, das Buch über Hirschfeld, war besonders lang und anstrengend. Danach war ich ganz erschöpft, und darum habe ich zu Charlotte gesagt, daß ich kein weiteres Manuskript mehr tippe. Aber ich glaube, das hat sie mir übel genommen. Ich war wirklich ganz erschöpft, aber sie wollte nicht aufhören zu schreiben. Für das Buch über Hirschfeld hat sie viel in Berlin im Archiv gearbeitet, bei unserem 2. Besuch in Berlin. Unser 1. Besuch war 1976. Da war Charlotte zu einem Kongreß eingeladen. Da hat Charlotte, glaube ich, auch eine Rede gehalten. Sehr unterschiedliche Frauen. viele waren Lesben, diskutierten. Manche wollten wissen, welche Art Beziehung ich zu Charlotte habe. Nun, ich sagte ihnen, wir hätten eine gute. Ich verstand diese Frage wohl nicht so richtig, aber mein Eindruck war, daß die Frauen sehr angespannt waren. Doch das ist alles lange her, und ich glaube, Charlotte hat sich wohlgefühlt. Beide Aufenthalte waren sehr interessant. Charlotte hat nicht von Angst gesprochen. Die Neonazis haben sie nicht interessiert, sie hatte höchstens Probleme mit den Leuten in ihrem Alter, wenn die sich nicht erinnern wollten. Sie war ja schon 1933 von Berlin aus nach Paris gegangen. Dort wurde sie von Aldous Huxley und seiner Frau unterstützt. Durch das Seite 26 Audrey Wood Ehepaar Huxley kam sie später nach London. Hier haben sich u.a. die und Christa Quäker um Kriegsflüchtlinge gekümmert. Eine Quäkerfrau hat Maria Rüter, Charlotte unter ihre Fittiche genommen. Anfangs hat Charlotte ihren London 1997 Lebensunterhalt allein mit ihrem Wissen über die menschliche Hand verdient. Virginia Wolff hat sie ja auch aufgesucht. Doch sie hatte ein breites Wissen über den Menschen. Darum wurde sie gebeten, psychologische Gerichtsgutachten zu machen. Es ging dann z.B. um ledige Mütter oder um Vormundschaftsfragen. Als sie für das Gericht arbeitete, traf ich sie. Ich arbeitete mein ganzes Leben als Hebamme. Wir waren dann 30 Jahre zusammen. Ich habe sie immer sehr bewundert. Ich bin eine Quäkerin. Manchmal kam Charlotte mit zu einem Meeting. Doch da wird ja nicht gesprochen, und das machte sie nervös. In den letzten 3 Monaten war sie meistens hier in meiner Wohnung. Sie hatte nicht weit von hier eine Eigentumswohnung. Dort hat sie als selbständige Psychotherapeutin gearbeitet. Seit den 60er Jahren war sie von der Britischen Psychologischen Gesellschaft in diesem Beruf anerkannt. Nebenbei hat sie ständig an einem Buch gearbeitet. Schwierig war es, mit ihr einmal zu verreisen, so einfach übers Wochenende. Überhaupt war es nicht immer einfach mit ihr. In Seite 27 meiner Familie wurde ich gewarnt, daß diese Frau mein ganzes Leben bestimmen würde. Und so ist es dann ja auch gekommen. Ich fühlte mich sehr geehrt dadurch. Waren mir ihre Anforderungen an mich einmal zuviel, wollte sie wissen, ob ich mich nicht länger durch sie geehrt fühlte. Nach 3 Monaten Krankheit, d.h. nach einem 2. Herzanfall, ist sie gestorben. Ich bin froh, daß sie nicht lange leiden mußte. Nach ihren Tod stellte sich heraus, daß sie ihre Erbangelegenheiten nicht alle klar geregelt hatte. Das war für mich dann noch kompliziert. Ihr Nachlaß wird in Liverpool in dem Archiv der Universität aufgehoben Der Archivar heißt Dr. Lovie. Nach meinem Tode gehört der Nachlaß der Britischen Psychologischen Gesellschaft. Ich stelle Euch gern ein Inhaltsverzeichnis über die Art und den Umfang des Nachlasses zur Verfügung. Wenn ihr im Archiv etwas arbeiten wollt, gebe ich euch die Erlaubnis.― Während Miss Wood uns so offen berichtet, trinken wir Tee. Es ist ja schließlich teatime, etwa 5 Uhr. Wir essen besonders süßen Kuchen dazu und erfahren zwischendrin, welche Wirkung die Chemotherapie auf sie hat. Ja, sie ist krebskrank. Die Behandlung soll den Krebs zum Stillstand bringen. Sie fühlt sich medizinisch gut aufgehoben und auch von vielen teilnehmenden Menschen aufmerksam bedacht. Unser Besuch ging so liebenswürdig zu Ende, wie er begonnen hatte. Inzwischen hat uns das Inhaltsverzeichnis verdeutlicht, daß im Archiv in 9 großen Kartons Schätze darauf warten, gehoben zu wurden. Hier einige Beispiele: In Karton Nr. 4 befinden sich z. B. Briefe, die Charlotte Wolff von Christa Wolf erhalten hat. In Karton Nr. 2 sind u. a. Briefe von Huxley und Hessel aufgehoben, in Karton Nr. 3 ,,Dr. Wolff´s mother, 6 letters, 1934, 1935”. Es wäre sicher aufregend, mit Hilfe der archivierten Materialien Charlotte Wolff weiter auf die Spur zu kommen. Christa Maria Rüter, 1997 Seite 28 „ICH BIN ICH” Ein Porträt der Schriftstellerin und Psychotherapeutin Charlotte Wolff. Mitschrift einer Radiosendung, Sender Freies Berlin, März 1981 „Trotz ihrer 80 Jahre lebt sie zeitlos. Sie ist klein, schwarzhaarig und zerbrechlich. Ihre Gesten sind sparsam. Eine große Ruhe geht von ihr aus. Nur ihre Augen verraten die Spannung, die in ihr ist. Wer ihr begegnet, hat das Gefühl sie schon lange zu kennen. Charlotte Wolff ist nicht auf Abstand bedacht, da ist keine Förmlichkeit nötig. Man merkt, der Umgang mit Menschen ist ihr Metier. Ihre Gegenwart magnetisiert, strahlt Autorität und Menschlichkeit aus. Ihr Gesicht erinnert an Rudi Dutschke. Die gleiche Gewißheit, für die richtige Sache zu kämpfen, hat ihr Leben geprägt. Eine Vision hat ihr Leben bestimmt. Die Vision einer menschlichen Gesellschaft, in der es keine Unterdrückung gibt. In der bisexuellen Gesellschaft, von der sie träumt, soll kein Geschlecht über das andere herrschen. “Da gibt es überhaupt keine Konvention in einer bisexuellen Gesellschaft. Jeder weiß, daß er Mann und Frau ist und empfindet jede Art von sexuellem Ausdruck als eine Berechtigung, die jeder hat, sein Recht, das er sich nehmen kann. Ob jemand, der bisexuell bei Natur ist, das andere Geschlecht mehr liebt als sein eigenes, das ist seine Sache. Das hängt von seiner Biographie und von seinem Geschmack ab. Aber alles wird gleichgestellt, da gibt es überhaupt keine Intoleranz. Absolute Toleranz erstenmal in Geschlechtswahl und im Zusammenleben ist die erste Forderung. Die zweite ist, daß keiner eine besondere Macht über den anderen hat. Da gibt es nicht die Männermacht oder die Frauenmacht. Ich lehne ebenso den Frauenchauvinismus wie den Männerchauvinismus ab. Es ist eine vollkommene Gleichstellung. Das geht aus der ganzen Situation einer bisexuellen Gesellschaft ohne weiteres hervor.‖ (Charlotte Wolff) Die Resonanz auf ihre Vision einer bisexuellen Gesellschaft ist gespalten. Was sie sagt, liegt zu weit entfernt von dem, was gegenwärtig über die Natur des Menschen gedacht und geschrieben wird, als daß ihre Thesen populär werden könnten. Aber Charlotte Wolff ist gewöhnt, umstritten zu sein, und Popularität ist nicht das, womit sie rechnet. Als Lesbierin, Jüdin und Emigrantin gab es in ihrem Leben nie Seite 29 den Komfort einer wirklichen Geborgenheit und Anerkennung für das, was sie tat. Sie mußte lernen, ihre Heimatlosigkeit anzunehmen, keiner Kultur, keiner Bewegung anzugehören, sich als Außenseiterin zu begreifen, ihr Selbstverständnis da zu suchen, wo es zu finden war, zwischen den Grenzen. Mit ihrem Lieblingswort ―Grenzüberschreitung‖ meint Charlotte Wolff auch ein Stück dieser Identität. “Grenzüberschreitung, das ist das Wort, das ist überhaupt das ganze Thema meines Interesses und vielleicht meines Lebens. Es interessiert mich alles, was anders ist und wahrscheinlich, weil ich anders bin. Ich bin wahrscheinlich nicht ganz so wie andere Menschen, und ich habe auch sowohl physisch wie geistig und emotionell doch einige Besonderheiten, die mich einer Grenzsituation im Leben als etwas Natürliches nahebrachten. Ich würde niemals eine richtige Heimat haben können, weil ich ja gar Charlotte Wolff, nicht zur großen Masse gehört habe. In welchem Land ich gelebt erster Schulhätte, ob in Deutschland, meinem Heimatland, oder in Frankreich Tag, 1910 oder in England oder irgendwo, ich würde immer ein Außenseiter gewesen sein.‖ (Charlotte Wolff) Die Erfahrung, entfernt zu sein von dem, was sie umgibt, reicht weit in ihre Kinderzeit zurück. Es ist ein ganz bestimmtes Ereignis, an das sie denkt, wenn sie von dieser Erfahrung spricht und ein bestimmtes Gefühl, das sie mit dieser Erfahrung verbindet. „Das war eines der größten Ereignisse meines ganzen Lebens. Ich werde es nie vergessen, und ich weiß jede Einzelheit dieses - ich kann es nicht anders beschreiben - beinahe kosmischen Ereignisses: Es war auf dem Weg zur Schule, da mußte ich [...] an der Post vorbei und in eine Seitenstraße einbiegen. Und in dieser Seitenstraße Seite 30 war ein Hof, da waren diese Postkarren, ich kann noch die [...] vor mir sehen, und plötzlich war ich gezwungen, von einem inneren Gebot, stehenzubleiben, nicht weiterzugehen, nicht zur Schule.‖ (Charlotte Wolff) “Ich blieb nahe am Fenster eines Juwelierladens stehen und guckte weder rechts noch links noch sonstwo hin. Ich war von einem überwältigenden Gefühl ergriffen.‖ (Aus der Autobiographie ―Innenwelt und Außenwelt‖) “Und plötzlich kam etwas über mich, was ich ja gar nicht wußte, was es war. Es war mehr so, als ob ich meine Arme ausstrecken wollte, mir war ganz heiß zumute , und plötzlich hatte ich das Gefühl: ICH BIN ICH!‖ (Charlotte Wolff) “Zur gleichen Zeit fühlte ich, wie sich meine Größenverhältnisse änderten. Ich kam mir dünner und größer vor als ich in Wirklichkeit war. Ich empfand ein wundervolles Schweben, meine Füße schienen den Erdboden verlassen zu haben. Und ich schwebte in der Luft. Eine unbekannte und mächtige Kraft hatte von mir Besitz ergriffen. Eine Kraft, die zu stark für mich war, sie zu fassen. Sie gab mir ein Gefühl der Allmacht.‖ (Aus ―Innenwelt und Außenwelt‖) “Und plötzlich dachte ich, ich weiß alles. Ich hatte ein Gefühl, als ob die ganze Welt in mir war: Daß ich wußte, was war, und daß ich weiß, was ist, und daß ich wußte, was kommen wird. Und es war so überwältigend, daß ich dachte: Wer bin ich? Es war ein kaltes Gefühl, eine wunderbare, eine schöne Kälte, eine Kristallkälte, die über meine Nase, zwischen den Beinen, Augen, Augenbrauen war, und da dachte ich...es kann nicht ... ich dachte gar nicht, es kam zu mir: Ich habe einen Amethysten im Kopf und dieser Amethyst, das war wie ein drittes Auge Was mir da passiert ist, das war dieses wunderbare Gefühl von einem kosmischen Zusammensein, daß man plötzlich weiß, daß man viel mehr ist als nur dieser Mensch, der das und das macht, daß da ein Bewußtsein ist von einer Höhe, von einer Zusammengehörigkeit mit der ganzen Welt, daß eine Omniszienz besteht. Man wußte, was war, was geschehen würde. Aber das Gefühl von einer besonderen Gnade, obwohl ich nicht religiös bin, aber da fühlte ich, wenn es etwas Göttliches gibt, dann ist es das.‖ (Charlotte Wolff) Diesen Augenblick hat sie erlebt wie einen Film, real und nah, Seite 31 aber auch weit entfernt. Es war eine Erfahrung, die sie herausriß aus dem Einerlei ihres bisherigen Lebens und die umschlug in ein Gefühl, berufen zu sein. Es war dies eine trennende Erfahrung, etwas, das sehr schön und kostbar, aber auch schmerzhaft war. In ihrer Autobiographie ―Innenwelt und Außenwelt‖ schreibt Charlotte Wolff weiter: ―Alles um mich herum veränderte seine Bedeutung. Die Tatsache, daß ich für mehr als drei Jahre noch zur Schule gehen mußte, empfand ich als eine Last, die ich kaum tragen konnte. Meine wunderbare Erfahrung hatte mich aus den Reihen meiner Altersgenossen herausgeschossen und im gewissen Grad auch aus denen meiner Lehrer. Ich nahm das Unvermeidliche in Kauf, voller Abneigung und niedergeschlagen. Ich machte die Schule zu so einer lockeren Disziplin, wie es eben gerade ging: Ich betrat um acht Uhr das Klassenzimmer und redete wie eine Fremde, die ihre Worte in eine andere Sprache übersetzen muß. Mit Wesen, die mir und meiner Welt so fremd waren, war keine Sprache möglich.‖ Ihre vage Gewißheit, anders zu sein, ist mit Verachtung gepaart. Sie blickt herab auf Mädchen ihres Alters. Noch weiß sie nicht warum, aber sie beginnt, dem Umgang mit Gleichaltrigen auszuweichen. Sie ist entschlossen, sich den Erwartungen einer normalen Entwicklung zur Frau zu verweigern. “Ich kann nur sagen, schon als ich ungefähr sechs Jahre alt war, sieben, daß ich mich doch sehr einzeln in der Schule gefühlt habe. Nicht, weil ich jüdisch war, nicht im geringsten, sondern weil mir das Benehmen von Mädchen mit dem naiven ―Gickeln‖ und mit dieser ganzen für mich trivialen Beschäftigung, den trivialen Interessen, sehr zuwider war. Darum fühlte ich mich allein, einsam.‖ (Charlotte Wolff) Alles, was in ihrem späteren Leben eine Rolle spielen wird, hat mit diesen ersten Erfahrungen begonnen. Ein Gefühl innerer Zerrissenheit stellt sich ein, und sie lernt früh, sie zu verbergen. Sie fügt sich in die Rolle des stillen Kindes, das vordergründig gehorsam ist, ist eine Statistin, die eine Rolle erfüllt. Weil sie die Welt, die sie umgibt, als feindlich erlebt, und weil es nur wenige gibt, mit denen sie reden kann, beginnt sie in Verse zu fügen, was sie bewegt. In einsamen Streifzügen durch ihre Heimatstadt Danzig sucht sie die Ruhe, die sie braucht, um ihrem Leben gewachsen zu sein. Seite 32 Haus des Onkels Josef Wolff in Gdansk, 1926 “Auf diesen Spaziergängen meinte ich, Flügel zu haben, die Worte und Rhythmus bewegten. Manchmal kamen ganze Verse von irgendwo aus meinem Inneren. Das überwältigende Gefühl, das sich meiner bemächtigt hat, kündigte sich durch tiefes Atmen an, daß ich zu fliegen glaubte. Ich merkte plötzlich, wie ich begann, rhythmisch zu gehen, fast tanzte ich, und wie dann mein Kopf die Führung wieder übernahm. Das rhythmische Schwingen in mir übertrug sich selbst in Bilder, und Rhythmus und Bild verschmolzen zu Worten. Wenn ich nach Hause kam, war ich wie betrunken von mir und dem schöpferischen Prozeß, den ich erlebt hatte. In einem solchen Zustand der Ekstase war es sehr schwierig, meiner Familie gegenüberzutreten. Ich verhielt mich so still wie möglich und wartete nur darauf, allein in meinem Zimmer zu sein. Das halbfertige Gedicht in meinem Kopf zu haben, gab mir ein erregendes Gefühl der Ungewißheit. Ich wiederholte einige Zeilen so oft, bis ich es mit Anstrengungen schaffte, aus diesem fast-Chaos eine Strophe zu bauen. Ich schrieb gewöhnlich Sonette, eine Form, die ein gutes Stück disziplinierter Arbeit voraussetzt. Und dies war, denke ich, das Gegengift zu dem chaotischen Gefühl, das dem Schreiben vorausging.‖ (Aus ―Innenwelt und Außenwelt‖) Seite 33 Jedes Gedicht ist für sie ein heimlicher Sieg. Ein Weg, sich von dem, was sie innerlich zu zerreißen droht, wenigstens in Worten zu befreien. Schreiben ist für Charlotte Wolff geistige Notwehr. ―Ich glaube, ich habe mich immer als einen sehr natürlichen Melancholiker bezeichnet, mehr auch nicht, und meine Poesie und meine Philosophie konzentriert, und die äußere Welt verschwand mehr, wurde kleiner und geringer und geringer in ihrem Wert für mich. Nur wenn ich mich freuen konnte an großen, ästhetischen Eindrücken und auch natürlich an Beobachtungen, die meiner Phantasie und meiner Dichtung Anstöße gaben, dann kam ich mit der Umwelt in Berührung.‖ (Charlotte Wolff) Es kündigt sich in dieser kindlichen Isolierung eine Gefahr an, die sie ein Leben lang begleitet hat. Das viele Alleinsein als freiwillige Abkehr wird zur Falle. Und jeder Rückzug aus der Welt, in der sie nicht heimisch ist, treibt sie weiter hinein in dieses Grundgefühl der Verlassenheit. Sie weiß, daß dies der Preis ist für ihre Art zu leben. Sie hat sich ein Reich für sich geschaffen, in dem sie die Welt um sich herum vergessen kann. Aber in ihrem Reich ist sie zuviel allein. Denn die Nähe anderer Menschen , nach denen sie sich sehnt, ist für sie unerreichbar. Isoliert ist Charlotte Wolff bis heute geblieben. Die Themen, denen sie ihre Arbeit und ihr Leben als Psychotherapeutin und Schriftstellerin gewidmet hat, sind immer Themen am Rande gewesen. Sie hat Gedichte und Autobiographien verfaßt aber auch Sachbücher über Handdeutungen und Sexualität geschrieben. Jahrzehntelang hat sie sich ihrer psychologischen Forschung gewidmet, hat im Alleingang Projekte realisiert, an die am Anfang nur wenige glauben wollten. Immer war das, was sie in Angriff nahm, ein Wagnis und eine Provokation. Charlotte Wolff ist gewohnt, gegen den Strom zu schwimmen. Für sie ist das Leben in jeder Phase ein Kampf gewesen, aber man sieht ihr diesen Kampf nicht an. Man spürt nur, daß dieses Leben für sie vor allem Leidenserfahrung war: Anteilnahme am seelischen Leiden der Menschen, die als Patienten zu ihr kamen, aber auch eigenes. Ihr Leben, das waren vor allem die Kriegs- und Nachkriegsjahre, die Vertreibung aus Deutschland und die materielle und seelische Not der Emigration. Das war eine Tragödie, die ich für viele Jahre gar nicht überwinden konnte. Ich fühlte mich so mit der deutschen Kultur Seite 34 verbunden, ich schrieb in der deutschen Sprache, natürlich, das war meine Muttersprache, ich hatte deutsche Freundinnen, es war mir unmöglich zu verstehen, daß plötzlich die Juden etwas anderes waren, daß die Juden gehaßt wurden. Es war mir ein solcher Schock, daß ich plötzlich meine Stellung verlor und eine Hausdurchsuchung hatte und bedroht war, sogar mein Leben zu verlieren. Im Augenblick als mir das passierte, wurde ich mir vollkommen klar, wer ich bin, daß ich eine Jüdin bin, und daß ich raus mußte. Und da muß ich sagen, die Entscheidung viel mir schwer und leicht. Es war mir klar, hier ist eine Entwurzelung, die ich nicht überwinden kann. Aber es war mir auch klar, daß ich so schnell wie möglich handeln mußte. Und ein paar Tage nach dieser Hausdurchsuchung entschloß ich mich, nach Paris zu fahren.‖ (Charlotte Wolff) Die Flucht, die Charlotte Wolff dann im Mai 1933 antrat, ging für sie nie ganz zuende. Jedenfalls nicht in dem Sinne, daß sie eine zweite Heimat oder den Weg zurück gefunden hätte. Paris und London blieben Stationen ihres Exils, und dieses Exil dauert bis heute an. Wenn sie an die große Entwurzelung von damals denkt, dann kommt ihr vieles so vor, als wenn es erst gestern passiert wäre. Die Schrecken von damals, Flucht und Entwurzelung, sind ihr immer gegenwärtig geblieben. Einerseits als Gefühl lebenslänglicher Gefährdung, aber auch als Gewißheit, trotz dieser Gefährdung unbeugsam geblieben zu sein. Charlotte Wolff ist keine Frau, die für Resignationen anfällig war. Sie wußte, die Flucht aus dem NaziDeutschland war für sie Ende und Anfang zugleich. Ein Einschnitt in ihrem Leben, von dem an nichts mehr so blieb, wie es gewesen war. Das neue Leben aber bot die Chance des Neubeginns, und sie hatte diese Chance genutzt. Das neue Kapitel ihres Lebens heißt Ch. Wolff als Ärztin in Berlin, 1932 Seite 35 Chirologie, Handlesekunst, eine unkonventionelle Form psychologischer Diagnostik, bei der von der Beschaffenheit der Hände auf den seelischen Zustand eines Menschen geschlossen wird. Charlotte Wolff hatte schon in Berlin mit dem Studium der Hände begonnen. In Paris nun hat sie keine andere Wahl, denn ihre medizinische Ausbildung als Ärztin wird in Frankreich nicht anerkannt. Dennoch hilft ihr ein Zufall weiter, mit der Medizin in Kontakt zu bleiben: Sie lernt den sehr engagierten Psychiater Professor Wallon kennen, der ihr an seiner Klinik die Erlaubnis gibt, ihre Studien der Handdiagnostik weiterzuführen. “Er brachte mich auch mit anderen Psychiatern in Verbindung, und in deren Sprechstunden machte ich meine eigenen Handdiagnosen, die dann mit den Diagnosen der Ärzte verglichen wurden und woraus man sehen konnte, wieviel man aus der Hand sehen kann. Dies waren aber nur Anfänge. Das dauerte ungefähr drei Jahre, in der Zwischenzeit hatte ich ein furchtbares Leben in einer Weise, nämlich ich mußte mein Geld verdienen. Ich wurde sehr bekannt als Handleserin in einem neuen Sinn. Man sah, daß ich ein Wissen damit verband, das kein Chirologe vor mir hatte. Aber da war ein sensationelles Element in der [...] von einer Menge von Klienten, die zu mir kamen, und durch die ich mein Geld verdiente, um mein Leben und auch meine Untersuchungen weiterführen zu können. Ich kam mit sehr merkwürdigen, für mich sehr merkwürdigen Milieus beruflich in dieser Weise in Verbindung. Das war die französische Aristokratie, die [...], da war auch die [...], beinahe alle waren dabei, und es war ein bisschen überwältigend. Nun, was aber eine sehr unangenehme Seite für mich war, ich fühlte, daß ich in die Rolle eines Scharlatans verdrängt worden war, und ich litt außerordentlich darunter.‖ (Charlotte Wolff) Man hält ihre Handlesungen für eine liebenswerte Spinnerei, einen Zirkuszauber für den, der daran glauben kann, Kaffeesatzdiagnosen oder Kartendeutungen vergleichbar. Aber viele sind bereit, Geld dafür auszugeben, und das ist es, was Charlotte Wolff am Leben hält. Wirklich anerkannt und gefördert wird sie nur von einigen wenigen Außenseitern. Die größte Bewunderung wird ihr von einer Gruppe französischer Künstler, den Surrealisten, entgegengebracht. Sie fühlen sich ihr verwandt und sind bereit, sie in ihre Kreise aufzunehmen. Seite 36 “Die Surrealisten sahen in mir eine Art Prophetie. Sie fanden, daß das genau in ihr Programm und in ihre ganze emotionelle Lebensweise und in ihre geistige Anschauungsart paßte. Sie haben es nicht ganz richtig verstanden, sie dachten hier ist jemand, der aus einer neuen Quelle, die intuitiv poetisch ist, eine Wissenschaft macht. Und das hat ihnen enorm gefallen, das fiel genau in die richtige Kerbe ihrer eigenen Ideen. Davon abgesehen war eine ganz persönliche Anziehung, die wahrscheinlich auf geistiger Verwandtschaft beruhte, weil ich den Surrealismus selber als eine der größten Bewegungen in Kunst und Literatur schon damals ansah, und noch heute. Ich wurde mit Paul Eduard, dem Dichter, und seiner Frau [...] besonders befreundet, und Andre Breton nahm mich überhaupt als Schützling an. Er propagierte mich überall und durch ihn wurde meine erste Veröffentlichung, die ―Les Revelations Psychologiques de la Main‖ heißt, in der wunderbaren, noch immer berühmten Zeitschrift “Minotaure‖ veröffentlicht. Durch diese Verbindung mit den surrealistischen Freunden fühlte ich mich wieder in dem Milieu, das ich in Deutschland verlassen hatte. Das war das Milieu von Franz Hessel und ganz besonders von Walter Benjamin. Nun hatte ich drei Leben: Das Leben als wissenschaftlicher Untersucher, das Leben als Freund und wirklicher geistiger Kollege mit den Surrealisten, und dann das doch sehr zweifelhafte und nicht angenehme Leben, das mir mein Geld einbrachte.‖ (Charlotte Wolff) Wenn Charlotte Wolff über diese Jahre als Handleserin spricht, dann überkommt sie immer wieder das Gefühl, damals etwas Verbotenes getan zu haben. Sie hatte sich auf etwas eingelassen, das auch ihr selbst ein wenig zweifelhaft war, das an spiritistische Sitzungen erinnerte, auch wenn das, was da geschah, kein Bluff oder Zauber war. “Erstmal sah ich mir natürlich die Hände an, und dann erzählte ich den Leuten, was ich aus deren Händen für eine konstitutionelle Diagnose stellen konnte, das heißt, was ihr allgemeiner Gesundheitszustand war, ob da irgendwelche besonderen Tendenzen zu Schwierigkeiten, psychischen Schwierigkeiten oder Krankheiten waren. Aber das Wichtigste war, daß ich dort von ihrer Persönlichkeit sprach. Und dann, dies war das Furchtbarste für mich, ich hatte, und ich kann es heute noch nicht verstehen, eine unglaubliche Begabung, wie ich es nicht anders bezeichnen kann. Zu wissen, was für Ereignisse, und das konnte man ja wirklich Seite 37 schon als romantisch bezeichnen, in der Vergangenheit dieser Menschen passiert waren. Ich konnte aus der Hand die wichtigsten Daten lesen. Ich weiß es heute nicht, wie ich es gemacht habe, aber ich tat es. Und das natürlich war das sensationelle, das mich so überaus anstrengte, daß ich beinahe tot umfiel, wenn ich nach Hause kam. Es war eine Art Trance. Ich glaube, daß sich die Leute, als ich sagte, ich werde jetzt mal sehen, ob ich etwas aus ihrer Vergangenheit sehen TV-Sendung, kann, ... da haben sich die Leute ihrer eigenen Vergangenheit London 1937 besonnen. Und ich halte das für eine Gedankenlesung, daß ich von den Leuten selber die Nachrichten bekommen habe, daß das eine intuitive Fähigkeit ist, die ja sehr viele Leute haben, aber das Resultat auf meine Nervosität war furchtbar. Ich fühlte mich erniedrigt, ich haßte es, aber ich mußte es tun, um mein Geld zu verdienen. Das war aber auch, das muß man zugeben, und ich muß das zugeben, es war etwas, was mich selber faszinierte, denn ich fand etwas heraus über mich selber, wovon ich keine Ahnung hatte vorher.‖ (Charlotte Wolff) Auch wenn Charlotte Wolff ihre Zeit als Handleserin eine zweifelhafte Episode nennt, so war es dennoch eine Zeit, in der sie von Menschen umgeben war, deren Namen sie immer wieder gerne nennt, und die diesen Jahren einen nachträglichen Glanz bereiten. Sie hatte die Neugier und Achtung von großen Literaten und Künstlern geweckt und ihre Liebe erobert. Diese Liebe war schmeichelhaft für sie, auch wenn jede neue Begegnung zur großen Zerreißprobe für sie wird. “Eins der wichtigsten Er-eignisse war meine Begegnung, erst Seite 38 professionell, dann mehr persönlich, mit Virginia Woolf, eine sehr elegante Dame mit einem etwas verbissenen Gesicht, aber schönen Augen und wunderschönen Zügen. Man sah ihr an, eine große Familie dahinter, ein großer Kreis, das konnte man sofort erfassen. Sie sah mich mit sehr zweifelhaften Augen an, und das erste, was sie zu mir sagte, war: Glauben Sie etwa wirklich an diese Handgeschichte? Worauf ich ihr antwortete: Ich glaube es nicht, ich weiß. Ich weiß, daß daran etwas ist, was keine andere Seite der Psychologie geben kann. Worauf sie vollkommen verblüfft war und mich erstaunt ansah und mit großem Interesse. Wir saßen anderthalb Stunden zusammen, und das Endresultat war, daß Virginia Woolf mich sofort zum Tee am nächsten Sonntag in [...] in ihrer Wohnung einlädt. Sie war so fasziniert, und ich war so fasziniert, wir waren fasziniert von dem Vorgang, und das führte zu dieser immediaten Einladung. Ich werde nie vergessen, das habe ich auch verschwiegen, wie ich sie besucht habe, was sie mich alles gefragt hat, und ich sagte: Hören Sie mal zu, wollen sie mir erlauben, etwas ganz Ungewöhnliches zu machen? Ich möchte nicht, daß wir uns ansehen, wollen wir uns doch Rücken zu Rücken setzen und dann sprechen. Da haben wir ungefähr zwei Stunden Rücken zu Rücken gesprochen. Sie fühlte, daß sie niemandem wirklich ins Gesicht sehen konnte. Wenn sie frei sprechen sollte, dann war es wirklich wie ein Monolog, und es war ihr viel leichter, diesen Monolog zu halten, wenn sie kein Gegenüber hatte. So konnte sie mich kaum sehen, aber ich war da, und ich fand das wunderbar. Ich habe das sehr, sehr geschätzt, und ich habe es wirklich als eine Ehre empfunden.‖ (Charlotte Wolff) Für Charlotte Wolf sind die Handlesungen ein intuitiver Weg, TV-Sendung, London 1937 Seite 39 Menschen kennenzulernen. Dieses Kennenlernen aber ist kein einseitiger Vorgang, denn die Ängste der anderen, die sie auf einen Blick erfassen kann, sind ihr selber vertraut. Und dieses Vertrautsein mit der Angst wird zur großen Offenheit im Umgang miteinander. Sie macht kein Geheimnis aus der verzweifelten Lage, in der sie sich selber befindet. “Wenn ich Depressionen, sehr schwere Depressionen und das Gefühl der Einsamkeit hatte, das fing an ungefähr 1939 mit dem Anfang des Krieges, da fing es so furchtbar an, wie ich dann dasaß, da konnte ich nicht mal lesen, [...] da habe ich mir immer die Hände so an den Kopf gefaßt und stundenlang so dagesessen [...]. Oh, ich kenne das alles, und ich werde Ihnen was sagen, ich bin sehr zufrieden, ich lebe angenehm, nicht viel mehr als angenehm. Es ist mir sehr wichtig, daß ich durch all diese Gefühle und durch all diese Schwierigkeiten selber hindurchgegangen bin, denn dadurch habe ich ein solches Verständnis bekommen für alle Menschen in jeder Verfassung, in jeder Krankheit, in jeder seelischen, in jeder nervösen, in jeder menschlichen Situation.‖ (Charlotte Wolff) [...] Selber betroffen zu sein von dem, womit sie sich in ihrer Arbeit beschäftigt, ist Vorteil und Gefahr. [...] auch wenn es seelisch kranke und schwer leidende Menschen sind. ―Meine Methode war anders als die meisten Methoden hier im Lande. Ich habe nur eine gewisse Verwandtschaft mit der radikalen Psychotherapie und mit Dr. L., der auf einer vollkommen anderen Basis seine Behandlungen macht, nämlich der ganz gegen Drogen ist, dann seine eigenen Theorien hat, und das allerwichtigste, was ich vollkommen anerkenne: Er glaubt, daß man Menschen als Menschen und nicht als Kranke sehen soll, und daß man Menschen nur mit einem Gefühl und mit einem wirklichen inneren Wissen heilen kann, und das ist Liebe. Und ich wußte, daß eins nur möglich ist: Wenn Patienten mit ihren Angstzuständen, Depressionen zu mir kamen, daß man sie unterstützen, unterstützen soll, daß man ihnen zeigen soll, daß man für nichts anderes da ist, wenn sie da sind, als für sie.‖ (Charlotte Wolff) Diese Bereitschaft, sich soweit auf ihre Patienten einzulassen aber ist nichts, wozu sich Charlotte Wolff überwinden muß. Es ist für sie kein einseitiger Prozeß. Sie sieht in dem Vertrauen, das ihr entgegengebracht wird, ihren Lohn. ―Alles, was die mir erzählen, habe ich ja selber empfunden, denn wir sind ja alle alles, wenn wir nur ein bißchen aufpassen. Aber es ist ja doch auch eine große Erweiterung. Jeder Mensch ist eine Entdeckung. Das ist wie ein neuer Planet. Seite 40 So habe ich doch jedesmal, wenn ich einen Menschen, eine solche Begegnung, weiterführe, erstensmal habe und dann weiterführe, etwas gewonnen. Es ist ein gegenseitiger Einfluß und in den meisten Fällen ein gegenseitiger Gewinn. Ich habe soviel von diesen Menschen gelernt, und sie sind mir so wichtig, ich meine, es war sozusagen eine Art auch von Therapie für mich selber. Es war wunderbar, nicht nur meine Arbeit als Psychotherapeutin und Psychiaterin, auch in meinen Forschungen. Was mir diese Menschen gegeben haben, vielleicht war das viel mehr, als was ich ihnen gegeben habe. Es ist wechselseitig, in beiden Situationen, in der praktischen Arbeit, in der Arbeit als Psychiater und in der Arbeit als Forscher.‖ (Charlotte Wolff) Für Charlotte Wolff ist Arbeit immer etwas gewesen, was sehr persönlich mit ihrem Leben zusammenhängt. Auch mit dem, was sie in ihren Büchern beschreibt, meint sie ein Stück von sich selber. Ihre Erfahrungen im Umgang mit den seelisch Kranken und mit sich selber wird zur Basis für das, was sie als ihre eigentliche Berufung ansieht: Die psychologische Erforschung der menschlichen Emotionalität. Diese Nähe zur eigenen Erfahrung schildert sie in ihrer Autobiographie ―Innenwelt und Außenwelt‖: “Von dem Augenblick an wo Lisa eintrat, wußte ich, daß sich die Welt für mich geändert hatte, und daß jede Stadt eine andere Stadt sein würde, wenn Lisa da war. Sie hatte den Leib und die Bewegung eines Tänzers. Ihr Kopf war zu groß für ihre zierliche Statur, und er zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Das weiche, braune Haar hatte sie von einer hohen Stirn zurückgekämmt, und die Augen waren ebenso fesselnd wie der etwas vorstehende Mund mit den tiefroten Lippen. Sie war das faszinierendste menschliche Wesen, das ich je gesehen hatte: Eine russische Jüdin mit Südsee-Appeal. Ihre Freunde nannten sie ―Mona Lisa‖. Natürlich war es für mich Liebe auf den ersten Blick. Ich wartete und wartete auf die Stunde, die Minuten, in denen ich ungestört mit Lisa allein sein konnte. Sie lag gewöhnlich auf einer Chaiselongue in ihrem kleinen Zimmer, während ich neben ihr mit dem Rücken zur Tür auf einem Stuhl saß und immer besorgt auf andere lauschte, die eintreten und unser tête-à-tête unterbrechen könnten. Mein Horchen nach hinten war eine physische und nervöse Anspannung. Seite 41 Charlotte Wolff Frustrierung und Nervosität trugen wahrscheinlich dazu bei, in in Berlin, April mir ein Heimweh-Ideal für das Unerreichbare aufzubauen.‖ 1978 Dieses Heimweh-Ideal für das Unerreichbare findet in Charlotte Wolffs Sachbuch über die Liebe unter Frauen als Hang zur Romantisierung seinen Niederschlag. Für Charlotte Wolff ist in der lesbischen Liebe ein unausweichlich tragisches Element enthalten. Eine Erfahrung, die viele Lesbierinnen von heute nicht teilen. Die Frankfurter Soziologin Alexandra von Streit: “Am Anfang des Buches schreibt sie auch ziemlich viel über die Sache und schlägt einen direkten Bogen zu den Lesbierinnen von heute, die also nach wie vor ungebrochen dieses [...] Liebes-Ideal für sich aufrecht erhalten. Sie beschreibt das, was wirklich ungebrochen sich durch die Geschichte zieht, also mit sehr viel Idealismus und überhöht und schwärmerisch, sehr romantisch, und aber immer so ein bißchen getrübt oder ein bißchen beeinträchtigt von so einer Seite 42 Aussichtslosigkeit oder von so einer letztendlichen Unerfülltheit, so eine Traurigkeit zieht sich da durch.‖ Dieses Buch aber war das erste in Deutschland zum Thema weibliche Homosexualität, das nicht herablassend pathologische Phänomene beschrieb. Zwar geht es Charlotte Wolff vor allem um die Schattenseiten, aber sie gibt eine authentische Beschreibung, und das ist etwas, womit sie Betroffenheit ausgelöst hat. „Also es war schon irgendwo, würde ich sagen, so etwas wie eine Pionierfahrt, auch wenn es nicht als solche aufgenommen worden ist. Und dann kommt noch dazu, daß es von einer Frau geschrieben worden ist, bei der durchkommt, daß sie sich selber zu den Betroffenen zählt. Während andere Sachen, die es damals schon gegeben hat, soweit ich sie kenne, da schimmerte so etwas nie durch, da wurde also immer dieser neutrale Wissenschaftlerstandpunkt gewahrt, es kam also nicht raus, in welchem Maß der oder die Autorin selber mitverstrickt war in die Problematik. Und das kommt bei ihr einfach durch, und das finde ich sehr gut, also daß sie es auch nicht nötig hat, sich irgendwie wissenschaftlich zu distanzieren von dem Gegenstand, an dem sie arbeitet.‖ (Soziologin A. von St.) Charlotte Wolff hat Abwehr und Betroffenheit mit ihrem Buch ausgelöst. Eine Resonanz, auf die sie gefaßt war. Bei einem Besuch in Berlin, einer Einladung von Feministinnen, wird sie das erste mal konkret mit diesen Widersprüchen konfrontiert. Es stehen sich zwei Generationen gegenüber: Charlotte Wolff, damals achtundsiebzig, trifft Frauen, die einen offensiven Umgang mit dem Thema gewöhnt sind. Eva Rieger, eine der Veranstalterinnen, wußte, daß diese Begegnung auch ein Fiasko hätte werden können: “Ich glaube, diese Begegnung mit den jungen, radikalen Feministinnen war für sie eine ziemliche Belastung. Ersteinmal war sie es nicht gewohnt, mit so vielen Menschen zu diskutieren, und zwar hart zu diskutieren, zum zweiten war es ja ihr erster Besuch in Deutschland seit vielen Jahrzehnten, das hat sie auch emotional belastet. Zum dritten war es diese ganz und gar ungewöhnliche Umgebung, dieses verlotterte Fabrikgebäude, und die sehr anarchistisch wirkenden Frauen. Ich glaube, daß diese Dinge alle zusammengekommen sind, und es ist eigentlich erstaunlich, wie souverän sie diesen Abend bewältigt hat.‖ (Eva Rieger) Der Besuch in Deutschland ist für Charlotte Wolff eine Seite 43 Rückkehr in ein fremdes Land, das sie seit ihrer Emigration nicht wieder betreten hat. So ist diese Reise für sie auch eine Begegnung mit sich selber, mit einem Stück ihrer Vergangenheit, an das sie eigentlich nie wieder rühren wollte. Entschlossen, für immer alles Deutsche in sich zu verleugnen, hatte sich Charlotte Wolff seit ‗33 geweigert, ihre Muttersprache zu verwenden, in der Hoffnung, dem Trauma der Vertreibung so besser gewachsen zu sein. Aber das Deutschland, das sie vor fast einem halben Jahrhundert verlassen mußte, gibt es nicht mehr. Was sie seit ihrer Emigration zu hassen gelernt hat, steht ihr als eine fremde Welt gegenüber. Ihr Leben und das der Frauen, denen sie hier in Berlin begegnet, geht von Erfahrungen aus, die nur sehr schwer auf einen Nenner zu bringen sind. So ist der Abstand groß und für manche unüberbrückbar. Charlotte Wolff, die auch ein Jahr später an der Berliner Sommer-Universität der Frauen mit viel Applaus gefeiert wird, sieht sich zur Symbolfigur stilisiert, die sie nicht sein will. ―Ja, ich hatte überhaupt den Eindruck, daß sie so von Kritik eigentlich eher verschont wurde, sie wurde stattdessen sehr gefeiert und hat, daran erinnere ich mich auch noch besonders, wie sie so die Ovationen entgegengenommen hat. Sie stand auf mit leuchtenden Augen und streckte uns die Hände entgegen, also es war eine Huldigung, und sie hat es auch sehr genossen. Ich hatte ein bißchen den Eindruck, daß sie an den Konflikten in der Frauenbewegung nicht so sehr interessiert war oder zumindest sie nicht so wahrgenommen hat. Also diese Lesung, die sie gemacht hat, sie hat mich da allerdings, das ist eine persönliche Sache, sehr an meine Großmutter erinnert, wenn die mir, wenn ich krank war, Märchen vorlas; also sie liest so, wie wenn sie eben kleinen Kindern was vorliest, und das drückt vielleicht auch ein bißchen was aus von ihrer Haltung uns gegenüber, also diesen jüngeren Frauen gegenüber. Daß sie denen eben sehr wohlwollend gegenübertrat, aber zugleich mit so einer Überlegenheit, die sie auch unangreifbar machte.‖ (Eva Rieger) Es war für Charlotte Wolff eine Mutprobe, nach Deutschland zu reisen, denn nichts hat sie in ihrem Leben so gehaßt wie dieses Land. Für sie, gewohnt mit Wörtern und Sprache zu leben, für sie, Seite 44 die schreibend denkt und mit der Welt in Verbindung tritt, ist das Abgeschnittensein von der Muttersprache eine Art Hinrichtung gewesen. Sie kam 1933 mit dem Leben davon. Doch es ist nicht dasselbe Leben wie zuvor. Nach ihrer Vertreibung aus Deutschland war ihre psychologische Forschung eine schöpferische Kompensation, mit der sie den Verlust ihrer Sprache ausgleichen wollte. Trotzdem ist Sprache immer etwas gewesen, auf das sie sehr empfindlich reagiert hat. Sie zwang sich, ihre Bücher nicht in Deutsch zu schreiben, eine Entscheidung, mit der sie sich von etwas befreien will, wovon sie sich nicht befreien kann. Die Regisseurin Christel Buschmann, die vor Jahren zwei ihrer Bücher übersetzt hat, sieht Charlotte Wolffs Umgang mit der Sprache als Form von Abwehr: Sie ist ja eine intelligente Frau und lebt seit ‗36 in England, aber ihr Englisch ist derart Deutsch, nicht nur in der Aussprache sondern auch in der Syntax, daß ich es nur als so eine Abwehr begreifen kann, sich diesem neuen Land zu überlassen, das sie ja erstmal nicht freiwillig betreten hat, aber man sehr deutlich merkte, Wohnhaus von Charlotte Wolff, Redcliff Place 2, London Seite 45 das war eine große Schwierigkeit bei den Übersetzungen, daß sie im Grunde mit dem deutschen Wortschatz aus der Zeit ihr Englisch gelernt hat, aber das Deutsche eben nie ganz vergessen hat, und man ja Sprache und Denken auch nicht trennen kann. Und so war es einfach nötig, das Deutsch-Englische aus der damaligen Zeit in das Deutsch von heute zu übertragen, wozu auch gehörte, daß man andere Begriffe fand, und auch zum Teil Gefühle versuchen mußte, ein bißchen anders zu beschreiben. Im Groben gesprochen würde ich sagen, ich mußte versuchen, das Buch intellektuell ein bißchen anzuheben möchte ich nicht sagen, aber zu intellektualisieren.‖ (Christel Buschmann) Das Treffen, das Christel Buschmann damals mit Charlotte Wolff in London arrangiert hat, ist ihr heute noch gegenwärtig. Sie erinnert sich an eine eigenartige Faszination, die von der Offenheit herrührte, mit der Charlotte Wolff ihr begegnete. ―Ich habe von Charlotte Wolff zwei Bücher übersetzt ins Deutsche, und ich habe in diesem Text bei der Übersetzung sehr viele Eingriffe vorgenommen und wollte deshalb das Deutsche von ihr autorisieren lassen und wollte nach London fahren, wo Charlotte Wolff lebt. Der Verlag hat mir das Ticket und alles organisiert und rief aber drei Stunden vor meinem Abflug noch mal an und sagte, es sei dringend erforderlich, daß ich mir, bevor ich Charlotte Wolff treffe, ein Foto von ihr angucke. Ich fand das ein bißchen übertrieben und habe gefragt, warum, das wurde mir aber nicht erklärt, sie haben nur gesagt, das ist sicher besser für Sie. Dann wurde mir das Foto geschickt, und es hat mich auch ein bißchen verwirrt zu meinen, wenn man etwas sehr Autobiographisches von einer Person übersetzt, sich schon natürlich Vorstellungen macht von ihrer Erscheinung. Und meine Vorstellungen waren anders, zum anderen aber auch, weil es ein fast abstoßendes, männliches Frauengesicht zeigte. Ich war also vielleicht doch ganz froh, das Foto zu haben. Ich flog dann nach London und klingelte bei Charlotte Wolff. Mir wurde aufgemacht, und ich stand am unteren Ende einer langen, steilen Treppe, und ganz oben erschien eine sehr zarte, kleine, eher zerbrechliche Frau, die überhaupt in ihrem Gesicht nichts von diesem Erschreckenden hatte, was es auf dem Foto hatte, und sie verschwand gleich wieder. Ich ging dann die Treppe rauf, und sie saß ziemlich erschöpft und immer wieder ―das kann ich nicht fassen‖ sagend in einem Stuhl. Seite 46 Und was sie dann nicht fassen konnte, war mein Alter. Sie hatte sich vorgestellt, ich sei sechzig, was ungefähr ihrer Altersklasse entsprach, und ich war damals vierundzwanzig. Und durch diese ihre Reaktion war die Beziehung von vornherein nicht mehr sehr [...]. Sie fand gleich auf einer sehr privaten Ebene statt und nicht auf der professionellen, daß ich mich jetzt absprechen wollte, welche Texte sie billigt und welche eventuell nicht. Und es ging noch eine ganze Weile privat weiter. Sie diagnostizierte dann meine Hände und fing immer an, irgendwelche Erkenntnisse zu haben dazu. Und dann erschien eine weitere alte Dame, die brachte Kuchen und Sekt. Und ich fühlte mich so ein bißchen zu Hause oder bei meiner Oma, und es war irgendwie eine sehr angenehme Atmosphäre, und man hatte das Gefühl, sich sehr lange zu kennen. Man macht sich natürlich nie klar in so einem Moment, wo alles gut zu gehen scheint, daß so ein emotionales Einverständnis auch Gefahren in sich birgt, denn ich habe Charlotte Wolff natürlich auch als eine sehr empfindsame Person kennengelernt, die sehr viele Verletzungen hat hinnehmen müssen, schon durch die Tatsache, daß sie Jüdin ist, und daß sie emigrieren mußte, was sie nicht wollte, und daß sie also einen unheimlichen Überhang, eigentlich einen ständigen Nachholbedarf an deutschen Erlebnissen und deutschen Erfahrungen hatte, und daß sie sehr wohl verfolgen würde, wie die Übersetzung oder das Buch in Deutschland aufgenommen werden würde. Und mir wurde auch gesagt, daß sie, als sie tatsächlich einmal vor ein paar Jahren zum ersten Mal nach dreißig-, vierzigjähriger Abwesenheit nach Berlin kam, daß sie die Übersetzung plötzlich bemängelt hatte. Das sind Dinge, die glaube ich zu ihrer Person gehören, und ich nehme sie ihr auch nicht übel. Sie ist jemand, wenn ich sie anrufen würde, das und das ist mir zu Ohren gekommen, würde sie das sicher bestreiten und würde mir sagen, wie gut sie mich findet. Ich glaube, daß einige Übersetzerinnen solche Erfahrungen mit ihr haben. Man sollte es aber nicht zu engstirnig beurteilen, weil sie eben, was das Deutsche und was Deutschland betrifft, total verunsichert ist auf der einen Seite und eine totale Fixierung hat auf Anerkennung. Und alles, was dieser Anerkennung im Wege steht, also auch jemand, der womöglich schlecht übersetzt, oder von dem es nur irgendjemand sagt, das quält sie und kränkt sie und verhindert sozusagen die Möglichkeit, ihre Vergangenheit zu kompensieren. Seite 47 (Chr. B.) Charlotte Wolff hat diesen Zwiespalt in sich als das Leitmotiv ihres Lebens beschrieben. Die Einsicht in ihre Isolation aber ist nicht frei von der Verzweiflung auf etwas zu hoffen, was für sie unerreichbar bleibt. Es ist die Verletzlichkeit der Stigmatisierten, die Sehnsucht nach einer Geborgenheit, die ihr verweigert wird. Ein Versuch, das zu begreifen und literarisch umzusetzen, ist ihr Roman ―Flickwerk‖. Es ist das leidenschaftliche Protokoll einer Dreiecksbeziehung, in die sie verstrickt ist. Die Frauen, deren Liebe sie begehrt aber nicht bekommen kann, sind alt, zwischen fünfundsechzig und achtzig. Aber die Leidenschaft, die alle aneinanderkettet, ist es nicht. Die Frauen, auf die sich alle Hoffnungen und Ängste konzentrieren, heißen Caroline und Christabel, zwei Engländerinnen aus puritanisch geprägter Umgebung. Sie leben in einer ländlichen Idylle. Über die lesbischen Hintergründe ihrer Beziehungen wissen sie nichts. “Mein geschulter Blick wachte diesen ganzen Abend hindurch, und mir entging nicht, daß Caroline Christabel mit zu vielen Liebkosungen überhäufte. Nie zuvor hatte sie sie in meiner Gegenwart so behandelt. Ihre Quäkerbeziehung verbot ihr im allgemeinen ein demonstratives Verhalten. Und in Carolines Stimme lag ein bittender Ton, der ihrem Temperament und ihren üblichen Ausdrucksmitteln zuwiderlief.‖ (Aus ―Flickwerk‖) Dem geschulten Blick der Psychiaterin entgehen sie nicht: All die Gesten, in denen versteckte Gefühle füreinander sichtbar werden. Doch alle Zeichen sprechen gegen sie. Sie muß begreifen, daß sie jahrelang nur Statistin in der Beziehung dieser Frauen war. “Ich wollte daran denken, daß ich ihre liebste Freundin war, und sie mir nach Christabel die meiste Zuneigung entgegenbrachte. Aber stimmte das wirklich? Wieder quälte mich das alte Problem. Sonst hatte sie mich immer so voller Freude und Zärtlichkeit angesehen, daß ich Auftrieb bekam, förmlich wuchs. Diese Ungewißheit jedoch, hervorgerufen durch ihre kühle Begrüßung, brachte mich ganz aus dem Gleichgewicht.‖ (Aus ―Flickwerk‖) Für die Erzählerin ist ihre Liebe zu den beiden Frauen immer ambivalent gewesen. Verachtung für die weltferne Frömmelei, in der sie gefangen sind, aber auch Neid um die Geborgenheit, in der sie leben. ―Die beiden, die so tief in ihrer fremden Welt verwurzelt waren, gingen mir nicht aus dem Sinn. Für mich war ihr religiöser Seite 48 Glaube eine Illusion, aber ich beneidete sie um den Halt, den er ihnen gab. Schließlich ist die Illusion oftmals eine bessere Lebensbasis als die Realität. Illusion ist eine Begabung, die den Arglosen zueigen ist.‖ (Aus ―Flickwerk‖) Für Charlotte Wolff ist dieses Buch der Versuch einer Distanzierung gewesen. Es ist die literarische Rache an einer Welt, in der sie Aufnahme gesucht aber nicht gefunden hat. Sie hat die Niederlage für sich in einen Sieg umgewandelt. Freiwillig setzt sie dieser Beziehung ein Ende, weil sie begreift, daß sie in dieser fremden Welt nie heimisch werden wird. In London, wo sie wohnt aber, wird sie auch nicht zu Hause sein. “Ich hasse die Rückkehr nach London. Verlorenheit überfällt mich, wenn der Zug sich der Stadt nähert. Ein Gefühl von Panik erfaßt mich. Die schmutzigen Fassaden der Häuser entlang der Schienen, Opfer der Gewalt des Lärms, all das ist eine finstere Reklame für das Leben in der Stadt. Die Häuser scheinen sich an nichts als Schmutz und Aufruhr zu erinnern und symbolisieren die seelenlose Gesellschaft der Metropole. Spitze Hochhäuser, verstreut zwischen verfallenen alten Bauten, sind weitere Zeugen eines traurigen Schicksals, dem immer größeren Identitätsverlust einer Stadt. Wohin ich zurückkehrte, war nicht mein Zuhause. Nur ein Platz zum Leben. Mir wurde klar, daß es, wo immer ich mich auch niederließ, nicht anders sein würde.‖ Transkription von: Anouchka Hein, Kollegiatin im Leistungskurs Deutsch, Abiturlehrgang 24, 26.02.1997 Seite 49 „Für mich ist die Frauenbewegung die größte Revolution aller Zeiten" Im Gespräch: Charlotte Wolff Psychologie Heute, Heft Mai 1981, S. 30-38 ,, ... Denn sie verändert die Beziehung zwischen Frau und Mann - und daher die Geschichte.“ Das sagt keine junge Feministin, sondern eine 80 jährige Wissenschaftlerin, die sich vor allem auf dem Gebiet der Sexualforschung - durch ihre Bücher ,,Die Psychologie der lesbischen Liebe“ und ,,Bisexualität“ - einen Namen machte. Daß sie aber auch eine wissenschaftliche Theorie psychologischer Hand-Diagnostik entwickelte, Lyrik, philosophische Essays, einen Roman und zwei Autobiographien schrieb, schildert sie in dem folgenden Gespräch. Und sie begründet, warum sie der Ansicht ist: ,,Wir sind auf dem Weg in eine bisexuelle Gesellschaft“. Psychologie heute: Frau Dr. Wolff, Sie sind 80 Jahre alt, seit über 50 Jahren Wissenschaftlerin. Auffallend ist, daß Sie gerade in den letzten fünf Jahren drei Bücher veröffentlicht haben, davon jedes in einem anderen Genre: ,,Flickwerk―, ein Roman über die Freundschaft zwischen drei Frauen; ,,Bisexualität―, eine empirisch-psychologische Studie - die erste überhaupt zu diesem Thema - und ,,Hindsight―, zu deutsch: späte Einsicht, ihre zweite Autobiografie. Kann man sagen, daß die letzten Jahre die produktivsten in Ihrem Leben waren und sind, oder arbeiten Sie jetzt sozusagen Lebenserkenntnisse auf? Charlotte Wolff: Das erstere stimmt sicherlich, aber ich würde die Gliederung etwas anders vornehmen. Ich hatte zwei kreative Perioden. Die erste kurz nachdem ich aus Deutschland entkommen bin die Forschung über die menschliche Hand, die mich zu weiteren Arbeiten über menschliche Gestik führte. Sie nahm ungefähr zwanzig Jahre in Anspruch, von 1932 bis 1952. Dann kam eine große Pause, in der ich als Psychiaterin praktizierte. Die zweite Forschungsperiode begann etwas früher, als Sie annehmen. Denn die Arbeit ,,Love between Women―, deutsch: ,,Die Psychologie der lesbischen Liebe― wurde 1971 veröffentlicht. Sexualwissenschaftliche Forschung habe ich von 1968 bis etwa 1978 betrieben. P.H.: Sie hatten 1968 gerade Ihre erste Autobiografie ,,Innenwelt und Außenwelt― beendet. Gibt es einen Zusammenhang zwi- Seite 50 schen dieser Autobiografie und den kurz darauf beginnenden Forschungsarbeiten? Wolff: Ich hatte einen Essay für die Autobiografie geschrieben, den ich ,,Weibliche Homosexualität― nannte. Dieser Aufsatz machte mich selbst neugierig. Ich wollte mehr und systematischer, also wissenschaftlich-empirisch darüber arbeiten. Bei den Interviews mit den lesbischen und ,,normalen― Frauen wurde mir dann klar, daß man erst mal die Bisexualität an sich verstehen muß. Denn sehr viele der Frauen hatten Beziehungen zu Männern oder waren sogar verheiratet, bevor sie feststellten, daß sie viel befriedigender - emotional, physisch, in jeder Hinsicht - mit einer Frau zusammensein konnten. Diese Erkenntnis führte mich direkt zum Thema Bisexualität, ein Begriff, der früher für psychosexuelle Variationen und Deviationen aller Art verwendet wurde. Aber all die Forscher, deren Artikel und Bücher ich las, konnten keine definitive Aussage über die Bisexualität an sich machen. Freud hatte in seinen späten Jahren die Bescheidenheit und den wirklich wissenschaftlichen Geist, zuzugeben, daß er die Bisexualität nicht verstanden hat. Das brachte mich dazu, Bisexualität wissenschaftlich zu untersuchen. P. H.: Immerhin acht Jahre liegen zwischen der Studie über lesbische Liebe und der über Bisexualität. Kam Ihnen etwas dazwischen? Wolff: Nachdem ich die lesbische Frage, soweit ich konnte, beantwortet hatte, war ich sehr müde. Obwohl ich schon in mir den Trieb spürte, weiterzugehen und die Bisexualität zu untersuchen, dachte ich: Ich habe nicht die Kraft... P. H.: Sie waren ja bei Abschluß Ihres Buches ,,Die Psychologie der lesbischen Liebe― bereits über siebzig Jahre alt Wolff: ... aber es war mir unmöglich, einfach so dazusitzen und nichts zu tun. Und da ich früher einen Hang zum Literarischen hatte und ihn auch behielt, dachte ich jetzt: Ich muß einmal etwas ganz anderes machen - und habe einen Roman geschrieben, der hier in England 1976 unter dem Titel ,,An Older Love― und in Deutschland unter dem Titel ,,Flickwerk― veröffentlicht wurde. Es war ein wunderbares Gefühl, nach einigen Monaten etwas Neues, allein aus dem eigenen Kopf heraus produziert zu haben. Aber die Arbeit selbst, vor einem leeren Blatt Papier zu sitzen und alles aus dem eigenen Inneren herauskommen zu lassen, war viel schwieriger für mich als jede wissenschaftliche Arbeit. Zu der ich nach diesem Zwischenspiel auch wieder zurückkehrte. Der Roman war noch nicht erschienen, da habe ich schon angefangen, 150 Männer und Frauen zu interviewen, als Seite 51 Studienmaterial für mein Buch ,,Bisexualität―. P.H: Sie waren Ärztin, Forscherin, Psychotherapeutin, Schriftstellerin, und danach, bis heute, wieder Forscherin. Was hat Sie jeweils nach ein paar Jahren auf dem einen Gebiet bewogen, sich einem anderen zuzuwenden? Wolff: Das ist eine Frage des Temperaments, der inneren Triebfeder, der Neugier, und vor allem war es das Gefühl: Wenn ich jetzt nicht bald etwas anderes mache, werde ich alt. P. H.: Meinen Sie das im Sinne von zuviel Routine? Wolff: In dem Sinne, daß etwas, was sehr lebendig ist oder war, plötzlich eingerahmt wird. Ich kann Rahmen nicht vertragen. Daraus mußte ich immer mal wieder ausbrechen, um meine Vitalität zu erhalten. P. H.: In zwei sehr verschiedenen Forschungsbereichen haben Sie Pionierarbeit geleistet. Zunächst die Frage zum ersten: Wie sind Sie auf das Forschungsthema ,,Die menschliche Hand― gekommen? Sie haben damals im Berlin der Weimarer Republik mit anderen Kollegen zusammen den ersten sozialmedizinischen Dienst aufgebaut, im Rahmen der Ambulatorien der Krankenkassen. Wo gab es da die Verbindung? Wolff: Zwei Kollegen des Ambulatoriums sagten mir, daß - es war 1931- ein sehr interessanter Mann in Berlin war, Julius Spier, der Kurse für Mediziner in Chirologie (Handdeutung) gab. Ich ging hin und sah, daß dieser Mann sehr begabt war. Er hatte zwar nicht wissenschaftlich, aber intellektuell eine Methode entwickelt, Beziehungen zwischen Hand und Persönlichkeit, zwischen Hand und Gesundheit herauszufinden. Ich bekam den Eindruck, daß es sich lohnen würde, die Bedeutung der Hände wissenschaftlich zu untersuchen. Als der Nazi-Terror dann schlimmer wurde, hat mich der Chefarzt der Ambulatorien versetzt, und ich wurde Direktorin eines physiotherapeutischen Instituts. Während der Zeit .dort untersuchte ich zunächst heimlich - aber es kam dann heraus - die Hände meiner Patienten. P. H.: War Ihre Flucht aus Deutschland 1933 auch ein Einschnitt in Ihrer Arbeit? Wolff: Ja, aber ich nahm sie bald wieder auf. Dazu kam: In den drei Jahren, die ich nach meiner Flucht in Paris lebte, wurde - ebenso wie in England zunächst, wo ich seit 1936 lebe - mein ,,Dr. med.― nicht anerkannt. Meine Freunde, vor allem Aldous und Maria Huxley, verbreiteten die Kunde, daß ich etwas von Chirologie verstünde, und das wurde dann zunächst auch die einzige Möglichkeit, meinen Le- Seite 52 bensunterhalt zu verdienen. P. H.: Sie beschreiben in Ihren Autobiografien, daß die damals wohl kreativste künstlerische Gruppe, die Surrealisten - darunter Antoine de St. Exupery, Maurice Ravel, Paul Eluard, die Brüder Klossowski und viele andere - Sie sehr unterstützt haben. In welcher Hinsicht? Wolff: Zum einen konnte ich meinen Lebensunterhalt dadurch verdienen, daß ich ihre Hände, und die vieler weniger berühmter Menschen analysierte. Für die Erhaltung meiner Selbstachtung war es dabei wichtig, daß es mir offiziell erlaubt wurde, an meine ,,Handdeutungen― psychologische Konsultationen anzuschließen. Zum anderen haben die Surrealisten es mir ermöglicht, in ihrer Zeitschrift MINOTAURE den ersten Entwurf einer psychologischen Theorie der Hand zu veröffentlichen. Meine wissenschaftliche Arbeit zu diesem Thema erlebte einen großen Fortschritt durch die Unterstützung von Professor Henri Wallon. Er lud mich ein, seine wöchentlichen Klinika psychiatrischer und neurologischer Fälle zu besuchen und erlaubte mir, die Hände von Geistesgestörten und psychisch Kranken zu untersuchen. Als ich dann nach London übersiedelte, war es für den Fortgang meiner Arbeit geradezu wesentlich, daß ich Julian Huxley kennenlernte, der mich einlud, die ganze Affenbevölkerung im zoologischen Garten Londons zu untersuchen, was ich auch tat. P. H.: Immerhin konnten Sie daraufhin die Theorie widerlegen, daß die Menschen direkt von Menschenaffen abstammen. Wir müssen - so Ihre Schlußfolgerung - von einem früheren Affen-,,Zweig― abstammen. Wolff: Ganz recht, aber diese Erkenntnis war eine Seitenlinie. So untersuchte ich die Hände von kranken Kindern, delinquenten Jugendlichen, psychiatrischen Patienten, Schauspielern, Boxern, Flüchtlingsfamilien, ganz ,,normalen― Leuten - etwa Schülern und Studenten -, alten Menschen ... Es waren Tausende von Daten, die ich zum Teil unter experimentalpsychologischen Bedingungen am University College of London sammelte. Dort konnte ich nur die Hände, die mir durch einen Vorhang entgegengestreckt wurden, sehen, nicht den Rest der Person. Ich mußte dann über die Hände sowohl medizinischendokrinologische, als auch psychologische Gutachten anfertigen, die dann mit Selbsteinschätzungen der jeweiligen Person und Fremdeinschätzungen aufgrund anderer psychologischer Diagnosen verglichen wurden. Veröffentlichungen in den PROCEEDINGS OFTHE ZOOLOGICAL SOCIETY, dem BRITISH JOURNAL OF MEDICAL Seite 53 PSYCHOLOGY und dem JOURNAL FOR MENTAL SCIENCE brachten mir dann auf diesem bis dato doch etwas ,,anrüchigen― Forschungsgebiet wissenschaftliche Anerkennung. P.H.: Und die Ehrenmitgliedschaft in der British Psychological Society. Wolff: Ja, das war 1941. Ich weiß diese seltene Auszeichnung zu schätzen. Damals war das schon eine kleine Sensation, denn es bedeutete, daß die Standesorganisation der Psychologen damals die Arbeiten einer Ärztin über die menschliche Hand auch von psychologischer Seite her anerkannte. Die enorme Paradoxie lag darin, daß mir erst neun Jahre später, 1952, erlaubt wurde, auch als Ärztin zu praktizieren, weil sich dann auch die formellen Voraussetzungen dazu günstig verändert hatten. P. H.: Sie haben dann noch zwei Bücher, ,,The Human Hand― und ,,The Hand in Psychological Diagnosis― veröffentlicht, und dann, nach 20 Jahren Forschung, plötzlich damit aufgehört. Hängt das mit Ihrer Registrierung als Ärztin zusammen? Wolff: Da sagen Sie etwas Richtiges. Nachdem ich einerseits wissenschaftlich anerkannt wurde, andererseits wieder als ,,richtige Ärztin― galt - da sehen Sie, was man manchmal für Minderwertigkeitsgefühle mit sich herumträgt -, hatte ich die Begeisterung, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. P. H.: Das einzige, was auf deutsch von Ihren umfangreichen Arbeiten zur menschlichen Hand erschienen ist, ist das Buch ,,Die Hand des Menschen―, eine wohl sehr verunglückte Übersetzung von ,,The Human Hand―. Wolff: Das ist eine schreckliche Geschichte. Ich habe damals dem Verleger geschrieben, der mir die Druckfahnen zur Korrektur schickte, daß ich für dieses Buch jede Verantwortung ablehne, weil es - falsch und unwissenschaftlich übersetzt - mit meinem Original so gut wie nichts zu tun hat. Nur mein ,,emotionaler eiserner Vorhang― gegenüber Deutschland hat mich davon abgehalten, vor Gericht zu gehen. P. H.: Bei aller Verfälschung, die es bei der Übersetzung gegeben haben mag - mich hat die psychologische Seite Ihrer Interpretation irritiert. Daß Sie Form und Linien der Hand so viel psychologische Bedeutung zumessen, erscheint mir fragwürdig. Daß sich Triebe, IchStärke, Intelligenz und Emotionalität aus den Handlinien ablesen läßt, bezweifle ich. Haben Sie da nicht zuviel in Ihre Daten hineininterpretiert? Ist das nicht zu spekulativ? Seite 54 Wolff: Das stimmt, Sie haben vollkommen recht. Es gibt zwar keinen Zweifel darüber, daß bestimmte Formen der Hand - Nägel, äußere Form und Qualität der Haut - durch genetische und hormonale Faktoren gekennzeichnet sind. Weiterhin besteht kein Zweifel darüber, daß besonders Emotionen, aber auch Intelligenz, schon von Kindheit an dazu führen, daß mit der Hand eine bestimmte Variation von Bewegungen ausgeführt wird, die sich in den Formen und Linien der Hand irgendwie widerspiegeln. Daß also letztlich auch die Handlinien von der Persönlichkeit beeinflußt werden. Mehr kann man nicht sagen, aber auch nicht weniger. P. H.: Was haben die Linien mit den Bewegungen der Hand zu tun? Wolff: In mittel- und nordeuropäischen - im Gegensatz etwa zu lateinischen und afrikanischen - Ländern werden durch Hemmungen und Regeln Gesten unterdrückt. Wenn bei einem Menschen von früh an eine lebhafte Gestik besteht, werden Linien in der Hand verändert - oder zumindest vertieft und verstärkt - und neue gebildet. Gestik entspringt der Notwendigkeit zum Ausdruck - also der Emotion. Daher sind emotionale Potenzen und Ausdrucksmöglichkeiten in der Hand erkennbar. Können Sie das akzeptieren? P. H.: Es klingt plausibel. Trotzdem würde ich mir niemals zutrauen, jemandem irgend etwas aus der Hand herauszulesen. Wolff: Ich könnte aus der Formation der Handformen und - Linien schon eine gewisse Einsicht in emotionale Reaktionen bekommen, denn die Formation ist abhängig vom endokrinen System, also von den Hormonen. Sie sind - mit ihrer Repräsentation im Mittelhirn und durch das vegetative Nervensystem - wesentlich für das Fühlen von Emotionen. Wer aber hergeht und aus einzelnen Linien das individuelle Schicksal herauslesen will, ist ein Scharlatan. Man kann nur so viel sehen, wie die Hand ein Spiegel des endokrinen Systems ist. P. H.: Mit anderen Worten: Die Zukunft eines Menschen können Sie nicht aus seiner Hand lesen? Wolff: Um Gottes willen, das ist absoluter Blödsinn. Chiromantie ist kompletter Unsinn. P. H.: Intuition scheint bei der Handanalyse eine große Rolle zu spielen. Wolff: Selbstverständlich, wie auch in der Psychotherapie. Inzwischen ist bekannt: Ein Psychotherapeut ohne Intuition ist praktisch wertlos, er verkommt zum Technokraten. Aber ich gebe Ihnen in einem vollkommen recht: Ich habe in ,,The Human Hand― psycho- Seite 55 logische Spekulationen angestellt, an die ich heute nicht mehr glaube. Meine Arbeiten haben einen Überblick über ein Forschungsgebiet gegeben, auf dem heute jüngere Wissenschaftler aufbauen. Definitive Aussagen aber über Persönlichkeitseigenschaften konnte ich aus meinen Daten noch nicht gewinnen. Da bin ich - das muß ich aus meiner heutigen Distanz sagen - an einigen Stellen zu weit gegangen. Und trotzdem: Vor unserem Gespräch habe ich, nach fast vierzig Jahren, „The Human Hand“ noch einmal durchgelesen und an einigen Stellen gedacht: Donnerwetter, das ist gar nicht schlecht. P. H.: Sehen Sie sich heute noch manchmal die Hände von Menschen an? Wolff: Nein, überhaupt nicht, das Thema habe ich 1952 abgeschlossen, es interessiert mich nicht mehr. P. H.: Fünfzehn Jahre später haben Sie sich Ihrem zweiten Forschungsgebiet zugewandt, das Sie bis heute beschäftigt. Obwohl Sie vorhin dazu schon etwas sagten, möchte ich noch einmal ausdrücklich nachfragen: Was an dem Thema lesbische Liebe hat Sie so fasziniert, daß Sie Ihre psychotherapeutische Praxis weitgehend aufgegeben haben, um darüber systematisch zu arbeiten? Wolff: Ich selbst. Das kam jetzt wie aus der Pistole geschossen, aber es ist die Wahrheit. Das Urmotiv war meine eigene Liebe zu Frauen. Viele glauben heute, daß Ich ihnen Märchen erzähle, aber es ist wahr: Ich hatte das Glück, unter aufgeschlossenen Menschen meine Jugend zu verbringen. Weder meine Eltern noch meine Verwandten, weder meine Kollegen noch meine Freunde haben irgend etwas dabei gefunden, daß ich Frauen liebte. Und so betrachtete ich das auch als eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit, was für mich persönlich die natürlichste Sache der Welt war. Plötzlich, als ich hier nach England kam, galt es als nicht natürlich. Ich selbst befand mich zwar in einer relativ privilegierten Situation und war daher geschützt, aber ich sah homosexuelle Männer und Frauen, die für die Anerkennung dieser Selbstverständlichkeit kämpfen mußten; die sich als Diskriminierte in Gruppen zusammenschließen mußten. um gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen. Ich sah, daß diese Menschen wirklich in einer Notlage waren, weil sie ekelhaft behandelt wurden. Da habe ich zunächst ganz naiv gedacht: Um Gottes willen, was ist denn hier los? Da muß ich mehr drüber wissen. P. H.: Was genau wollten Sie wissen? Wolff: Zunächst: Was ist die wirkliche Natur dieser Art von Liebe? Meine persönliche Überzeugung war und ist: Liebe ist eine Sache Seite 56 zwischen zwei Frauen. Nun wollte ich wissen, wie das bei anderen Menschen ist, die sich homosexuell nennen. P. H.: Ein Wissenschaftler, der zugibt, parteilich, weil selbst betroffen zu sein - muß der nicht fürchten, als ,,befangen― abgelehnt zu werden? Was haben Sie bei Veröffentlichungen Ihrer Arbeiten da für Erfahrungen gemacht? Wolff: Es gibt eine Reihe von Rezensionen des Buches ,,Love between Women― (,,Die Psychologie der lesbischen Liebe―), die meine persönliche Beteiligung an dem Thema positiv hervorheben. Sogar eine medizinische Fachzeitschrift schrieb: ,,Es ist klar, daß das eigene Interesse der Autorin an dem Thema ihr das große Vertrauen der von ihr Untersuchten einbrachte―. P. H.: Gerade aufgrund Ihrer Betroffenheit und Ihres Engagements fordern zwei Stellen in Ihrem Buch ,,Die Psychologie der lesbischen Liebe― zum Widerspruch heraus. Die erste Passage lautet: ,,Ein Element unausweichlicher Frustration gibt der lesbischen Liebe mehr noch als der männlichen Homosexualität einen tragischen Anstrich. Dies hat seinen Grund in der Unmöglichkeit sexueller Erfüllung, und spezieller noch, in der Kinderlosigkeit... Sehnsucht erwächst aus Frustrationen und dem Wunsch nach Unerreichbarem, der untrennbar mit lesbischer Liebe verbunden ist. Natürlich impliziert jede Liebe Leiden und Verlangen, aber bei lesbischen Frauen beruht die Sehnsucht auf einem naturgesetzten physischen Manko.― Wolff: Das bedeutet: Bei manchen lesbischen Beziehungen liegt das große Problem in der Kinderlosigkeit, eine Sache, mit der sich diese Frauen abfinden müssen. Die deutsche Übersetzung ist hier unrichtig, denn es ist nicht der Ausdruck ,,Manko― gemeint, sondern so etwas wie ,,Schranke―. P. H.: Die ganze Passage bezieht sich also, sagen Sie, nur auf die Kinderlosigkeit, nicht auf die gesamte Sexualität? Wolff: Natürlich nicht auf die Sexualität. Im Gegenteil! Ich glaube, daß der genitale Akt, wenn überhaupt, zweit- oder drittrangig ist. Das Zentrum der lesbischen Liebe ist die Emotion und die Sensualität - die Sinnlichkeit. Alles liegt im ganzen Körper. Natürlich sind die Genitalien die empfindlichsten erogenen Zonen, aber es ist das Ganze, was zählt. Und das ist nur zu verstehen in Berührung und Empfinden zwischen zwei Menschen, die ähnlich sind, deren nervöses und HautSystem eine Ähnlichkeit hat, wie sie demselben Geschlecht entspricht. Frau mit Frau und Mann mit Mann - Homosexualität ist absolut natürlich. Das kommt in den Ergebnissen meiner Untersuchung zum Seite 57 Ausdruck, und das ist es, was ich unter physischer Liebe verstehe. Aber die Genitalien als das Zentrum der Liebe anzusehen - das ist ein Sakrileg. Ich glaube an die Liebe! Es klingt so komisch. so banal, wenn man das sagt, aber es ist sehr wichtig. Das Genitale erhält nur Sinn durch die erotische Imagination, sonst ist es eine mechanische Sache. P. H.: Eine weitere Passage - vielleicht auch ein Mißverständnis oder schlechte Übersetzung - ist Ihre Erklärung der lesbischen Liebe. Da heißt es, der Ursprung und in gewissem Sinne der Zweck der lesbischen Liebe sei der ,,emotionale Inzest mit der Mutter―. Glauben Sie wirklich, daß das der Urgrund und die alleinige Erklärung der lesbischen Liebe ist? Wolff: Nein. Es ist die am meisten zutreffende Erklärung, besonders in unserer heutigen falschen Wirklichkeit. Das muß ich näher erklären. Die Mutter ist in dieser blödsinnigen patriarchalischen Gesellschaft auf den Sohn viel mehr eingestellt als auf die Tochter. Darum ist in den meisten Fällen - nicht in allen - die Beziehung zwischen Mutter und Tochter von Natur aus gespannt. Die Mutter ist enttäuscht, wenn sie keinen Sohn hat, besonders wenn es das erste Kind ist. Im allgemeinen ist die Mutter-Tochter-Beziehung weniger eng. Mehr noch, sie enthält eine Spannung, etwas ,,Nicht-ganz-Richtiges―. das ich Frustration nenne. Diese erzeugt in der Tochter die Sehnsucht danach, dasselbe, das Ganze zu haben, was die Mutter in unserer verkehrten Welt viel eher, nämlich zu 95 oder 99 Prozent, mit dem Sohn hat. Was die Bisexualität angeht, gehe ich soweit zu behaupten: Es ist nur möglich, eine bisexuelle, das heißt balancierte Welt zu schaffen, wenn schon lange vor der Geburt eines Kindes keine Höherbewertung auf das eine oder andere Geschlecht gerichtet ist. Das ist aber immer noch nicht der Fall. Und so lange stimmt meine Erklärung auch noch weitgehend. Macht Ihnen das Sinn? P. H.: Auch nur für einen gewissen Teil der lesbischen Frauen, bei anderen ergibt diese Erklärung keinen Sinn. Etwa dann, wenn sich eine Mutter nichts mehr wünscht als eine Tochter und wenn die Mutter die Kinder allein aufzieht - typisch für die Nachkriegsgeneration. Auch dann kann die Beziehung zwischen Mutter und Tochter sehr eng sein, ohne durch eine männliche Konkurrenz überschattet zu sein. Worin liegt dann die Erklärung für das Lesbischwerden der Tochter? Wolff: In der Nähe zu ihrer Mutter. Dann ist es in einem positiven Sinn ein ,,incestuous emotional― - Verhältnis mit der Mutter. Seite 58 Dann spielen Eifersucht und Minderwertigkeitsgefühle keine Rolle was für ein Glück! P. H.: Ich störe mich an dem Begriff ,,Inzest―. Im Deutschen ist er genau mit dem genital-sexuellen Bedeutungsgehalt beladen, den Sie wohl gerade nicht meinen. Wolff: Nein, ich meine emotionale Nähe, das vollkommene Zusammensein. P. H.: Wäre nicht der Begriff ,,Symbiose― besser gewählt gewesen? Nach dem, wie ich Sie jetzt verstehe, umschreibt er genau das, was Sie meinen. Wolff: Symbiose - das ist viel besser. Es ist eine emotionale Symbiose, die die Tochter stellvertretend für ihre Beziehung zur Mutter mit einer anderen Frau eingeht. Ich will aber noch einmal betonen: Alles, was man heute darüber sagen kann, ist zeitgebunden. Meine Untersuchung habe ich Ende der sechziger Jahre durchgeführt. P. H: Vieles, was Sie. an psychischen Deformationen der lesbischen Frauen beschrieben haben, beruhten meiner Meinung nach auf einer ganz bestimmten Situation der lesbischen Frauen: ,,In the Closet―, in einem gesellschaftlichen Ghetto zu sein. Wolff: ... absolut richtig, diese Frauen waren in der Situation der Verfolgten. P.H.: ... und daraus ergab sich die zum Teil berechtigte, zum Teil unberechtigte Paranoia, die Sie beschrieben haben: Aufpassen, nicht entdeckt zu werden, Verlustangst, Eifersucht, eine bestimmte Aggressivität, geringes Selbstwertgefühl ... Wolff: Alles ausgelöst durch Umweltbedingungen, durch unsere verlogene Gesellschaft. Einige lesbische Frauen treffen Verabredungen mit Männern zum ,,Vorzeigen―, um nach außen hin zu beweisen, daß sie ,,normal― sind. Sie geben sich super-,,weiblich―, um keinen Verdacht auf sich zu lenken und so weiter. P.H: Inzwischen hat sich die Situation aber schon verändert, Frauenbewegung und Schwulenbewegung haben ihren Teil dazu beigetragen. Und doch haben viele lesbische Frauen, ebenso wie schwule Männer, die Angst, ,,entdeckt― zu werden, glauben, es sich ,,nicht leisten― zu können. Wolff: Sehen Sie, irgendwann erschien ein großer Artikel über mich im GUARDIAN unter der Überschrift: ,,Charlotte Wolff - Psychiaterin und Lesbierin―. Gut, dachte ich, jetzt wissen es alle. Viele Menschen denken so sehr ,,ich kann es mir nicht leisten―. daß sie die Grenzen ihres - realen oder manchmal auch nur gefürchteten - Ghet- Seite 59 tos nicht mehr überschreiten, nicht einmal mehr ausloten können. Da muß jeder einzelne den Mut aufbringen, den ersten Schritt zu tun. P. H.: Wer sich selbst unterdrückt - unterdrückt der nicht auch andere? Kann - um bei unserem Beispiel zu bleiben - erst eine Frau, die diesen Befreiungsschritt vollzogen hat, einer anderen Frau so begegnen, daß sie sich gegenseitig nicht unterdrücken? Wolff: Ich habe leider einige Erfahrungen gesammelt, die Ihnen recht geben. Es sind immer noch viel zuwenig Frauen, die ihr inneres Ghetto verlassen haben. P. H.: Das gilt sicher für alle Minderheiten, auch für bisexuelle Menschen in unserer Gesellschaft. Dabei steht für die Sexualwissenschaftler seit langem fest, daß Bisexualität die erste und grundlegende Form sexuellen Erlebens darstellt. Sie definieren Bisexualität in Ihrem Buch als ,,die Basis aller biopsychischen Reaktionen, seien sie nun passiv oder aktiv―. Können Sie das näher erläutern? Wolff: Alles, was es an Eigenschaften und Verhaltensmöglichkeiten in einem Menschen gibt, ist zunächst nicht eingeschlechtlich, sondern hat beides, ,,männliche― und ,,weibliche― Anteile. Auch in bezug auf die Physiologie läßt sich das nachweisen. Am auffälligsten ist, daß in den Geschlechtsdrüsen des Mannes Östrogen vorhanden ist und in den weiblichen Geschlechtsdrüsen Testosteron. In den Nebennieren beider Geschlechter finden sich ,,männliche― Hormone und so weiter. Das ganze endokrine System ist bisexuell angelegt. Da wir aber alle in enormem Maße auf unser Hormonsystem angewiesen sind physisch, emotional und in unserer Mentalität- kann man schon von daher sagen, daß wir alle bisexuell ,,hergestellt― sind. P.H: Sie haben mit Ihrer empirischen Untersuchung bisexueller Männer und Frauen eine psychoanalytische Grundthese zu beweisen versucht: daß Bisexualität der Urgrund der menschlichen Sexualität ist. Sigmund Freud hatte das bereits so gesehen, aber in der Konsequenz auf die menschliche Entwicklung anders interpretiert. Wie unterscheidet sich ihr Bisexualitätsbegriff von dem Freuds? Wolff: Ich freue mich über diese Frage. Freud hatte Angst vor der Bisexualität. Er dachte, daß die homosexuelle Seite, die jeder Mensch hat, etwas emotional Schlechtes sei. Für Freud und die Psychoanalyse bis heute ist der Mensch nur dann reif, wenn er bestimmte ,,Stadien― durchläuft: Bisexualität und Homosexualität sind beim Kind und vielleicht noch in der Pubertät ganz angemessen. Wenn der Mensch dann aber nicht zur Heterosexualität übergehen kann, ist er ,,unreif“. Reif dagegen ist, wenn beim Erwachsenen die homosexuelle Seite 60 Seite der Bisexualität im Unbewußten bleibt. Ich bin da ganz anderer Ansicht: Homosexualität hat nichts mit Reife oder Unreife zu tun. Freud hat richtig gesehen, welche verheerende Wirkung die Unterdrückung der Homosexualität haben kann, er konnte damit bestimmte Neurosen und sogar episodische Psychosen erklären. Aber er verwechselte Ursache und Wirkung, indem er die Homosexualität generell auf die Basis des Krankhaften stellte. Diese Ansicht ist inzwischen auch wissenschaftlich überholt. ,,Homosexualität― und ,,Heterosexualität― (beides sehr ungenügende Begriffe) sind gleichwertig. Wenn sie von einem Menschen nicht erkannt werden, dann ist er in Gefahr, neurotisch zu werden - wenn eine Seite unterdrückt wird. Freuds Ansichten waren von der hochkapitalistisch-patriarchalischen Gesinnung seiner Zeit beeinflußt. Und doch hat er einmal etwas sehr Richtiges gesagt: "An jedem sexuellen Akt sind vier Personen beteiligt.― P. H.: Wie wird ein Mensch homo-, bi- oder heterosexuell? Wolff: Sowohl bei den bisexuellen Männern und Frauen, als auch bei den heterosexuellen Kontrollgruppen meiner Untersuchung war die bisexuelle Orientierung zuerst da. Um ehrlich zu sein, mir ist es heute noch ein Geheimnis, wie es die Kinder schaffen, trotz der Gehirnwäsche - ,,Du bist ein Junge―/,,Du bist ein Mädchen― - bisexuell zu sein. Kinder lieben, wenn sie lieben, ob‗s ein Junge ist oder ein Mädchen, ein alter Mensch oder ein junger. Kinder sind in ihrer natürlichen Bisexualität zunächst resistent gegen Beeinflussung. Die natürliche Weiterentwicklung geht über die Autoerotik: Kinder finden an ihrem eigenen Körper heraus, wie sie Lustgefühle bereiten können. Und Autoerotik disponiert zur Homosexualität. Denn die Austauschbarkeit dieser Gefühle mit einem Menschen des gleichen Geschlechts ist natürlich gegeben. Selbstverständlich ist auch das eine Sache des Lernens, aber dieses Lernen ist das schnellste. Die homosexuelle Verbindung ist sicher die am leichtesten erlernbare. Heterosexualität ist schwerer erlernbar und komplizierter. Denn die sinnlichen Reize und Empfindungen können niemals im anderen voll bewußt werden. Man kann bei einem Partner des anderen Geschlechts nie genau wissen, wie diese Reize - die man an sich selbst gut kennt - empfunden werden. P. H.: Warum ist dann aber Heterosexualität bei uns nach wie vor gesellschaftlich die als ,,einzig richtig― erlebte Sexualitätsform? Wolff: Ich glaube, daß hier der Nationalismus eine große Rolle spielt. Die reproduktive Fähigkeit der Frau - ihre Möglichkeit, Kinder Seite 61 zu gebären wird besonders dann aktiviert, wenn die Herrscher mal wieder Kanonenfutter brauchen. Die Bevorzugung der Heterosexualität und ihre moralisch-religiöse Verbrämung beruht auf einem Machtprinzip und nicht etwa - wie es einmal gewesen sein mag - auf dem Prinzip des Überlebens der Menschheit. P. H.: Wird das inzwischen auch bevölkerungspolitisch propagierte ,,Nullwachstum― einen Einfluß auf die Tolerierung homosexueller Liebe haben? Wolff: Nicht nur Wissenschaftler (unter ihnen Konrad Lorenz), sondern auch Politiker - in der Bundesrepublik etwa ein Teil der F.D.P. mit ihrem Fürsprecher, Innenminister Baum - fordern die Anerkennung homosexueller Lebensgemeinschaften. Sie handeln damit nicht altruistisch, sondern realpolitisch. P. H.: Ein weiterer Faktor ist die Veränderung der Situation von Frauen. Die Frauenbewegung trägt international dazu bei, die Situation von Frauen zu verändern und die von Männern in Frage zu stellen. Daraus ergibt sich zunächst eine Rollenunsicherheit und auch zaghaft Veränderungen in den Familien. Könnten berufstätige Mütter, alleinerziehende Väter oder ,,Hausmänner― auch die sexuelle Identifikation der Kinder mit ihren Geschlechtsrollen verändern? Wolff: Die Auswirkungen dieser Veränderung machen sich bereits bemerkbar, und das ist außerordentlich begrüßenswert. Wir sind auf dem Weg in eine bisexuelle Gesellschaft. Für mich ist die Frauenbewegung die größte Revolution aller Zeiten. Denn sie verändert die Beziehung zwischen Frau und Mann - und daher die Geschichte. Noch nicht heute, noch nicht morgen, aber vielleicht in zwanzig oder fünfzig Jahren. Schon heute muß eine berufstätige Frau, die mehr verdient als der Mann, ihn nach der Scheidung unterhalten. Dies nur ein Beispiel aus der Gesetzgebung, das zeigt, daß eine bisexuelle Gesellschaft schon vorbereitet wird. P. H.: Eine ökonomische oder eine emotionale Revolution? Wolff: Der erste Antrieb war sowohl wirtschaftlich als auch emotional. Bei einer sozialen Bewegung gibt es niemals nur einen Beweggrund. Durch ökonomische Verhältnisse und wahrscheinlich durch den ersten Weltkrieg ist die Frau aus der alten, ganz und gar patriarchalisch bestimmten Situation hinausgetrieben worden in Fabriken und Büros, und sie wurde plötzlich nicht mehr ,nur als Gebärmaschine ein wichtiger ökonomischer Faktor. P.H.: Aber Sie glauben, daß das emotionale Motiv zur Veränderung stärker ist? Seite 62 Wolff: Ja. Denn alles, was das innere und äußere Leben in Bewegung setzt, von der Liebe bis zu der subtilsten Idee, das ist die Emotion. P. H.: Darin aber unterscheiden sich selbst bei den Bisexuellen die Männer stark von den Frauen. Ihre Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, daß bisexuelle Frauen sich emotional an die Frau binden und Männern gegenüber eher mütterliche oder sexuelle Gefühle haben; bei bisexuellen Männern ist es genauso: Auch sie binden sich emotional an die Frau und interessieren sich für andere Männer vorwiegend aus rein sexuellen Motiven. Die Emotionalität ist auf die Frau gerichtet?. Wolff: Richtig, und ich möchte noch ein Ergebnis hinzufügen: Die bisexuellen Frauen haben in der Mehrzahl angegeben, daß ihre kreativen und geistigen Inspirationen nicht von Männern, sondern von Frauen kamen. So gibt die Frau beides: die emotionale und die geistige Bindung. P. H.: Warum ist das so? Wolff: Da müssen wir auf das Mutter-Kind-Verhältnis zurückgreifen. Im allgemeinen ist die Mutter-Sohn-Beziehung die stärkste Symbiose. Das erste und stärkste emotionale Erlebnis der Verschmelzung erlebt der Junge mit einer Frau - seiner Mutter. Das war bisher so, auch wenn heute gelegentlich Väter diese Rolle übernehmen. Kein Wunder, daß sich Männer emotional an die Frau binden, vor allem auf diese unterstützende, protektive. jasagende, ermutigende ... Beziehung angewiesen sind und sie auch dann nicht loslassen können, wenn sie eine starke homosexuelle Seite in sich sehen und ausleben. P. H.: Bei Frauen aber ist das Geben und Empfangen dieser ,,Mütterlichkeit“ wechselseitig, wie Sie schon in Ihrer ersten Studie ,,Die Psychologie der lesbischen Liebe“ herausgefunden haben. Die Beziehung zwischen zwei Frauen scheint ein Spiel mit vertauschbaren Rollen zu sein - sowohl was die ,,Mütterlichkeit―. als auch was die ,,Männlichkeit“ oder ,,Weiblichkeit“ angeht. Also stimmt das klassische Klischee der lesbischen Beziehung nicht - hier der ,,kesse Vater―, hier das ,,Weibchen―? Wolff: Daß lesbische Frauen männlich aussehen und sich verhalten müssen, ist ein Fehlglaube. Lesbische und bisexuelle Frauen leben ihren ,,männlichen― und "weiblichen― Anteil aus. Beziehungen zwischen Frauen sind im allgemeinen flexibel. Sogar innerhalb einer Stunde können sich die ,,Rollen― vertauschen. P. H: Setzt eine von Ihnen postulierte ,,bisexuelle Gesellschaft― Seite 63 nicht auch voraus, daß die Frauen es schaffen, ihr inneres und äußeres Ghetto zu verlassen? Wolff: Voraussagen lassen sich natürlich nicht mit Sicherheit machen. Doch je mehr sich der Mensch seiner natürlichen Anlage in seiner ganzen Emotionalität, Mentalität und Körperlichkeit bewußt ist und je mehr er von den Fesseln der falschen religiösen Ideen befreit ist, desto mehr wird er sich in einer emotionalen Beziehung und auch dem direkten Zusammenleben mit beiden Geschlechtern engagieren. P. H: Bringt das nicht die Aufhebung der Kleinfamilie mit sich? Wolff: Genau. Die Kern- oder Klein-Familie ist doch schon gestorben. Die noch bestehenden sind zum größten Teil eine Farce. Es gibt sicher noch einige gut funktionierende, glückliche Kleinfamilien, aber sie sind sozusagen der historische Restbestand, eine Art Museumsstück. Wo ist denn die Kleinfamilie? Sie ist nur da als ein Aushängeschild, wenn man es einmal ganz radikal ausdrücken will. Heute ist es doch in den meisten Familien schon so, daß die Kinder nach Hause kommen, und es ist keiner da - beide Eltern sind berufstätig. Kinderkrippen, Kindergärten, Ganztagsschulen übernehmen ,,klassische― Aufgaben der Mütter, die dafür im Beruf, wie man so sagt, ,,ihren Mann stehen―. Oft hat mindestens noch ein Partner eine außereheliche Beziehung. Alles in allem: Es scheint sich abzuzeichnen, daß Kommunen, Wohn- und Lebensgemeinschaften unterschiedlicher Art - und natürlich auch die ,,Singles― - im Kommen sind. P. H.: Das wirft die Frage der Treue auf. Wolff: Kann denn eine Beziehung nur zweisam oder kann sie auch dreisam oder viersam sein? Ohne daß Eifersucht, seelisches Leid und eine chaotische Situation entstehen? Das erfordert einen Prozeß des Umlernens. Bei den Bisexuellen meiner Untersuchung waren eine Reihe von jüngeren Leuten, die durchaus in der Lage sind, in einer Gemeinschaft ohne Besitzdenken zu leben. Kein Wunder, sie sind weniger in kapitalistisch-patriarchalischem Denken verhaftet und haben den Mut, Neues zu entwickeln, wo das Alte ihnen nichts mehr zu bieten hat. Solche Lebens-Experimente tragen viel dazu bei, daß wir die ,,wirkliche Natur― des Menschen verstehen lernen. P. H.: Treue heißt dann tatsächlich, wie uns der Schweizer Paartherapeut Jürg Willi in einem Gespräch sagte: sich selbst treu werden lernen - Sie würden sagen, daß wir unsere psychische Bisexualität in jeder Hinsicht ausleben? Wolff: Absolut richtig. Der Begriff von Treue, den wir heute haben, ist ebenso wie der Eifersuchts-Begriff in erster Linie auf Besitz- Seite 64 denken gegründet. Aber was Sie eben sagten: die Treue zu sich selbst, die Freiheit von Lügen und Künstlichkeit - das ist in einer heutigen Kleinfamilie fast ausgeschlossen. Da wird so gelogen - wie übrigens in fast allen persönlichen Verhältnissen -, daß nicht umsonst Psychiater und Psychologen einen so enormen Zulauf haben. Die Treue in sich selbst zu finden, zu erlernen, ihr zu trauen und sie auszudrücken - das heißt leben. Charlotte Wolff wurde am 30. September 1900 als zweites Kind jüdischer Eltern in Riesenburg bei Danzig geboren. Sie studierte in Freiburg. Königsberg, Tübingen und Berlin Philosophie und Medizin. Ihr Denken wurde stark beeinflußt von der in den 20er Jahren aufkommenden Philosophie der Phänomenologie (in Freiburg studierte sie unter anderem bei Husserl und Heidegger). Als ,,Ausgleich― zu ihrem Medizinstudium schrieb und übersetzte sie Gedichte. Ihre bekannteste Arbeit aus dieser Zeit sind die Übersetzungen von Baudelaires ,,Les fleurs du mal“ die parallel zu der ihres Freundes Walter Benjamin in der von Franz Hessel herausgegebenen Literaturzeitschrift VERS UND PROSA erschienen. Nach Abschluß ihres Studiums arbeitete sie fünf Jahre als angestellte Sozialmedizinerin in den Berliner ,,Ambulatorien der Krankenkassen―, zuletzt als Direktorin eines physiotherapeutischen Instituts. Kurz nach der Machtübernahme der Nazis wurde die 33jährige Jüdin unter Spionageverdacht festgenommen und kam nur frei, weil einer der Polizisten in ihr die Ärztin seiner Frau erkannte. Sie floh kurz darauf nach Paris und lebte dort, bis sie 1936 nach London übersiedelte. In Berlin hatte sie bereits begonnen, wissenschaftliche Studien über medizinische und psychologische Diagnostik der menschlichen Hand zu betreiben, und sie setzte ihre Forschungen in Frankreich und England fort. Neben etlichen Zeitschriften-Artikeln erschienen zwei Bücher über dieses Thema von ihr: ,,The Human Hand― (Methuen, 1942) und ,,The Hand in Psychological Diagnosis“ (Methuen, 1951). Dazwischen lag eine Arbeit über ein artverwandtes Thema: eine Theorie der menschlichen Gestik (,,A Psychology of Gesture―, Methuen. 1945). Aufgrund dieser Arbeiten wurde sie 1941 zum Ehrenmitglied (Fellow) der British Psychological Society ernannt. Ab 1952- als die Niederlassungsvoraussetzungen für ausländische Ärzte erleichtert wurden -, konnte sie wieder als Ärztin praktizieren, und die nächsten Seite 65 15 Jahre arbeitete sie als Psychotherapeutin in einer eigenen Praxis. 1966 schrieb Charlotte Wolff ihre erste Autobiographie ,,On the Way to Myself, Communications to a Friend― (Methuen, 1969), die 1971 auf deutsch unter dem Titel ,,Innenwelt und Außenwelt Autobiographie eines Bewußtseins― beim Verlag Rogner und Bernhard erschien. Von 1967 bis 1970 führte sie eine empirische Studie an lesbischen Frauen durch, deren Ergebnisse sie in dem Buch ,,Love between Women― (Duckworth, 1971), deutsch: ,,Die Psychologie der lesbischen Liebe― (Rowohlt. 1973) zusammenfaßte. Bevor sie ihre nächste sexualwissenschaftliche Untersuchung über Bisexualität durchführte, schrieb sie einen Roman: ,,An Older Love― (Virago/Quartet Books, 1976), der 1977 auf deutsch im Verlag Frauenoffensive unter dem Titel ,,Flickwerk― erschien. Sie schilderte sich darin als teilnehmende Beobachterin der Liebe zwischen zwei älteren Frauen (die eine 65, die andere 75 Jahre alt), deren Beziehung durch religiöse Überzeugungen und soziale Konventionen beeinträchtigt ist, weil sie sich ihre sexuellen Gefühle nicht eingestehen können. Die Ergebnisse der Untersuchung an bisexuellen Männern und Frauen, die sie nach Abschluß ihres Romans durchführte, wurden 1977 unter dem Titel ,,Bisexuality. A Study“ (Quartet Books) veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung (,,Bisexualität―, Goverts 1979) machte die Autorin in der Bundesrepublik als Pionierin auf dem Gebiet der Sexualwissenschaften bekannt. Charlotte Wolff gelingt es, in ihren Arbeiten folgende Thesen zu belegen: - Menschen sind von Geburt an bisexuell. - Kinder leben ihre Bisexualität aus, trotz der massiven Versuche Erwachsener, sie in Geschlechtsrollen zu pressen. - Die natürliche Weiterentwicklung verläuft über die Autoerotik zur Homosexualität. - Das Ausleben der heterosexuellen Seite der Bisexualität ist schwerer erlernbar und die ausschließliche Heterosexualität kann nur durch massiven gesellschaftlichen Zwang durchgesetzt werden. - Jeder Mensch hat ,,männliche― und ,,weibliche― Komponenten in sich, daher sind diese Begriffe für Eigenschaftszuschreibungen unzulänglich und sollten durch konkrete Umschreibungen (,,passivaktiv―! ,,intellektuell-emotional―/ „sanft- aggressiv― und so weiter) ersetzt werden. Seite 66 - Psychische Deformationen entstehen nicht durch das Ausleben der Homo- oder Bisexualität, sondern durch gewaltsame Unterdrückung einer der beiden Seiten beziehungsweise ihre gesellschaftliche Ächtung. - Dadurch, daß Frauen immer stärker ihre ,,männliche― und Männer ihre ,,weibliche― Seite ausleben können, sind die Voraussetzungen für die Befreiung der menschlichen Natur in Form einer ,,bisexuellen Gesellschaft― gegeben. Im Jahre ihres 80. Geburtstages erschien in England Charlotte Wolffs zweite – diesmal chronologische - Autobiografie ,,Hindsight― (Quartet Books), was zu deutsch so viel wie ,,Späte Einsicht― heißt. Im Augenblick arbeitet sie an der wissenschaftlichen Biografie Magnus Hirschfelds, der in den 20er Jahren in Berlin das erste sexualwissenschaftliche Institut gründete. Danach möchte sie ihren Zyklus sexualwissenschaftlicher Arbeiten abschließen mit einer Untersuchung über die provozierende Frage: Wie wird ein Mensch heterosexuell? Die beste Charakterisierung ihrer Persönlichkeit als Wissenschaftlerin lieferte der Experimentalpsychologe William Stevenson im Vorwort zu ihrem Buch ,,The Human Hand―: ,,Dr. Wolff ist eine geborene Psychologin. Die meisten von uns Psychologen sind synthetische Produkte, Stück für Stück zusammengesetzt, und wir bleiben immer Stückwerk, unvollendet und allzu wissenschaftlich. Anders Frau Wolff, die so vollständig in die Psychologie hineinwuchs wie ein Samenkorn zu einer Blume wird. Parallel zu der Persönlichkeit der Psychologen entwickelt sich die Art ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Die einen schreiben Aufsätze über dieses oder jenes Stückchen Psychologie. Die anderen - wie Frau Wolff - geben einen Gesamtüberblick über ein neues Forschungsgebiet und zeichnen bereits die Hauptlinien ein; die feinen Verästelungen können später von anderen Wissenschaftlern eingetragen werden.― M. H. Seite 67 „Wissen von der wirklichen Gestalt des Menschen“ Interview mit Charlotte Wolff, 23. Sept. 1986, BBC-Deutschland Moderator: (Anfang unverständlich)...einer bemerkenswerten Frau. Das letzte Interview vor ihrem Tod: Dr. Charlotte Wolff, Vorkämpferin für die soziale und sexuelle Selbständigkeit der Frau, Feministin, Forscherin und Schriftstellerin starb plötzlich am 12. September kurz vor ihrem 89. Geburtstag. Im Nachruf der TIMES heißt es: "Charlotte Wolff besaß eine leidenschaftliche intellektuelle Energie und eine unverfälschte Liebe für ihre Mitmenschen." Und genau so habe ich sie in unserem Gespräch wenige Tage vor ihrem Tod noch kennengelernt. Sie wurde bei Danzig geboren in der Stadt Riesenburg, durch die, als wär's ein Omen, der Fluss Liebe fließt. Nach ihrem Studium der Philosophie und Medizin arbeitete sie als Ärztin und Beraterin für Körper und Seele im Berliner Arbeiterviertel Neukölln. 1933 emigrierte sie nach Paris, und 1936 ließ sie sich in London nieder. Aus ihrer erotischen Zuneigung zu Frauen machte sie nie ein Geheimnis. Man braucht nur ihren Roman "Flickwerk" oder ihre Autobiografien zu lesen. Eins der beeindruckendsten Kapitel in ihrer Lebensbeschreibung ist, wie sie als Jüdin, die mit Dtld. eigentlich nichts mehr zu tun haben wollte, 1978 auf Einladung des Frauenbuchladens LABRYS doch wieder nach Berlin reiste und sich dort unter den Frauen wie zu Hause fühlte. Das Buch endet mit den Worten: "Berlin war wieder ein Ort auf meiner emotionalen Landkarte geworden. Es hatte mir ein neues Leben gegeben." Nach Ansicht der TIMES ist ihr bedeutendstes Werk allerdings die große Biographie, nein, nicht Biographie, sie nennt es "ein Porträt", ihr großes Porträt von Magnus Hirschfeld. Das Buch über diesen großen Pionier der Sexualforschung und Sexualreform erschien hier in London kurz vor ihrem Tod. Schon 1897 hatte Hirschfeld Komitees gegen die Verfolgung der Homosexuellen gegründet, später die Weltliga für Sexualreform und sein Institut für Sexualforschung in Berlin, das erste derartige Institut überhaupt. Die Veröffentlichung des Hirschfeld-Porträts war eigentlich der Anlass für mein Gespräch mit Charlotte Wolff; in Kürze wollten wir eine längere Sendung über sie selbst machen; dazu kommt es leider nicht mehr. Doch auch in diesem Gespräch wird die außergewöhnliche Persönlichkeit dieser Frau spürbar. Seltsamerweise ist sie mit Hirschfeld im Berlin der Seite 68 Zwanziger Jahre nie enger in Kontakt gekommen, aber der Name war ihr natürlich ein Begriff. Charlotte Wolff: "Oh natürlich, wir wußten alles, natürlich habe ich mit großem sensationellem Interesse "Die Homosexualität des Mannes und des Weibes" gelesen, aber ich glaube, das ist so ungefähr das einzige, was ich gelesen habe. Ich bin nie ins Institut gegangen, ich habe Hirschfeld einmal gesehen auf einer Versammlung der Menschenrechte und war nicht besonders beeindruckt. Ich dachte, na ja, das ist so ein dicker, merkwürdiger Bourgeois, ein sehr großer Mann, der sich auch sehr groß fühlt, und das war so alles, aber ich war auch gar nicht interessiert. In dieser Zeit waren meine persönlichen Erlebnisse, meine Liebesgeschichten usw. mir so wichtig, dass ich mich für ein Institut für Sexualwissenschaft und Herrn Hirschfeld und sogar die Menschenrechte, ja, ich muss dies sagen, nur sehr wenig interessiert habe. Moderator: Sie haben sich also nicht in dem Sinne engagiert, daß Sie für Reformen, auch gesetzliche Reformen, damals eingetreten sind? Charlotte Wolff: Oh, ich hätte für jeden meine Unterschrift gegeben, ich war sehr links-sozialistisch, ich war im Verband Sozialistischer Ärzte. Natürlich hat mich jede progressive Bewegung, aber niemals ein ausgesprochen Feministenbund oder so etwas habe ich jemals berührt oder hat mich interessiert. Ich habe und denke noch heute dasselbe, dass Emanzipation von sich selber kommt. Ich hab' mich niemals gebunden gefühlt oder unterdrückt gefühlt. Ich bin da gewesen, bin frei gewesen, ich fühlte nichts von Unterdrückung der Frau und so, es war mir darum wahrscheinlich nicht besonders interessant. Beides ist sehr egoistisch, aber junge Menschen sind egoistisch, und lassen Sie sie dabei. Moderator: Sie sagten eben, Hirschfeld sei Ihnen bei dieser einen Begegnung nicht besonders sympathisch gewesen. Charlotte Wolff: Nein, nicht besonders sympathisch. Moderator: Und auch in ihrem Buch erwähnen sie einige kleinere negative Seiten. Ist Ihnen der Mann denn im Laufe des Schreibens von diesem Buch sympathischer geworden? Charlotte Wolff: Oh, im Laufe des Schreibens habe ich, wie es eine Freundin von mir, die eine sehr große Schriftstellerin ist, die Sie vielleicht kennen, E.L. Barke, sie hat mein Buch gelesen und mir genau über diesen Punkt geschrieben. Ich werde Ihnen lieber ihre Seite 69 Interpretation als meine eigenen Gedanken geben, denn ich glaube, sie hat Recht. Sie sagte: "Sie haben das richtige Verhältnis von Dissoziation von Hirschfeld und Sympathie für Hirschfeld gefunden, darum sind Sie in der Lage gewesen, mit absoluter Sympathie in sein Leben und seine Persönlichkeit hineinzusehen." Wenn Sie die "Reise", die "Weltreise" lesen, z.B. was ich so wunderbar, wo ich wirklich einen Aufschwung erlebt habe, diese "Pilgermarsch", diese "Pilgerfahrt nach Avila" lesen zu Karl-Heinrich Undöskat (Anmerkung E.B.: Namen und Titel sind nicht ganz deutlich zu verstehen!), sehen Sie, mit welcher Sympathie und sogar mehr, 'ne Art Identifikation, ich dachte, "wie wunderbar, das hätte ich gern selber erlebt." Aber seine Schwächen konnte man doch überhaupt nicht übersehen, und sie sind ja notwendig, um die Paradoxien zu erklären, die nach meiner Meinung geradezu nötig sind, um diese Art von Charisma zu erklären; es ist nur durch diese enormen Gegensätze in uns, dass solche Funken aus unserer Seele springen können und dass wir diese Macht der Ausstrahlung zu anderen und der Ausstrahlung in der Welt und in der Arbeit finden. Ich habe natürlich erkannt, wie dies kommt, und ich wollte nichts übersehen. Was ich will überhaupt für mich selber und für was ich ansehe, was mich tief betrifft, ist absolute Integrität in der Arbeit und in der Menschenwelt. Am Ende ist diese Integrität aus den unglaublichen Gegensätzen, wie man sie bei Hirschfeld findet, bestimmt vorhanden; und über seine humanitären, ich weiß nicht, Humanität ist zu wenig, seine Freundschaft, seine Sympathie, seine Hilfsbereitschaft, seine unkonventionelle humanitäre Art mit sogenannten Patienten, die er nie als Patienten angesehen hat, immer als Freunde; mit denen er nicht da - wie Freund - sich hinter ein Sofa zu setzen und sie reden zu lassen, sondern in den Arm genommen hat und in den Tiergarten geführt hat, dann mit denen Kaffee getrunken hat; er hat so viele wirklich geheilt und ihnen so geholfen, dass sie leben konnten. Moderator: Sie nennen ihr Buch "ein Portrait von Hirschfeld", nicht Biografie, warum? Charlotte Wolff: Ich glaube nicht, dass wir einander kennen können, ich glaube, dass alles menschliche Kennen eine subjektive Interpretation von uns ist, und darum glaube ich nicht, dass eine fotografische Ansicht eines Menschen überhaupt möglich ist. Sie können ihn nicht wiedergeben, wie er wirklich ist, sie geben ihn wieder durch ihr Bild, das Sie von ihm haben. Ich glaube auch nicht, dass die Menschen selber wissen, wie sie wirklich sind. Sie denken, Seite 70 wenn ich von den Bisexuellen, den ich fragte, wenn ich annoncierte in verschiedenen Magazinen usw. für Probanden für meine Arbeit, dann war meine Annonce: "Menschen, die sich für bisexuell halten.", was natürlich heißt, Sie müssen natürlich wissen,...(Anm. E.B.: es folgt eine unverständliche Äußerung!), darum, Fotografien, was eine Biografie sein sollte, eine objektive Darstellung des Lebens, wie es war, halte ich für unmöglich und halte ich auch nicht für das Wichtige. Ich glaube, dass manchmal durch ein Portrait, ich dachte nicht an einen Fotografen, sondern an einen Maler; ich dachte sogar in diesem Fall an Picasso; denken Sie mal an das Portrait, das er von der Gertrud Stein gemacht hat, na ja, da sieht man vielleicht die unterlegende, vielleicht die einzige Möglichkeit des Moments der Wirklichkeit, nicht in der Fotografie, sondern in dem Portrait, in der plötzlichen Inspiration, die ihm einen Blick gegeben hat, etwas, was die Person wahrscheinlich gar nicht von sich selber wußte und vielleicht niemals und bestimmt, in Gertrud Steins Fall und in dem vieler anderer, nicht wissen wollte, plötzlich, wenn ich mich als Maler sah, der einen enormen (Anm. E.B.: einige unverständliche Ausdrücke!) malen wollte, dann wollte ich solche Blicke festlegen, wo man vielleicht aus dem Subjektiven heraus und durch das Subjektive hinein in diese kleinen Momente von Realität, von wirklichem Dasein, von wirklicher Gestalt, das ist ein wunderbares Wort in Deutsch, von der wirklichen Gestalt des Menschen etwas weiß. Moderator: Sie haben 6 Jahre an diesem Buch gearbeitet, was wird ihr nächstes Buch sein? Charlotte Wolff: Nun, dies wird Sie vielleicht wundern, ich werde einen Roman schreiben. Ich habe ja schon einen geschrieben, der in Deutschland einen großen Erfolg hatte, der in England unter dem Titel "An older love" ging und in Deutschland diesen merkwürdigen Titel "Flickwerk" hat. Aber in Deutschland hat er 4 oder sogar 5 Auflagen erlebt. Jetzt werde ich einen Roman schreiben. Ich habe die, weil ich mich gerade erholen musste und in einem Regenerationszustande bin, habe ich's noch nicht geschrieben, aber es ist schon, ich weiß die 8 Kapitel, die ich schreiben werde. Ich weiß sogar die Namen dieser 8 Kapitel, nicht Titel, ich weiß genau, was ich mache, aber ich werde Ihnen nicht sagen, was es ist, denn wenn ich's sagen würde, würde ich's wahrscheinlich nicht machen. (Lachen von beiden) Moderator: Dr. Charlotte Wolff, und da sie ein Faible für Jazz hatte, möchte ich ein kurzes Stück von Duke Ellington spielen, den Seite 71 sie offenbar besonders mochte: East St.Louis...(Anm. E.B.: unverständlich!) aus dem Jahre 1927. (ca. 35 Sekunden Musikeinspielung) Als ich mit Charlotte Wolff sprach, wurde mir einmal mehr bewusst, welche ungeheuren geistigen Potenzen Deutschland durch den Nationalsozialismus verloren hat, dasselbe gilt für Österreich. In einem Artikel des TIMES LITERATURE SUPPLIMENT hieß es unlängst: "Alles, was unser Jahrhundert geprägt hat, wurde Anfang des Jahrhunderts in Wien und Berlin in Bewegung gesetzt, von Computermathematik bis zur Kernspaltung, von moderner Architektur bis zur Psychoanalyse, von Kunst bis Philosophie. Die Liste der kreativen Geister ist schier unerschöpflich, und immer wieder stößt man auch auf Leute, die lange Zeit vergessen waren. Ein Beispiel ist das Wiener Multitalent Ernst Drüden, von dessen künstlerischem Werk ein Großteil erst kürzlich durch Zufall wieder entdeckt wurde.― (Abbruch des Bandes) Transkribiert von Eugen Bühler, Lehrer am Charlotte-Wolff-Kolleg, im Rahmen eines Leistungskurs Deutsch Projektes, 26.02.1997 Chapter 3: Research and Social Work Seite 72 Kostproben aus dem noch nicht übersetztem Buch: Charlotte Wolff M.D. Magnus Hirschfeld. A Portrait of a Pioneer in Sexologie ―[...] The fight for the abolition of Paragraph 175 was, of course, in the forefront of Hirschfeld‘s mind, a fight he had started with the writing of ‗Sappho and Socrates‘. The favourable response to his pamphlet had led to his decision to pursue scientific research into sexual problems. This decision had a far-reaching effect on his own personal development, and it had a certain influence on the society of his time. It is a gross mistake to identify Hirschfeld solely with his Studies of homosexuality because he was concerned with all aspects of human Sexuality. Moreover, apart from this main strand of research, by 1893 he had already started to investigate those social evils of society which were particularly destructive to personal and social health – alcoholism and prostitution. He pursued these studies for many years before publishing the results. He was also one of the first and foremost opponents of Paragraph 218 (the law against abortion). With these progressive activities, and the formation of the S.H.C., he had become an innovator in the field of social science. Hirschfeld also realised that a new kind of medical care was needed for the poor, whose health conditions were inadequately cared for. He founded a medical insurance scheme (Hausarztkasse) , whereby patients were treated for a small annual sum of money. His initiative was taken up by other German cities and in Austria. Like his father, he practised social medicine. Like him he recognised that prevention of illness through social hygiene should be the first aim of a doctor. The energy which a life like the one led by Magnus Hirschfeld demanded can scarcely be appreciated by the present generation. He lived simultaneously in several different ‗worlds‘. His sociological research and social work complemented his medical practice, but his active participation in the literary revolution of the time seem quite outside it. A tenuous link is perhaps his editorship of, and his contributions to the Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen (Yearbooks for Sexual Intermediaries). The first appeared in 1899, the last in 1923. They were published in the name of the S.H.C. and were designed to communicate contemporary knowledge about unorthodox sexuality, especially Seite 73 same-sexed love. They contained articles by physicians, psychoanalysts and biologists, and often included contributions from Hirschfeld‘s colleagues which contradicted his theory of inbornhomosexuality, and/or were critical of his public fight for homosexuals. His impartiality and tolerance of other points of view was just as rare in the scientific world of his time as it is in ours. He also published articles by ethnologists, lawyers, criminologists and writers. Knowledge is the best weapon in the fight for social justice, and in this sense the Yearbooks became part of both a scientific and a social revolution. They are a unique record, never attempted before, of the multifarious contributions on a subject too long neglected. They belong to Hirschfeld‘s most important achievements. He said at a later date, in his chapter ‗Die Homosexualitat in unserer Zeit‘ (‗Homosexuality in Our Time‘), published in Sittengeschichte der Kulturwelt (edited by Leo Schidowitz, 1927), that they not only mirrored the indefatigable fight of the S.H.C., but gave expression to a cultural revolution which had gripped the ‗alternative‘ population of Germany in the second half of the nineteenth century. Progressive scientists were determined to create a healthier and better society. I am not the first person to point out that literature is a better mirror of history than textbooks dealing with the subject. The literary revolution in Germany at that time put naturalism in the place of romanticism. It had a clearly defined social purpose, turning away from the individualism of the favoured rich towards an understanding of the ‗lower‘ classes, showing us the social evils resulting from a capitalistic society which had no regard for the poor. Freedom for all was the motto. [...]” Kapitel 3: Forschung und Sozialarbeit., S. 44 ff. ―[...] Der Kampf um die Abschaffung des Paragraphen 175 wurde zu Hirschfelds Hauptanliegen, ein Kampf, den er mit seiner Schrift SAPPHO UND SOCRATES begonnen hatte. Die positive Reaktion auf dieses Pamphlet führte zu seinem Entschluß, die Erforschung sexueller Probleme weiter zu betreiben. Dieser Entschluß hatte weitreichende Auswirkung auf seine eigene persönliche Entwicklung und einen gewissen Einfluß auf die Gesellschaft seiner Zeit. Es wäre ein großer Fehler, Hirschfeld einzig und allein mit seinen Studien über Homose- Seite 74 xualität zu identifizieren, denn er befaßte sich mit allen Aspekten der menschlichen Sexualität. Abgesehen von diesem Forschungsgebiet hatte er bis 1893 bereits damit begonnen, Alkoholismus und Prostitution zu untersuchen, jene sozialen Mißstände, die in besonderem Maße die Gesundheit des Einzelnen und der Gesellschaft gefährden. Er betrieb diese Studien über viele Jahre, bevor er die Ergebnisse veröffentlichte. Er war auch einer der ersten und bedeutendsten Gegner des Paragraphen 218 (Verbot der Abtreibung). Mit diesen fortschrittlichen Aktivitäten und mit der Gründung des Wissenschaftlich – humanitären Komitees war er der Erneuerer der Sozialwissenschaften. Hirschfeld erkannte auch die Notwendigkeit einer neuen Form der bis dahin völlig unzureichenden medizinischen Versorgung der Armen. Er gründete eine Hausarztkasse, durch die Patienten für einen geringen Jahresbeitrag ärztliche Behandlung erhielten. Seine Initiative wurde von anderen deutschen Städten und auch in Österreich aufgegriffen. Wie sein Vater, praktizierte er Sozialmedizin. Wie dieser erkannte er, daß es das erste Ziel eines Arztes sein müsse, Krankheiten durch Sozialreformen vorzubeugen. Ein Leben, wie es Magnus Hirschfeld führte, fordert soviel Kraft, wie es die heutige Generation kaum würdigen kann. Er lebte gleichzeitig in vielen unterschiedlichen ―Welten‖. Hirschfelds Soziologieforschung und Sozialarbeit ergänzten seine Arztpraxis, wohingegen seine aktive Teilnahme an der literarischen Revolution dieser Zeit nicht dazu zu gehören scheint. Ein feines Verbindungsglied stellt vielleicht seine Position als Herausgeber der JAHRBÜCHER FÜR SEXUELLE ZWISCHENSTUFEN dar, in denen er auch zahlreiche Beiträge veröffentlichte. Die erste Ausgabe erschien im Jahre 1899, die letzte 1923. Die Jahrbücher wurden im Namen des Wissenschaftlich – humanitären Komitees herausgebracht, um aktuelles Wissen über unorthodoxe Sexualität, insbesondere gleichgeschlechtliche Liebe, zu vermitteln. Sie enthielten Artikel von Ärzten, Psychoanalytikern und Biologen und oft Beiträge von Hirschfelds Kollegen, die seiner Theorie der angeborenen Homosexualität widersprachen und/oder sein öffentliches Eintreten für Homosexuelle kritisch betrachteten. Seine Unvoreingenommenheit und Toleranz gegenüber anderen Standpunkten war in der damaligen Welt der Naturwissenschaften genau so rar wie in der unseren. Er veröffentlichte ferner Artikel von Ethnologen, Rechtsanwälten, Kriminologen und Schriftstellern. Wissen ist die beste Waffe im Kampf um die soziale Gerechtigkeit, und in diesem Seite 75 Sinne wurden die Jahrbücher Teil einer wissenschaftlichen und sozialen Revolution. Sie sind außergewöhnliche und neuartige Zeugnisse einer vielschichtigen Diskussion über ein zu lange vernachlässigtes Thema. Sie gehören zu den wichtigsten Leistungen Hirschfelds. Später sagte er in seinem Kapitel ―Die Homosexualität in unserer Zeit‖ (veröffentlicht in SITTENGESCHICHTE DER KULTURWELT, Hrsg. Leo Schidowitz, 1927), daß die Jahrbücher nicht nur den unermüdlichen Kampf des Wissenschaftlich – humanitären Komitees widerspiegeln, sondern auch der kulturellen Revolution Ausdruck verlieh, die die ―alternative‖ Bevölkerung Deutschlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ergriff . Progressive Naturwissenschaftler waren entschlossen, eine gesündere, bessere Gesellschaft zu schaffen. Ich bin nicht die erste, die darauf aufmerksam macht, daß Literatur ein besserer Spiegel der Geschichte ist als Lehrbücher. Die literarische Revolution in Deutschland zu dieser Zeit löste die Romantik durch den Naturalismus ab. Der hatte ein klar definiertes gesellschaftliches Ziel, nämlich sich vom Individualismus der begünstigten Reichen abzuwenden und statt dessen Verständnis für die ―unteren‖ Klassen zu wecken, um die sozialen Mißstände einer kapitalistischen Gesellschaft zu enthüllen. Freiheit für alle, das war das Motto.[...]‖ Übersetzt von Eleanor Katzschner, Lehrerin am Charlotte-Wolff-Kolleg, 03.04.1998 Dr. Charlotte Wolff Ärztin, Psychiaterin und Pionierin in der Sexualforschung, starb am 12.9.1986 in London. Ihr letztes großes Seite 76 Magnus Hirschfeld, aus: Charlotte Wolff, Magnus Hirschfeld, A PORTRAIT OF A PIONEER IN SEXOLOGY Seite 77 „Ein starker Geist kennt kein Alter“ Zum Tode von Charlotte Wolff, tageszeitung, 27. Okt. 1986 Werk war das Portrait von Magnus Hirschfeld, das im Mai diesen Jahres in London erschien. Viele, die sie in den letzten Jahren (19181983) in ihren Vorträgen und Lesungen erlebt haben, werden sich an ihre kämpferische Vitalität, ihren funkelnden Esprit und ihre gelassene Weisheit erinnern. Berlin war nach 50 Jahren Exil wieder ein Ort auf ihrer emotionalen Landkarte geworden. Die Wärme des Gefühls und die Rückkehr in ihre Sprache hatten ihr ein neues Leben gegeben. Dennoch blieb die kritische Distanz zu diesem Land - aus dem die Ablösung 1933 eine Erlösung bedeutete. Zunächst eine internationale Jüdin ohne Paß. Danzig-BerlinParis- London: Stationen ihres Lebens. Die Emigration: der Aufbruch zu intellektuellen Grenzüberschreitungen und die Chance des wissenschaftlichen Neubeginns. Ein widersprüchliches Lebensmuster zeichnet sich. Ein Leben aus erster Hand - in den sensiblen Grenzbereichen der Wissenschaft und Kunst. Dort, wo die Sphären sich überschneiden, wächst die Kreativität, dort finden sich die Widersprüche, die zu neuen Lösungen drängen. Ein Leben in Deutschland zwischen den Kriegen. Ein Leben zwischen poetischer Bestimmung und wissenschaftlicher Praxis. Ein sinnliches Leben in dem Bewußtsein, anders zu sein. Lernen aus erster Hand war das Resümee aus dem Philosophiestudium. Lernen aus erster Hand nach Abschluß des Medizinstudiums: am Tage die Verantwortung der Ärztin an den Ambulatorien der Berliner Krankenkassen. Hinterhofelend in der Sozialfürsorge. Später dann -schon 1928- der Vorstoß auf Neuland: Pionierarbeit als stellvertretende Direktorin beim Aufbau der ersten Schwangerschaftsverhütungsklinik in Deutschland. Eine Arbeit, die im Knotenpunkt neuer Wissenschaftsbereiche angesiedelt war: in den Überschneidungen zwischen Sexualwissenschaft, Psychotherapie und Familienfürsorge. Dann auch das andere Leben aus erster Hand: das fraulich bunte Nachtleben in der "Vevona Diele" und dem "Topkeller" mit seinen vielfältigen erotischen Vergnügungen - die intellektuelle Würze des Cabarets und des Theaters in Berlin: Auf spielerische Art und Weise verknüpften sich hier Liebe und Wissen, Erotik und Poesie, Freundschaften, Vergnügungen. In dieser Atmosphäre der Begegnungen und der intellektuellen Seite 78 Auseinandersetzungen erkannten sich die, die schon immer im Grenzbereich hellsichtiger und hellhöriger Wachsamkeit lebten. Sie fanden sich, ohne sich zu suchen, Dora und Walter Benjamin - Helen und Franz Hessel bildeten den Freundschaftskreis ihrer Wahlverwandten. Charlottes Lyrik und ihre Baudelaire-Ubertragungen erschienen in der von Franz Hessel 1924 herausgegebenen Zeitschrift ,Vers und Prosa‗. Noch verband sie der Tanz der Kreativität auf dem Vulkan der Zeitbedingungen: der von politischen und ökonomischen Krisen geschüttelten Weimarer Republik. Schon kündete der Naziterror von der Verfolgung des Geistes. Die Folge: Berufsverbot, Denunziation und Verhaftung. Lernen aus erster Hand: entartet. Leben aus erster Hand: widernatürlich - abartig. Am 26. Mai begann der Exodus aus Deutschland. Ein emotionaler eiserner Vorhang fiel hinter diesem Land - die Ablösung einer Erlösung, Frankreich - ein neues Land - Neuland in allen Lebensbereichen und Niemandsland zugleich. ―Tabula Rasa‖ - und die Wohltat dieses Schocks, der die Emigration als Chance des kreativen wissenschaftlichen Neubeginns begriff. Wiederaufnahme und Weiterentwicklung der bereits 1931 begonnenen, methodologischen Untersuchungen der Handdiagnostik, die aus der spekulativen Chirologie eine fundierte Wissenschaft der diagnostischen Psychologie und Therapie machen sollten. Radikale Infragestellung und Absolutheit im Anspruch, das Unbewußte zu entschlüsseln, wurde auch zu einem Schnittpunkt der Freundschaften mit den Surrealisten. ―Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz‖, wie Benjamin die radikale Haltung dieser Bewegung kennzeichnete. 1935 erschien in der surrealistischen Zeitschrift "Minotaure" Charlottes erste psychologische Begründung der Theorie der Hand. Der Psychiater H. Wallon und Aldous und Maria Huxley, überzeugte Freunde und Unterstützer ihrer Forschungstätigkeit, öffneten ihr in Frankreich und seit 1936 in England neue Möglichkeiten zu weiteren experimentalpsychologischen Forschungen: der psychotherapeutischen Diagnose der Hand. Zehn Jahre Forschung in einer Außenseiterposition der Wissenschaft, Pionierarbeit im wissenschaftlichen Neuland, brachten ihr nach Jahren harter Arbeit 1941 die hohe und seltene Auszeichnung der Ehrenmitgliedschaft in der "British Psychological Society". 1942 veröffentlichte Charlotte die Grundlagenergebnisse dieser Arbeit in ,,The Human Hand‖, gefolgt von „A Psychologie of Gesture― (1934). Mit "The Hand in psychological Diagnosis‖ Seite 79 beschloß sie 1952 dieses Kapitel zwanzigjähriger, international anerkannter und seitdem nie erreichter Grundlagenforschung. Sechzehn Jahre danach, erneuter Aufbruch in die Pionierarbeit der Sexualwissenschaft, deren erste Entwicklungslinien in den zwanziger Jahren durch den Faschismus in Deutschland gänzlich ausgelöscht wurden. Mit der empirischen Studie: ,,Love between Women― (1971) (“Psychologie der lesbischen Liebe”, 1973) leistete Charlotte Wolff den ersten, einzigen und letzten Beitrag zur Begründung der Andersartigkeit der lesbischen Liebe. 1977 erschien ihre zweite bahnbrechende Arbeit: ,,Bisexuality. A Study‖ (Bisexualität, 1980), in der sie die Bisexualität des Menschen als Grundlage und Ausgangspunkt der Sexualität untersuchte, und damit die Gleichstellung aller Formen der menschlichen Sexualität beleuchtete. Aus den Widersprüchen und scheinbaren Paradoxien erneut zu lernen - offenzubleiben für die Variationen der Wege zu sich selbst, waren ihr ,Heimweh nachdem Unmöglichen‗. Der Leitstern auf diesem Wege: absolute Integrität in Liebe und Arbeit. 1969 erschien ihre erste Autobiographie: „On the Way to Myself - Communications to a Friend― (Innenwelt und Außenwelt: Autobiographie eines Bewußtseins, 1971). Eine Zeichnung auf der Leinwand dieses Bewußtseins auch ihr erster Roman: ―An Older Love‖, 1977 (Flickwerk, 1977) der die unterdrückte Liebe dreier älterer Frauen zu einer Struktur der unterliegenden, verändernden Augenblicke formt. ―Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit‖ war dann auch der Titel ihrer zweiten Autobiographie („Hindsight―, 1980). Das widersprüchliche Lebensmuster blieb. Nun: eine internationale Jüdin mit britischem Paß - als Überlebende schon immer mit beiden Füßen im Abgrund. Grenzländer der möglichen Erkenntnis - in denen Gefühl und Verstand gleichermaßen getroffen wurden - waren ihre bevorzugten Aufenthaltsorte. In diesem Focus wuchsen die Vitalität und Kreativität, um Neuland zu erforschen. Mit analytischem Scharfblick und ihrer sensiblen Intuition blieb sie immer Emigrantin in der Gesellschaft. Jenseits derer festlegenden und festgelegten Kategorien. Zu weit der Horizont ihres Wissens - zu unabhängig Ihr Geist, um sich von einer bereits definierten Richtung vereinnahmen zu lassen. 1980 schon wieder als Pionierin im altvertrauten Neuland: zu entdecken blieb der Sexualforscher Magnus Hirschfeld. Sechs Jahre hatte Charlotte mit der intensiven Hingabe an die wissenschaftliche Seite 80 Entdeckerfreude, das weitverstreute Lebenswerk von Magnus Hirschfeld zu einem Porträt und mehr: zu der Weite einer Landschaft der menschlichen Liebe geformt. Bisher interessierte sich kein deutscher Verlag. Aber für uns: Das Vermächtnis unserer emigrierten Geschichte. "Liebe und ein starker Geist kennen kein Alter - Phantasie hat keine Zeit - ich bin Charlotte Wolff, das ist alles, was geschieht”. Berliner Morgenpost, 4. März 1997, S. 7 Seite 81 „Charlotte Wolff – internationale Jüdin mit britischem Paß“ Laudatio von Christa Wolf, anläßlich der Namensverleihungsfeier des Charlotte-Wolff-Kollegs, 5. März 1997 „Anfang des Jahres 1983 bekam ich, durch welche Empfehlung, weiß ich nicht mehr, die Autobiographie einer Frau in die Hand, die mir bis dahin unbekannt gewesen war: Charlotte Wolff. Das Buch, in einer Reihe des S. Fischer Verlags erschienen, heißt: Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit. Während ich noch darüber nachdachte, ob ich der Behauptung, die der Titel aufstellt, zustimmen könnte, war ich schon von der Person gefangen, die dieses Buch geschrieben hatte: Eine deutsche Jüdin, Anfang des Jahrhunderts in einer kleinen Stadt in Westpreußen geboren, die Medizin und Philosophie studierte und in den zwanziger Jahren in Berlin lebte und als Ärztin arbeitete; die glücklicherweise rechtzeitig, nämlich schon Anfang 1933, das nationalsozialistische Deutschland verließ und danach in Paris und London lebte, wo sie 1986 starb. Dieses Skelett ihres Lebenslaufes will ich später versuchen, etwas anzureichern, zuerst aber möchte ich davon sprechen, wie ich mit Charlotte Wolff in Kontakt gekommen bin - ein Kontakt, aus dem sich eine wenn auch nie durch persönliche Bekanntschaft erprobte Freundschaft entwickeln sollte. Zu meiner großen Überraschung, fast Bestürzung, stieß ich in ihrer Autobiographie gegen Ende auf meinen Namen. Sie hatte sich, aus Interesse für die Dichterin Karoline von Günderrode, eines meiner Bücher besorgt, in dem eine fiktive Begegnung zwischen Günderrode und Kleist beschrieben wird und hatte da eine Zeile gefunden, in der sie große Ähnlichkeit mit einer Zeile aus einem der Gedichte erkannte, die sie als junge Frau geschrieben hat. Ihre Zeile lautet: ,,Durch die Sohlen seiner Füße brennt das Herzensblut der Erde―, die meine: ,,Und fühlte den Herzschlag der Erde unter seinen Fußsohlen.― Sie sah es als ,,ein Wunder, daß ein solch ähnlicher poetischem Ausdruck von zwei Geistern geschaffen werden konnte―. Ich hatte das Gefühl, daß ich ihr schreiben und mich zu erkennen geben müsse. Sie antwortete gleich und mit großem Enthusiasmus, und so entwickelte sich über die dreieinhalb Jahre, die sie noch am Leben war, ein ziemlich dichter Briefwechsel, ein Austausch von Büchern und Gedanken, bald gingen wir vom Sie zum Du über und machten Pläne, uns zu treffen, die leider, einmal weil ich einen Termin nicht einhalten konnte, dann wieder, weil sie nicht gesund war, nie ausgeführt wurden. Einmal, als wieder eine Begegnung nicht zustande gekommen war, schrieb sie mir einen Satz, den ihr eine Freun- Seite 82 din ins Ohr geflüstert hatte: lt is later than you think. Ich verstand, was sie meinte, aber ich nahm nicht wahr, wie ernst ihre Erkrankung in Wirklichkeit war, die sie immer als ,,Erschöpfung― bezeichnete mich und vielleicht auch ein wenig sich selbst betrügend. Und erschöpft war sie und mußte sie sein, nachdem sie, eine Frau in den achtzigern, in einer unaufhörlichen sechsjährigen Anstrengung ohne Erholungspause ein umfangreiches Buch über den Sexualforscher Magnus Hirschfeld geschrieben hatte, in dem auch ein Satz steht, der eine versteckte Selbstaussage ist: Das Alter hat keine Macht über einen starken Geist. Der Satz steht in Englisch da, denn dieses große Porträt von Magnus Hirschfeld ist noch nicht ins Deutsche übersetzt. Sie hätte Hirschfeld im Berlin der zwanziger Jahre begegnen können, schreibt Charlotte Wolff in ihrer Einleitung; 1928 arbeitete auch sie in Berlin, an der Klinik für Familienplanung der Allgemeinen Krankenkasse, und die Bestrebungen, die ihre Arbeit leiteten, waren denen von Magnus Hirschfeld sehr ähnlich: die Emanzipation von Frauen und Männern von jeder Art sexueller Unterdrückung durch die Gesellschaft, damit natürlich die Beendigung der Diffamierung von homosexuellen, bisexuellen, bösartig als ,,abartig denunzierten Menschen. Die Forschung auf diesem Gebiet war für Charlotte Wolff die Arbeit ihrer letzten Lebensphase, dokumentiert in Büchern wie „Love between Women―, 1971 in England und 1973 in Deutschland unter dem Titel: „Psychologie der lesbischen Liebe― erschienen, und ihre Grundlagenstudie über Bisexualität, die in Deutsch 1980 herauskam. Ich zähle diese Titel hier auf, um einen Anreiz zu geben, diese Bücher zu lesen. weil mir scheint, daß im Zusammenhang mit der restaurativen Phase, in die Gesellschaft gerade hineingetrieben wird, wie üblich auch Erkenntnisse über Sexualität und die Folgerungen, die wir daraus ziehen müßten, wieder zurückge- Christa Wolf, 5. März 1997 Seite 83 drängt werden nicht zuletzt die Einsicht, wie eng sexuelle und sozialpolitische Unterdrückung miteinander verknüpft sind. Charlotte Wolff, die kein vordergründig politischer Mensch war, hat, fast möchte ich sagen ,,von Natur― aus immer an jenen noch ungesicherten Plätzen der Wissenschaft gearbeitet, wo Pioniergeist erforderlich ist und wo wirklich Neues zutage gefördert wird. Dabei war es ihr nicht an der Wiege gesungen worden, daß sie Wissenschaftlerin - a u c h Wissenschaftlerin werden würde. Wenn man die anschauliche, farbige und genaue Schilderung ihrer Kindheit liest, die Porträts ihrer Eltern und anderen Verwandten, die Städtebilder von Riesenburg, wo sie geboren wurde, und Danzig, wo sie als Jugendliche zur Schule ging, in sich aufnimmt und nicht zuletzt ihren Reflexionen über sich und ihre Entwicklung folgt, meint man, eine kreative Schriftstellerin vor sich zu haben. Und wirklich war ja diese Kindheit und Jugend erfüllt von starken emotionalen Erlebnissen. von ersten leidenschaftlichen Liebeserfahrungen mit Frauen, nicht zuletzt von der Erschütterung durch die Geburt eines ,,inneren Auges―, während der eine ,,unbekannte und mächtige Kraft― von ihr ,,Besitz ergreift―. ,,Von diesem Augenblick an“, schreibt sie, ,,wußte ich um das Universum, das ich erblickte und in mir hielt―. Von da an hatten sich die ,,Tore erhöhten Empfindungs- und Wahrnehmungsvermögens― für sie ,,von selbst― geöffnet. Natürlich kann sie ihre Sensitivität nicht in dieser Konzentration bewahren, aber, nach allem, was ich von ihr weiß, ist Charlotte Wolff ein hoch empfindsamer, auch empfindlicher Mensch geblieben. Als junges Mädchen schrieb sie Gedichte, wie unter einem Zwang, sie fühlte sich zu Kunst und Literatur hingezogen, während die prosaische Welt ihres Elternhauses, in dem Geschäftsinteressen im Vordergrund standen, sie abstieß. Aber dieses Elternhaus hat nie versucht, die jüngere Tochter, die sich so offensichtlich nicht in das Muster kleinbürgerlichen Verhaltens fügen konnte, zu beeinflussen oder gar zu zwingen, von ihrem Entwicklungsweg abzugehen. Man habe sie akzeptiert, wie sie war auch in ihrer sexuellen Orientierung, die sich auf Frauen richtete und die ihr selbst zeitlebens niemals als etwas Besonderes oder gar, „Unnatürliches― vorgekommen ist, sondern als eine natürliche Neigung, derentwegen sie weder in ihrer Familie noch in dem Kreis, in dem sie sich später bewegte, ausgegrenzt wurde. ,,Ich brauchte mich nicht zu verstellen―, schreibt sie, ,,zu verstecken oder nach Ausflüchten zu suchen“. Diese Aussagen sind umso bedeutsamer, als Charlotte Wolff mehr und mehr davon überzeugt ist, daß ,,alle Menschen von Kindheit an manipuliert wer- Seite 84 den. So führen die Manipulierten die Manipulierten, und niemand weiß, was der Mensch wirklich ist.― ,,Gehirnwäsche― nennt sie oft, noch krasser, die Manipulation, der in der modernen Gesellschaft jeder Mensch unterzogen werde. Das heißt, ihre Gesellschaftskritik setzt nicht an äußerlichen, z. B. politischen oder sozialen Symptomen an, sondern da, wo die Mechanismen des modernen Lebens den Kern des Menschen angreifen. Oft betont sie ihre Überzeugung, daß wir alle gezwungen seien, unter Masken zu leben, und daß wir nur in seltenen Augenblicken spontaner Berührung mit einem anderen Menschen diese Maske fallen lassen und unser wirkliches Selbst zeigen. Die Sehnsucht nach diesem Selbst, danach, es zu entwickeln und es vertrauten Menschen zeigen zu können, das war die innere Leitlinie, der Charlotte Wolff folgte; außergewöhnlich genau hat sie sich selbst beobachtet, Abweichungen von dieser Leitlinie, die ihr schwieriges Leben ihr aufzwang, und die oft in Krankheit mündeten, registriert und das Glücksgefühl genossen, wenn günstige innere und äußere Umstände für Augenblicke oder für Tage, Wochen ihr inneres Selbst und ihr äußeres Leben miteinander übereinstimmen ließen. Ich habe vorgegriffen, aber es ist hier nicht meine Absicht und wohl auch nicht meine Aufgabe einen chronologischen Lebenslauf von Charlotte Wolff zu geben. Doch komme ich noch einmal auf ihre Studienzeit in den zwanziger Jahren zurück. Sie hatte eingesehen, daß es vernünftig wäre, Medizin zu studieren und nicht, wie sie eigentlich wollte, Philosophie, Literatur und Kunst. Allerdings brachte sie es fertig, neben und nach dem Studium in verschiedenen Städten, zuletzt in Berlin, ein zweites Leben in Künstlerkreisen und in Kabaretts, Theatern, Nachtbars zu leben, mit Freundinnen und Freunden. Es sind diese Jahre, die sie stark geformt haben und auf die sie später, als Deutschland für sie ein Un-Ort geworden war, immer wieder zurückkommt. Sie erlebte auch in ihrem Beruf, in der Schwangerschaftsfürsorge der Allgemeinen Krankenkasse in Berlin, in der fortschrittliche Familienplanung praktiziert wurde, ein neues, sie begeisterndes Medizinverständnis, sie wurde aktives Mitglied des Vereins Sozialistischer Ärzte, der USPD nahestand, sie richtete die erste Klinik für Schwangerschaftsverhütung in Deutschland ein und bekam so ihren ersten praktischen Unterricht in Sexualwissenschaft und Psychotherapie. Sie und die jungen Frauen, mit denen sie zusammen arbeitete und lebte, waren frei, schreibt sie, ,,wir waren einfach wir selbst, die einzige Befreiung, die am Ende zählt―. Aber: ,,Die Freiheit des Individuums und die Freiheit für das Individuum gab es in der deutschen Geschichte Seite 85 immer nur für kurze Zeit―. Jahrelang kam ihr nicht die Spur einer Vorahnung von der Gefahr, die sich für sie als Jüdin und für alle, die im Namen der Aufklärung emanzipatorische Theorien und Praktiken vertraten, unter der oft glänzenden Oberfläche zusammenbraute. Anschaulich hat sie beschrieben, wie stark man sich in ihrer Familie als deutsche Juden fühlte, wie stark sie selbst mit der deutschen Kultur identifiziert war und niemals auf die Idee gekommen wäre, daß sich zwischen den beiden Grundelementen, auf denen ihr Dasein aufbaute: Jüdin und Deutsche zu sein, je ein unüberbrückbarer Abgrund auftun würde. Drei Schläge hintereinander machten ihr im März/ April 1923 ihre Lage klar: Sie wurde gekündigt, weil sie Jüdin war, und in der U-Bahn wurde sie als ,,Frau in Männerkleidung und als Spionin― festgenommen. Ihre eigenen Geistesgegenwart und die eines Wachmanns der Bahnhofswache ließen sie davonkommen. Dann wurde ihre Wohnung nach ,,Bomben― durchsucht: Am 26. Mai 1933 verließ sie Deutschland in Richtung Paris. Viele Jahre lang hat sie die Erinnerung an ihre Zeit in Deutschland, an deutsche Kultur und die deutsche Sprache abgelehnt und gemieden. Wie viele jüdische deutsche Emigranten hat sie dem Schock der Ausgrenzung, Vertreibung, schließlich der Vernichtung der in Deutschland zurückgebliebenen Juden nie verwunden. Ihr deutscher Paß galt noch fünf Jahre, danach hat sie den Paß einer Staatenlosen genommen, schließlich wurde sie britische Staatsbürgerin. Sie hat sich seitdem immer als ,,internationale Jüdin mit britischem Paß― bezeichnet, Erst in den siebziger Jahren, als Berliner Feministinnen auf sie zugingen, hat sie sich dazu überwunden, auf deren Einladung hin nach über vierzig Jahren wieder in das einst von ihr geliebte Berlin zu kommen. Sie fand einen warmen, sie überwältigenden Empfang, und sie kam zweimal wieder, hielt Vorträge und Lesungen und freute sich an den Diskussionen. Ihre Autobiografie endet mit den Sätzen: ―Berlin war wieder ein Ort auf meiner emotionalen Landkarte geworden. Es hatte mir ein neues Leben gegeben.― Auch deshalb war ich froh, als ich hörte, daß Ihr Volkshochschulkolleg sich den Namen von Charlotte Wolff geben will, daß also ihr Name in Berlin präsent bleiben, daß man nach ihr und ihrem Leben und Werk weiter fragen wird. Ich bin sicher, dank der Berlinerinnen, die sie hergeholt haben und enge Freundinnen von ihr wurden, könnte sie dieses Angebot annehmen, es würde sie wohl freuen. Sie war so empfänglich für Liebe und Verständnis. Die Briefe, die sie mir schrieb, zeugen von dieser Suche nach Seite 86 gleichgestimmten Seelen, und wenn sie glaubte, einem Menschen begegnet zu sein, der ihr nahe war, hielt sie sich nicht zurück, sie kam einem offen entgegen, sogar begeistert, konnte rückhaltlos loben, mir zum Beispiel ein großes Geschenk machen mit der Bemerkung, daß ich für sie ,,die deutsche Sprache neu ins Leben gebracht― habe. ,,Sehen Sie,“ schreibt sie, ,,als ich ins ,Exil„ (das mir ja großartig bekam) ging, war die deutsche Sprache mir nicht nur verloren sondern ein Greuel. Die Nazis hatten sie so verunglimpft beschmutzt entseelt -, daß ich an eine Resurrektion gar nicht glauben konnte.― Nach einem Satz über meine Sprache schreibt sie dann, ich zitiere das, weil es so kennzeichnend für sie ist: ,,Aber ich will nichts weiter sagen, weil ich es aus ,Scheuheit‗ nicht mag. Auch glaube ich, daß Sie (und ich auch) ,siegen‗ wie ,lobpreisen‗ demonstrativ, ungesund, absolut tödlich finden.― Charlotte Wolff, hat sich, zuerst in Frankreich, dann in England ihr Brot durch wissenschaftliche Arbeit verdient - zuerst, indem sie die Hand studierte und herausfand, welche Zusammenhänge es zwischen Größe, Form, Gestalt unserer Hände, den Handlinien auch, und den Charakteren der Menschen, ihren Anlagen, ihren Krankheiten gibt und ihre Kenntnisse - nicht unbedingt zu ihrem Vergnügen an wohlhabende Leute weitergab, denen sie „aus der Hand las―. Sie bemühte sich um eine streng wissenschaftliche Vorgehensweise, aber natürlich konnte sie auf ihrem Forschungsgebiet nichts machen ohne Intuition: Sie war unglaublich aufnahmebereit für alle Schwingungen zwischen Menschen, die kein Apparat messen kann und sie war wie ein Medium für Vorahnungen, für die oft wunderbaren Zusammenhänge, die uns ,,passieren― und für die wir meistens nicht wahrnehmen, weil wir zu abgestumpft sind. Sie aber lebte in einem feinen Geflecht solch wunderbarer Zusammenhänge, was wir ,,Zufall― nennen, war für sie eine erstaunliche Fügung, die sie nicht geringschätzen durfte, ihre Briefe gaben mir Beispiele dafür, zum Beispiel, wenn sie in der gleichen Zeit, in der wir in nähere Beziehung zueinander kamen, eine Freundin der Ingeborg Bachmann kennenlernte, die ihr wiederum die Bücher der Bachmann gab, in denen sie nun das Gedicht fand, das sie gerade in meinen ,,Frankfurter Vorlesungen―. „O – das ging in den Solar plexus―, schreibt sie. „Ja - diese Zusammentreffen - allherum! Wir wissen nicht, Gott sei Dank, wie - aber es ist ein Trost, daß es so vor sich geht.― Und sie war sich bewußt, bei all ihrer Bescheidenheit, daß sie in einer inneren Verbindung mit solchen Geheimnissen stand. Sie schickte mir Ihr Buch über die ,,menschliche Hand― in der engli- Seite 87 schen Fassung genau in dem Augenblick, als das deutsche Exemplar, das ich mir beschafft hatte, in einem Bauernhaus in Mecklenburg mit verbrannte. Auch dies schien ihr eine Fügung zu sein und veranlaßte sie, da ich einen solchen Brand vorher in einem Buch beschrieben hatte, zu der Bemerkung über meine ,,Vor-ahnung―: ,,Fürchten wir nicht, wie ancient people, die dauernde Drohung, daß uns, was wir haben, von den Göttern weggenommen wird - falls wir sie nicht dauernd ,versöhnen‗? Und sogar dann können sie uns immer berauben Aberglaube? Ich glaube an Aberglauben...― In welchem Sinn, das schreibt sie in ihrer Autobiografie: ,,Einige Menschen verstehen sich darauf, das Ohr am Boden zu halten und festzustellen, ob sich etwas Gutes oder Schlechtes nähert. Wir nennen sie intuitiv oder vorausschauend. Aberglaube ist eine Form außersinnlicher Wahrnehmung, und es ist ein Fehler, ihn als Überbleibsel primitiver Religionen zu verspotten. Künstler und Schriftsteller sind prädestinierte Beobachter des Ungewöhnlichen und Unheimlichen, es lohnt sich, ihre ,Visionen‗ und ihren Aberglauben ernst zunehmen. Tatsächlich können sie sich als die besseren Kenner der Geschichte herausstellen als professionelle Historiker―. Klingt das heute, da wir umstellt sind von angeblichen ,,Fakten―, nicht wie eine Stimme aus einer anderen Welt? Der Brief, aus dem ich zitierte, ist vom Februar 1984, offenbar hatte ich ihr vorher über meine Zukunftsängste geschrieben, sie antwortet, daß sie sich vielleicht durch das Anschwellen der Friedensbewegung in England habe täuschen lassen und durch ,,die Millionen in Europa, die protestieren― (gegen das Aufstellen der Raketen), und fährt fort: ,,Da ist aber etwas, was mir schon oft durch den Kopf ging: Es muß gar nicht Krieg sein - daran glaube ich nicht. ... Nein, meine apprehension ist absolut in der technology per se. Wenn die Microchips und giftigen Desinfektionsmittel Menschen de-vitalisieren (leblos machen durch falschen Comfort), vergiftet durch Nährstoffe Boden und Seele wird dann entmenscht. D a s sind meine Schrecken. Alles was man Zukunft nennt ist wie Roulette. Man muß (man kann ja nicht anders) wagen zu spielen. - Vielleicht werden die Zukünftigen Spielregeln kennenlernen, die die abtötenden Gefahren wiederum töten, und dann doch noch das Lamm mit dem Löwen im Zusammenleben erstreben beinahe vielleicht dem nahekommen. Ist es Utopie natürlich, aber eine Möglichkeit, die man nicht durch Schrecken der Gegenwart und Mißtrauen der lebenden, jetzigen Erwachsenen abtun kann. Die Jugend zeigt mehr Instinkt und absoluten Daseinswillen, glaube ich.― Seite 88 Und, ich kann es nicht lassen, Ihnen noch etwas vorzulesen, was in dem Brief steht - die Briefe, übrigens, sind in einer ausschweifenden, schwer lesbaren Altersschrift geschrieben und, wie Sie bemerkt haben, mit Brocken aus dem Englischen und englischen Satzbildungen durchsetzt - etwas vorlesen also, was sie mit der Behauptung ,,Fortschritt ist Fortgehen― beginnt: ,,Es heißt nicht, Menschen, die man liebt oder zu denen man attachiert ist, verlassen das hat nur mit uns selbst zu tun. Eine neue, nicht gesehene Facette in uns nimmt eine Beleuchtung an, die uns im Fortschritt zufällt, und dann sind wir „weiter― , und wenn auch dieses Weiter unmeßbar ist wir sind von dem, was wir bisher von uns wußten, (ich meine ich, denn ich verallgemeinere aus meiner subjektiven Erfahrung) eine neue Einsamkeit. Die ist auch ein Sprungbrett.― Danach wird es niemand mehr verwundern, daß Charlotte Wolff sich eine Wissenschaft ohne Menschenliebe und ohne Subjektivität nicht vorstellen kann, am wenigsten die Medizin oder die Psychologie, ihre Arbeitsgebiete. Ich denke, nicht nur in den Gegenständen, die sie bearbeitete eben die Bedeutung der Hand, oder Homosexualität, oder Bisexualität , auch in der Art und Weise, wie sie sich ihnen näherte sensibel, immer eingedenk der Tatsache, daß sie es mit Menschen zu tun hatte, die ihr vertrauten, die ihr ihre Hände überließen oder ihr in langen Interviews ihre Lebensgeschichte, einschließlich die Geschichte ihrer sexuellen Orientierung erzählten - in all dem zeigt sie sich für mich als eine Wissenschaftlerin eines modernen Typs, die nicht darauf aus ist, den Gegenstand ihrer Untersuchung zu zerstückeln, um ihn so leichter klassifizieren zu können. Was ich meine, mag ihr Satz illustrieren, ,,daß wissenschaftliche Entdeckungen mehr mit surrealistischem Denken als mit Logik zu tun haben―. „Was ich ersehnte, „schreibt sie an anderer Stelle, war eine Einheit von Medizin, Wissenschaft und Kunst.― Und als „die schlimmste Sünde― des ärztlichen „Berufsstandes― sieht sie „die mangelnde Anteilnahme an den Patienten, die Kälte des Herzens―. Ich versage mir hierzu jeden aktuellen gesundheitspolitischen Kommentar. Als sie lesbische Frauen suchte, mit denen sie ihre Interviews machen könnte, bemerkte eine Zeitung: Dr. Wolff wants people, not patients. Charlotte Wolff haßte den Ausdruck „Patient―, sie sah in ihren „Patienten― und „Patientinnen― gleichberechtigte Partner und Partnerinnen, denen sie half, zu sich selbst zu finden und die ihr eine Fülle von Einsichten in das Wesen von Menschen vermittelten. Ihre Seite 89 Beschreibung von Personen zu lesen - gleichgültig, ob es sich um Verwandte, Freunde, Freundinnen, Klienten handeln mochte - ist ein Genuß und zugleich eine Schulung der eigenen Beobachtungsgabe: Aus körperlichen Ausformungen, aber auch aus der kleinsten Geste zog sie weitreichende und, wie mir scheint, meistens zutreffende Schlüsse. Selbstverständlich bin ich nicht kompetent, Charlotte Wolffs Untersuchungsergebnisse zu beurteilen, aber ich glaube sagen zu können, daß sie sich durch ein einzigartiges Zusammentreffen von in sich widersprüchlichen Anlagen, heterogenen Interessen, einer Widerstand provozierenden sozialen Herkunft, die ihr Judentum einschließt, von persönlichem Schicksal und dem Hineingerissenwerden in die barbarischste Periode der deutschen Geschichte zu einem Menschen entwickelte, der aus häufig schwierigen, manchmal verzweifelten Umständen wie soll ich das nennen Unverwechselbares, Wertvolles zutage förderte. Ein Mensch, der oft innerlich zerrissen war darüber sprechen auch ihre Briefe - und intensiv nach anderen Menschen suchte, die diese Zerrissenheit sahen und verstanden, der aber zugleich die widerstrebenden Elemente seiner Persönlichkeit zu binden wußte eine schwere, andauernde Arbeit an sich selbst - und anderen, ich glaube: vielen anderen Hilfe und Halt geben konnte. Denn als Charlotte Wolff auf der Flucht vor den Nazis nach Paris kam, hatte sie, wie so viele deutsche Emigranten, nichts, war sie ein Niemand, ein Mensch ohne Schutz, hautlos allen Widrigkeiten des Emigrantendaseins ausgesetzt. Aber sie hatte das Talent, Freunde, vor allem: Freundinnen zu finden, die ihr die ersten Schritte erleichterten, den Boden ebneten. Wie schon in Berlin, ist die Liste berühmter Namen, die ihre zu Freunden oder jedenfalls zu guten Bekannten wurden, lang, und so wird es auch in London sein. Ich stelle mir vor, dass alle diese Menschen, unter ihnen viele Künstler, Wissenschaftler, fasziniert waren von der Persönlichkeit, dem Geist, den Ideen dieser Frau; natürlich waren sie äußerst alarmiert durch die Möglichkeit, etwas mehr über sich, ihren Charakter, ihren Anlagen zu erfahren, indem sie ihr ihre Hände überließen: Das war die erste ―Praxis― von Charlotte Wolff im Exil, auf die sie ihren Lebensunterhalt gründete. Doch war dies eine „Rettung― mit für sie widersprüchlichen Folgen: „Meine Rolle bei diesen Handanalysen stimmte nicht mit meinen professionellen Werten überein. Und das führte dazu, daß ich in einen Zustand depressiver Angst geriet.― Wie oft wird sie, in der langen Zeit des Exils - mehr als fünfzig Jahre! - noch diesen Zustand an sich erfahren; ich glaube, selten ist so rückhaltlos über die seelischen Folgen Seite 90 der Entwurzelung geschrieben worden wie durch Charlotte Wolff, die, keiner Partei, keiner Gruppierung, keiner Verbindung angehörend, als Ärztin auch in England lange nicht zugelassen, im äußersten Sinn des Wortes ,,ausgesetzt― war und, eigentlich bis zum Schluß, am Rand der jeweiligen Gesellschaft lebte, da, wo jederzeit der emotionale und auch der materielle Absturz möglich ist. Sie zahlt die andauernde Anspannung und Überanstrengung mit psychischen Störungen, mit Krankheit. Es erschöpfte sie, in ihrer Arbeit immer „die Tür ihres Unbewußten― öffnen zu müssen, um „zum Unbewußten der anderen Menschen― vorzudringen. Sie sehnte sich nach Aufmerksamkeit und Fürsorge, Unterstützung und Liebe eines anderen Menschen - „nach einer Mutter in vielen Gestalten, mit vielen Gesichtern.― Sie hat in England nie eine wirkliche Heimat gefunden, nie das Gefühl der Fremdheit, des Ausgegrenztseins verloren, aber sie fand einzelne Personen, Frauen, mit denen sie zusammenlebte oder die ihr ihr eigenes Heim und ihre Zuwendung anboten, die wenigstens teilweise, wenigstens auf Zeit den Rückhalt und die Sicherheit gaben, die für sie lebenswichtig waren. In den zwanziger Jahren hat eine alte russische Frau in Berlin einmal zu ihr gesagt: „Das schlimmste Schicksal überhaupt ist, im Exil zu leben.― Charlotte Wolff hat bis auf den Grund die Erfahrung durchlebt, „eine Jüdin zu sein, die sich nirgendwo absolut sicher fühlen kann, nicht einmal in Israel―. Die Versuchung ist groß, immer weiter aus Charlotte Wolffs Arbeiten zu zitieren, aber da es sowieso unmöglich ist, die Fülle der Themen und Einsichten, die sie ausbreitet, auch nur anzureißen, lasse ich es bei dem wenigen bewenden, in der Hoffnung, es möge mir gelungen sein, auch denjenigen, die bisher nichts von ihr kannten als ihren Namen, deutlich zu machen, welchen Gewinn sie daraus ziehen könnten, wenn sie sich mit dem Leben, dem Gedankengut dieser Frau auseinandersetzen würden. Denn, nicht wahr, nicht ihretwegen bekommt dieses Volkshochschulkolleg ihren Namen: Charlotte Wolff ist tot und braucht keine Ehrung mehr. Wir brauchen sie, und ihretwegen, unseretwegen hat die Gruppe von Lehrkräften, die auf sie stieß und sich von Charlotte Wolff gefangennehmen ließ, diese Namensgebung durchgesetzt. Dazu möchte ich Sie beglückwünschen. Gestatten Sie mir noch ein Postskriptum: Charlottes Freundin schrieb mir 1986, daß sie, Charlotte, am 12. September in ihrer Wohnung an einer Herztrombose gestorben sei. Dies war der Tag, an dem ich anfing, die Absätze über sie in meinem Buch „Störfall― zu schreiben, durch die wiederum Sie darauf aufmerksam wurden, daß ich Seite 91 Charlotte Wolff kannte. So schließt sich ein Kreis. Wie hätte Charlotte, kaum verwundert, diese „Zufälle― genossen! Veröffentlicht in: Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna Seeghers-Gesellschaft Berlin und Mainz e.V., Bd. 6, Aufbau-Verlag, Berlin 1997 Seite 92 „Charlotte Wolff – eine faszinierende, vielschichtige, menschenliebende Frau“ Sendung im Sender Freies Berlin, 5. März 1997 Charlotte Wolff, 1897 in West-Preußen geboren, 1986 gestorben in London – wie sie selber sich in ihren späteren Lebensjahrzehnten nannte – als eine internationale Jüdin mit britischem Paß. Fast niemand bei uns erinnert sich an diese außergewöhnliche Frau, die vor und neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit als unorthodoxe Medizinerin und Psychologin Gedichte schrieb, Prosa, Baudelaire-Übersetzungen, ein großes Porträt des Sexualforschers Magnus Hirschfeld, einen Roman und mehr. Daß sie aus unsere Erinnerung fast gelöscht wurde, liegt daran, daß sie als Jüdin und Lesbe gleich 1933 aus Deutschland emigrieren mußte. Heute wird mit einer Feierstunde eine Ausstellung eröffnet, Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit, Erinnerungen an Charlotte Wolff. Der Ort der Ausstellung ist das ehemalige Charlottenburger Volkshochschulkolleg, ein Institut des Zweiten Bildungsweges, das ab sofort Charlotte-Wolff-Kolleg heißt. Ein Beitrag von Gundel Köpcke über die Gründe dieser Namensgebung: Kollegiatin: Man hat was, womit man sich identifizieren kann, also einfach man kann sagen, meine Schule ist jetzt die Charlotte-Wolff -Schule, nicht mehr das VHS-Kolleg, und ich finde, die Frau hat auch Vorbildcharakter. Gundel Köpcke: Vorbild kann Charlotte Wolff vor allem wegen ihrer Zivilcourage und ihres beispielhaften Engagements für andere Menschen sein. Berlin war sie im Laufe ihres Lebens mehrfach verbunden. Sie studierte hier Medizin und Philosophie, arbeitete in der Weimarer Republik als Ärztin am Rudolph-Virchow-Krankenhaus und war stellvertretende Direktorin der ersten Klinik für Familienplanung. In Berlin begann sie ihre Studien zur Chirologie, der Handdeutung, eine unkonventionelle Form der psychologischen Diagnostik. ―Faszinierend‖ ist ein häufig gebrauchtes Wort im Zusammenhang mit Charlotte Wolff. Eleanor Katzschner, Dozentin, beschreibt, warum sie sich für Charlotte Wolff als Namenspatronin des Kollegs eingesetzt hat. Eleanor Katzschner: Ich persönlich lernte sie schon 1980 kennen durch die englische Autobiographie Hindsight, (dt. Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit) und fand ihr Leben ungewöhnlich. Als Seite 93 das dann hier so thematisiert wurde – was für einen Namen wollen wir? – war das klar, eigentlich sollte es der einer Frau sein, wegen des Ausgleichs in der Männerwelt! Und dann gehörte ich zu denjenigen die diesen Namen vorgeschlagen haben, einfach weil sie eine faszinierende, vielschichtige, menschenliebende Frau war; bestimmt nicht einfach, nicht geschmeidig. Unsere Schüler kannten den Namen gar nicht, d.h. die meisten kennen sie gar nicht, und deswegen war das ein Stück wie Schatzsuche. Gundel Köpcke: Als Jüdin konnte Charlotte Wolff ihren Beruf als Ärztin bald nicht mehr ausüben. Schließlich wurde sie als Kommunistin denunziert, als Spionin festgenommen und als Frau in Männerkleidung von der Gestapo inhaftiert. Im Mai 1933 entschloß sie sich, nach Frankreich zu emigrieren. In einem Rundfunkinterview, sechs Jahre vor ihrem Tod aufgenommen, erzählt sie von dieser Zeit. Charlotte Wolff: Das war eine Tragödie, die ich für viele Jahre gar nicht überwinden konnte. Ich fühlte mich so mit der deutschen Kultur verbunden, ich schrieb in der deutschen Sprache, natürlich, das war meine Muttersprache. Ich hatte deutsche Freundinnen, es war mir unmöglich zu verstehen, daß plötzlich die Juden was anderes waren, daß Juden vergast wurden. Es war mir ein solcher Schock, daß ich plötzlich meine Stellung verlor und bedroht war sogar mein Leben zu verlieren. Im Augenblick als mir das passierte, wurde ich mir vollkommen klar wer ich bin; daß ich eine Jüdin bin und daß ich raus mußte. Gundel Köpcke: Um sich in Paris ihren Lebensunterhalt zu verdienen, las sie vor allem den amüsierten Angehörigen der Aristokratie aus der Hand und litt sehr darunter. Eleanor Katzschner: Sie selber legte Wert darauf, daß sie diese Studien wissenschaftlich betrieb: Sie wollte nicht eine Zauberin sein, die die Zukunft liest wie eine Zigeunerin. Sie konnte an der Handform, an den Linien und der Nagelform Krankheiten erkennen. Gundel Köpcke: Erst nach ihrer Emigration nach London 1936 konnte sie ihre Untersuchungen über die menschliche Hand fortführen. Sie arbeitete und forschte in Londoner Hospitälern und studierte im Londoner Zoo die Hände von Menschenaffen. Charlotte Wolff blieb in London, wurde britische Staatsbürgerin. In den Sechzigern befaßte sie sich vor allem mit der weiblichen Homosexualität und der Psychologie der lesbischen Liebe, und sie schrieb die erste umfassende Untersuchung über Bisexualität in der sie unter anderem forderte, der Mann muß sich ändern und werden was er von Natur aus ist, ein bisexueller Mensch. Ihre grenzüberschreitenden Thesen fanden je- Seite 94 doch kaum Anerkennung. Als die Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg über die Namensgebung für das Kolleg abstimmte, enthielt sich die CDU-Fraktion der Stimme. Ein Streit um Zuständigkeit zwischen Senat und Bezirk verzögerte die Namensgebung. Inzwischen ist der beigelegt. Kann die Tatsache, daß Charlotte Wolff lesbisch war, hier eine Rolle gespielt haben? Eleanor Katzschner: Die Frage löst bei mir große Irritation aus. Denn, wo sind wir denn? Wir sind am Ende des 20. Jahrhunderts: Homosexualität ist auf der ganzen Welt anerkannt/akzeptiert! Aber plötzlich soll es nun bei den Frauen etwas ganz Neues und – ich sag das mal so direkt – Perverses sein! Ich möchte es mir gar nicht vorstellen, daß ein aufgeklärter Politiker heute an sexuelle Neigungen denkt. Wenn ein Mensch vor einem steht, eine Autorin, eine engagierte Sozialarbeiterin, dann finde ich sexuelle Neigungen ―beside the point‖. Sie spielen überhaupt keine Rolle! Gundel Köpcke: Charlotte Wolff ist immer offensiv mit ihrem lesbischen Leben umgegangen. Berlin hatte erst in den Siebzigern für sie eine Bedeutung – wurde – wie sie schreibt, wieder ―ein Ort auf meiner emotionalen Landkarte.‖ Sie veranstaltete Lesungen, sprach vor 500 Frauen bei der Sommeruniversität 1979 über Feminismus und Frauenbewegungen – nicht ohne über Veränderungen der neuen Frauengeneration irritiert zu sein. Im Treppenhaus der Volkshochschule ist über drei Stockwerke eine Ausstellung über die Stationen ihres Lebens zu sehen: Berlin, Paris, London und noch einmal Berlin. Fotos, Bücher, Briefe, Kollagen und Zitate wurden hier zusammengetragen. Sie dokumentieren auch die Menschen die sie kannte, z.B. Virginia Woolf und Christ Wolf, aber auch Walter Benjamin, Man Ray und Dali. Was bleibt, ist der starke Eindruck von einer Frau die ein unglaublich intensives Interesse an Menschen hatte und die auch als Analytikerin von ihren Patienten lernte. Charlotte Wolff: Alles, was sie mir erzählen, habe ich selber empfunden, denn wir sind ja alle alles, nicht? – wenn wir nur ein bißchen aufpassen, aber es ist ja auch eine große Erweiterung. Jeder Mensch ist eine Entdeckung. Das ist wie ein neuer Planet! Charlotte Wolff! Die Feierstunde heute um 14 Uhr findet in der Volkshochschule in der Pestalozzistrasse 40–42 statt, und da wird dann z.B. Christa Wolf lesen aus ihrem Briefwechsel mit Charlotte Wolff und auch aus dem Roman von Charlotte Wolff. Anna Barbara Walti Seite 95 Seite 96 “Ein Leben aus erster Hand” Courage Heft 1/1982, Berlin Charlotte Wolff, die 1933 aus Deutschland flüchtete und seit 1936 als Psychiaterin und Schriftstellerin in London lebt, schreibt hier - zum ersten Mal nach langen Jahren - wieder einen Text in deutscher Sprache. In diesem extra für die Courage verfaßten Essay stellt sie noch einmal die Grundlagen ihrer Arbeit über Bisexualität und die sich daran anschließenden Gedanken zur Frauenbewegung zusammen. Sexualität - für sich genommen - hat einen sehr beschränkten Radius und muß, meiner Meinung nach, als prostituierende und anonyme Handlung verstanden werden. Sexualität ohne Erotik ist eine onanistische Reflexaktivität, die Gefühlsbeziehungen ausschließt. Der masturbatorische Befriedigungsdrang ist selbstbezüglich und macht den Partner zum ,,Ding‖. Diese Art von Sexualität spielt sich zwischen seelisch maskierten Personen ab, die sich nicht preisgeben wollen oder können. Ihr fehlen der erotische Elan und die emotionale Kraft, ohne die stereotypes Verhalten unvermeidlich ist. Obwohl Masturbation lustvoll, sogar hygienisch sein kann, verdirbt ein deprimierender Beigeschmack allzu oft das Vergnügen. Ich sage nichts Neues, wenn ich erwähne, daß viele intime Beziehungen, ehelich oder andersartig, sich mit Masturbation à deux begnügen. Solche Beziehungen enden in einer stereotypen Sackgasse und sind in der Falle von Langeweile und Übersättigung gefangen. Es ist bekannt, daß weibliche Prostitution oft mit Homosexualität zusammengeht. Diese Frauen sehen ihr Gewerbe als ein Geschäft an, das ihnen das Leben in besseren Umständen als bei anderer Arbeit erlaubt, aber ohne Liebe für eine andere Frau unerträglich wäre. In ihr finden sie die sinnliche Befriedigung und Intimität, die um so mehr ersehnt werden, je mehr der ,,nackte‖ Mann sie anekelt. Eine lesbische Prostituierte, die ich in den Zwanziger Jahren kannte, schilderte ihren Beruf, den sie haßte, folgendermaßen: ,,Ich hab‗s satt, immer dieselbe stumpfsinnige Bewegung zu ertragen. Ich kann‗s nicht länger aushalten‖. Sie war ,as good as her word‗: gab ihren Beruf auf und wurde Akrobatin in einem russischen Zirkus. Ein vielsagendes Beispiel anonymer Sexualität sind die Vergnügungen homosexueller Männer, die sie in öffentlichen Toiletten mit abgewandtem Gesicht genießen und an denen Heterosexuelle mit Seite 97 Eifer teilnehmen. Frauen lassen sich in diskreterer Weise auf sexuelle Anonymität in ,one night stands‗ ein. Solche transitorischen Erlebnisse haben wohl ebenso viel Anziehung durch ihren sensationellen Charakter wie ,das Ding an sich‗ - ähnlich verbotenen Abenteuern, denen Kinder nachjagen. Gefahr und Genuß ,verbotener Frucht‗ können diese Gelüste eine Zeitlang aufpeitschen, doch sie können nicht der Falle entgehen, die innere Leere und Übersättigung mit sich bringen. Verwirrung der Begriffe ist nichts Neues in der Psychologie. Seit über hundert Jahren sind die Konzepte von Sexualität und Erotik vermengt oder werden synonym gebraucht. Die Autoren, die sich damit in ihren Werken beschäftigt haben, betrachten Erotik als unteilbar von Sexualität. Ein markantes Beispiel ist Freud, der die erogenen Zonen als integrierten Teil der Sexualität ansah. Andere Bahnbrecher wie Magnus Hirschfeld und Havelock Ellis begingen denselben Fehler. Und nichts hat sich seitdem geändert: Sexologen und Psychologen der heutigen Generation verfallen demselben Irrtum. Freud hat die erogenen Zonen klar beschrieben, aber unklar interpretiert, was sein Denken über infantile Sexualität in falsche Richtungen lenkte. Er bezeichnete die Genitalien als erogene Zonen par excellence, ohne zu berücksichtigen, daß diese Funktion einer späteren Entwicklungsstufe angehört. Unser sexuelles Leben fängt mit Masturbation, d.h. Autosexualität und nicht Autoerotik an. Die ersten genitalen Lustgefühle erwecken den ersten Glimmer des IchBewußtseins und sind absolut selbstbezüglich. Sie haben nichts mit Libido für das Elternpaar zu tun. Die unklare Abgrenzung von Sexualität und Erotik ist wahrscheinlich für den Unsinn des Ödipus - Komplexes verantwortlich. Die ―Liebe‖ des Kindes zur Mutter ist nichts anderes als ein Ausdruck des Wohlbehagens, gut aufgehoben und vor allem, beschützt zu sein. Sie ist Bollwerk gegen primäre Angst. Ich bin überzeugt, daß wir nicht an Erbsünde, sondern an Erbangst leiden. Der unorthodoxe Psychoanalytiker R. Fairbairn ist zu einer ähnlichen Folgerung gekommen. Nach ihm sind die ersten ,,Liebesbeziehungen‖ ein primärer Wunsch nach Schutz. Ein Irrtum führt zum anderen. Die psychoanalytischen Ideen über Homound Heterosexualität sind die Konsequenz der mißverstandenen infantilen Sexualität. Homosexualität wird als puerile Entwicklungsstufe angesehen, die normalerweise von Heterosexualität abgelöst wird. Diese allein garantiere die Reife der gesamten Persönlichkeit. Abgesehen von der Absurdität dieser Auffassung, sind die Werturteile, die in sie eingegangen sind, unvereinbar mit ärztlicher Seite 98 Unparteilichkeit. Sie passen in das patriarchalische System, von dem Freud sich nicht losreißen konnte. Die Entdeckung sexueller Lust durch Masturbation und die wiederholte Erregung der erogenen Zonen durch mütterliche Liebkosungen werden zur Fibel der Liebe und zum Grundriß des sexuell-erotischen Selbstbildnisses, das sich langsam mit der Entwicklung der gesamten Persönlichkeit ausprägt. Sie ist entscheidend für die Geschlechtsidentität, die unabhängig vom anatomischen Geschlecht sein kann, wofür die Transsexuellen das markanteste Beispiel sind. Bevorzugte erogene Zonen sind außer den Geschlechtsorganen auch Mund und Anus, deren unterschiedliche Bedeutung für Frauen und Männer bekannt ist. Die erotische Bedeutung des Mundes für die Frau kann nicht überschätzt werden, ebensowenig die sexuelle des Anus für den homosexuellen Mann. Die Genitalien der Frau verdienen hier besondere Erwähnung. Sie sind auf bisexueller Anlage aufgebaut und besitzen in der Vagina und Klitoris zwei verschiedene Erregungszonen. Die Klitoris kann mit vaginalen Reaktionen zusammenfallen, funktioniert aber auch separat. Sie ist meiner Ansicht nach kein verkümmertes männliches Organ, sondern ein Organ sui generis, dessen scharfe und überaus sensitive Erregbarkeit nicht kategorisierbar ist. Sie ist die erogene Zone par excellence der Frau und hat kein Pendant beim Mann. Corinne Hutt und ihre Mitarbeiter von der Universität Reading stellten in ihren Untersuchungen über sekundäre Geschlechtscharaktere fest, daß der Mann geistig und kinetisch der Frau überlegen sei. Die Autoren gingen mit einer vorgefaßten Meinung an ihre Arbeit heran, indem sie die geläufigen Vorstellungen über maskuline und feminine Eigenschaften fraglos akzeptierten. Corinne Hutt veröffentlichte die Resultate in ihrem Buch ,,Males and Females‖. Sie waren subjektiv gefärbt und voller Irrtümer. Ich habe die Argumente, die ihre These beweisen sollten, in meinem Buch ,,Bi-sexualität‖ widerlegen können, abgesehen von zweien, über die kein Zweifel bestehen kann. Sie beziehen sich auf die feinere Sensitivität der Haut der Frau und auf ihren stärkeren Geruchssinn. Beide beeinflussen erotische Beeindruckbarkeit und Ausdrucksfähigkeit. Die differenziertere Ansprechbarkeit, die Frauen von Männern entfernt, bringt sie näher zu anderen Frauen, was für ihre sexuelle Orientierung von Bedeutung sein kann. Nach welcher Richtung diese auch gehen mag, sie nährt sich von der belebenden Kraft der Seite 99 Emotion, ohne die weder Sexualität noch Erotik Tiefe und Standhaftigkeit haben können. Emotion ist der Motor, der alles bewegt; ohne sie würde das Leben selbst zum Stillstand kommen. Menschliche Beziehungen werden durch sie allein belebt und erhalten. Erotische Emotionen überfluten Körper und Seele und halten die Phantasie in Bann. Ihre entscheidende Rolle in intimen Beziehungen ist evident. Ich habe dies in meiner Autobiographie ,,Hindsight‖ folgendermaßen ausgedrückt: ,...emotional love alone saves sexual acts from futility. Without it, the whole razzmatazz of physical acrobatics is an empty shell‖ (Emotionale Zuwendung allein bewahrt sexuelle Handlungen vor Sinnlosigkeit. Ohne sie ist das ganze Tamtam körperlicher Übungen eine leere Muschel). Unser ganzes Leben, und besonders unser Liebesleben, spielt sich hauptsächlich in der Phantasie ab. Erotische und sexuelle Phantasien begleiten uns von der Kindheit bis zum Alter. Sie stehen, bis zu einem gewissen Grad, unter dem Einfluß der Drüsen mit innerer Sekretion. Man braucht nur an die prämenstruelle und die Ovulationsperiode der Frau zu denken, um diesen Zusammenhang zu verstehen. Sexuelle und erotische Erregbarkeit sind zu diesen Zeitpunkten gesteigert, mit Rückwirkung auf Träume und emotionales Klima. Hormonale Schwankungen müssen intime Beziehungen in Mitleidenschaft ziehen, sei es im positiven oder im negativen Sinne. Endokrine Funktion reagiert aber auch auf äußere Einflüsse, wofür das Ausbleiben der Menstruation durch Schock ein Beispiel ist. Ihre durchgreifende Wirkung auf die Persönlichkeit ist aber beschränkt. Diese Beschränkung kann so weit gehen, daß soziale Einflüsse sie in den Hintergrund drängen oder sogar ausmerzen. Ein schlagender Beweis dafür ist, daß ärztliche Kunst und elterliche Erziehung Kinder mit endokriner Abnormalität ,,normal‖ machen können, ohne ihnen einen sichtbaren Schaden anzutun. Sozialpsychologen halten die Bedeutung der Konstitution für menschliches Verhalten für unwichtig. Behaviourismus und Lerntheorie sind Alpha und Omega ihrer Theorie und Praxis. Eine solche Einstellung erklärt den Menschen zum Spielball seiner Umgebung. Ich habe keinen Zweifel, daß die Scheuklappen dieser „Wissenschaft“ klare Sicht und tiefere Einsicht verhindern. Soziologen stehen der Endokrinologie besonders feindlich gegenüber. Ihre Abwendung von diesem Zweig der Medizin wurde in Deutschland in den letzten Jahren stärker denn je. Auch Wissenschaftler und Psychiater wurden von derselben Phobie Seite 100 ergriffen. Der Grund waren die Arbeiten von Dr. G. Dörner, Professor für Endokrinologie an der Charité in der DDR. Dieser interessante Wissenschaftler ist in seinen Anschauungen über die Homosexualität im Mittelalter steckengeblieben. Das Schlimmste an der Sache Dörner ist, daß er moderne intrauterine Technik benutzen will (oder schon benutzt), um Homosexualität im Mutterleib zu kurieren. Kein Baby soll anders als ,,normal‖ geboren werden, wenn es nach ihm geht. Tod der Homosexualität also, ist Dörners Motto, und seine Ideale und Äußerungen haben leider einen Nazi-Unterton. Es ist kein Wunder, daß er von allen, die sich direkt oder indirekt betroffen fühlen, verfemt wird. Seine stumpfsinnige Psychologie sollte aber kein Grund sein, die psychologische Bedeutung der Drüsen mit innerer Sekretion einfach abzulehnen. Soziologen sollten genügend Selbstbewußtsein haben, um zu wissen, daß sie in jedem Fall die Trumpfkarte in der Hand haben, da kein Zweifel an der überragenden Rolle der Gesellschaft für menschliches Verhalten herrschen kann. Sie können sich sogar auf einige interessante Vorgänger berufen. Einer von ihnen war Edwin Bab, der 1903 als Kandidat der Medizin ,,Die gleichgeschlechtliche Liebe‖ veröffentlichte. Obwohl ein Buch über männliche Homosexualität, sind darin Ideen ausgedrückt, die Bezug auf alle Menschen haben. Im Gegensatz zu Magnus Hirschfeld und Numa Praetorius hält Bab die Art der Sexualität nicht für angeboren, sondern für erlernt. Nach ihm ist Sexualität per se durch anatomische und physiologische Unterschiede bedingt und bezieht sich auf ,,fleischliche‖ Akte allein. Dagegen gäbe es keine Unterschiede sekundärer Geschlechtscharaktere in Männern und Frauen. Sie seien psychisch gleichartig. Menschen reagierten erotisch und sexuell auf bestimmte Typen, unabhängig von deren anatomischem Geschlecht. Nur durch Massensuggestion sei Heterosexualität so vorherrschend. Männliche Heterosexualität ist für ihn eine Form der Minne und darin allen anderen Arten von Liebesbeziehungen überlegen. Bab unterscheidet sich in einem Punkt von den Soziologen der Gegenwart. Er glaubt an einen endokrinen Faktor, der manche Menschen befähigt, der heterosexuellen Massensuggestion zu widerstehen. Er hat viel mit Georg Groddek gemeinsam. Beide sind von unserer angeborenen Bisexualität überzeugt und lehnen den Begriff Pseudohomosexualität ab, da die homosexuelle Seite des Menschen früher oder später ans Licht komme, weil sie zu seiner Natur gehöre. Seite 101 Sonst geht er seinen eigenen Weg oder Abweg. Er gibt durch den Untertitel seines Buches ,,Lieblingsminne‖ den Hinweis, wie er männliche Homosexualität verstanden wissen will: nämlich nach griechischem Muster. Er hat die Erotik eines Sokrates und Plato im Sinne, eine Liebe, die Ursprung sophistischer Kultur ist (oder sein soll). Obwohl seine allgemeinen Theorien über Sexualität und Erotik verständlich sind, zeigt seine Überschätzung der männlichen Homosexualität einen patriarchalischen Chauvinismus. Nach ihm ist sie allein einer ,,Hochkultur‖ fähig. Bab begrüßt die Frauenbewegung als willkommenes Gegenstück zur Mann-Männerliebe und versteht Lesbianismus als natürliche Konsequenz einer weiblichen Gesellschaft. Er mißbilligt die versklavte Stellung der Frau in der kapitalistischen Welt, tut es aber mit einer gewissen Herablassung, wie sie noch heute bei homosexuellen Männern üblich ist, den Kämpfern für die Frauenbewegung inbegriffen. Die Vorstellung von Bisexualität ist alter Herkunft, wurde aber seit mehr als hundert Jahren von Psychiatern und Philosophen als pathologisch angesehen und zumeist mit Homosexualität verwechselt. Die psychoanalytische Schule erkennt Bisexualität als den Eckstein der Psyche an, aber verlangt, daß sie im Unbewußten steckenbleibt, um nicht die Reifung der sexuellen Entwicklung zu verhindern. Bab und Groddek dagegen sehen Bi- und Homosexualität als natürliche Lebensweise an. Numa Praetorius war ein Vorläufer derselben Hypothese, gab aber wie Bab der Mann-Männerliebe den Vorrang vor allen anderen ―Orientierungen‖. Georg Groddek war ein hellsichtiger Außenseiter der psychoanalytischen Schule und hatte einen weiteren Blick als alle anderen genannten Autoren. Seine Bücher verraten eine umfassende Sicht auf die menschliche Natur und ihre Deformation durch die Gesellschaft sowie eine intuitive Einfühlung in den einzelnen. Groddeks ,,Buch vom Es‖, das ich in englisch las, enthält eine besonders treffende Bemerkung über Bisexualität, die er als Wurzel menschlicher Sexualität im weitesten Sinne verstand: ,,Man kann kühn behaupten, und man tut es in der Tat, daß Menschen bis zur Pubertät - d.h. in der Kindheit - bisexuell sind. Das ist aber nicht die Wahrheit. Menschen sind ganz und gar bisexuell, in jedem Alter, und sie bleiben es, auch wenn sie als Konzession an den moralischen Code oder die gängige Mode einen Teil ihrer Bisexualität verdrängen. Sie verengen dadurch den Radius ihrer Sexualität. Und wie jeder Mensch nicht absolut heterosexuell ist, so ist er auch nie absolut homosexuell.― Seite 102 Groddek spricht mit authentischer Sprache von seinen Einsichten und Erfahrungen, ohne je in das vorverdaute Papageiengeschwätz einer ,Schule‗ zu fallen. Groddeks ,,Buch vom Es‖ ist in Briefen an eine Freundin geschrieben, und ich zitiere noch eine zweite Stelle aus dem 27. Brief (in meiner Übersetzung): ,,Ich nahm ein Magazin in die Hand und blätterte darin .... Ich sah darin einen Artikel, in dem eine der angesehensten Frauen Deutschlands ihre Ansichten über weibliche Homosexualität äußert. Sie nahm (1912) eine absolut negative Stellung gegen den Vorschlag ein, weibliche Homosexuelle zu bestrafen. Sie schrieb, daß ein solches Vorgehen die Struktur der ganzen Gesellschaft fundamental erschüttern würde. Und sie sagt weiter, daß in jedem Fall die Gefängnisse viele Tausende Frauen zu beherbergen hätten, wenn ein solches Gesetz angenommen würde‖. Aber weder Bab noch Groddek haben die Begriffe Sexualität und Erotik klar definieren können, ebensowenig haben sie die Bedeutung biografischer Ereignisse, die maßgeblich für die psychosexuelle Orientierung sind, erkannt. Lebensereignisse hängen zu einem nicht zu unterschätzenden Grade von Lebenserwartungen ab. Massensuggestion, die zur Heterosexualität aufruft, gibt in den meisten Fällen solchen Erwartungen die von der Gesellschaft gewünschte Richtung. Wir sind genetisch programmiert, hormonal in gewissem Grade, sozial in hohem Grade bestimmt. Es ist unmöglich, aus der genetischen Falle herauszukommen, aber es gibt Ausschlüpfe aus der sozialen, wenn man konstitutionell stark genug ist, den gängigen Konventionen der Umgebung Widerstand zu leisten und ein Leben aus erster Hand zu leben. Die Bücher Groddeks sind international bekannt und seine Erkenntnisse weit verbreitet. Bisexualität wird, nach meiner Erfahrung, von weiten Kreisen ohne weiteres verstanden. ―Wir haben doch alle männliche und weibliche Eigenschaften―, war die wiederholte Antwort auf meine Frage: ,,Halten Sie Bisexualität für angeboren?‖ Und doch trommelt die Gesellschaft immer weiter zu Heterosexualität und der sogenannten Maskulinität und Femininität. Diese Trommelschläge, mit Recht Gehirnwäsche genannt, fangen früh in der Kindheit an. Du bist ein Junge und du bist ein Mädchen, wird den Kleinen mit suggestiver Bestimmtheit eingehämmert. Die entsprechenden Eigenschaften, die sich die Gesellschaft ausgeklügelt hat, gehen mit dieser Belehrung einher. Darum ist es erstaunlich, daß Kinder das ABC natürlicher Seite 103 Beziehungen nicht vergessen haben und ihre Bi- und Homosexualität in Gefühl, Erotik und sexuellen Handlungen ausleben. Und Kinder lehren uns, wie falsch es ist, bestimmte Eigenschaften dem einen oder dem anderen Geschlecht zuzuschreiben. Wie Groddek in dem zitierten Buch erklärte, ist niemand in diesem Sinne Mann oder Frau. Und Simone de Beauvoir macht diesen Punkt noch klarer, wenn sie sagt: ,,Je ne suis pas femme, je la deviens‖ (Ich bin nicht Frau, ich wurde dazu gemacht). Kinder leben ihre homosexuelle Seite aus, ob sie von Eltern und Lehrern dafür bestraft werden oder nicht. Wenn man überhaupt von natürlicher Sexualität sprechen kann, dann ist Homosexualität viel natürlicher als Heterosexualität. Der Lernprozeß ist bei ihr weitgehend autodidaktisch und schon deshalb authentisch. Man kennt die Stellen, die den anderen erregen, aus eigener Erfahrung. Hierin ist Sexualität mit Erotik aufs engste verbunden; und das ist besonders so beim weiblichen Geschlecht, wo die erogenen Zonen der Haut differenzierter und erregbarer sind als beim männlichen. Heterosexualität ist darum viel schwerer zu erlernen als Homosexualität. Die Frage: warum werden Menschen homosexuell? - sollte eher lauten: warum werden sie heterosexuell? Die große Plastizität sexueller Reaktionen erklärt ihre Unpersönlichkeit und das weite Spektrum ihrer Erregbarkeit. Erotik dagegen ist persönlich, und ihre individuelle Note gibt ihr einen einzigartigen Charakter in intimen Beziehungen aus erster Hand. Die erotische Ansprechbarkeit der Frau ist aus physiologischen und psychologischen Gründen größer als die des Mannes. Diese Verschiedenheit spielt eine Rolle in hetero- und homosexuellen Beziehungen. Sie prädestiniert zur Homosexualität, wenn biografische Umstände diese Richtung begünstigen. Emotion und Erotik sind das Vorrecht der Frau, nicht nur in intimen Beziehungen, sondern auch in besonderen Begabungen. Ich bin überzeugt, daß die intuitiven Fähigkeiten, viel stärker ausgeprägt als beim Mann, auf ihrer emotionalen und erotischen Stärke beruhen. Es ist möglich, daß die falschen ,,maskulinen‖ Ideale, die dem männlichen Geschlecht oktroyiert sind, diese ―irrationalen‖ Fähigkeiten zum Verkümmern verdammten, während das vernachlässigte weibliche Geschlecht der Natur näher bleiben konnte. Männer sind eben noch mehr als Frauen von der Gesellschaft deformiert worden. Die falsche Einschätzung von Objektivität in Wissenschaft und Kunst gehört zu den falschen Werten des Patriarchats, die es den Seite 104 Geschlechtern zuschrieb. Dieses ist glücklicherweise immer mehr erkannt worden - und auch anerkannt von Wissenschaftlern sowie von progressiven Männern und Frauen. Der subjektive Anteil in allen schöpferischen Prozessen wird besonders klar von der jungen amerikanischen Philosophin Susan Griffin betont. Sie plädierte in einem Interview über ihr Buch ,,Frau und Natur‖ dafür, daß Logos durch Eros ersetzt werden sollte. Und Wissenschaft könnte dadurch nur gewinnen. Die Angst vor Subjektivität hat in der Tat die Wissenschaft der Tiefe und Breite beraubt. Wissenschaft aus erster Hand ist nach Griffin nur durch persönliche Anteilnahme möglich, da man nur so das wahre Verständnis für eine Frage gewinnen könne. Und Emotion ist unvermeidlich im schöpferischen Impuls jeder Art, da kein Problem ohne sie voll verstanden werden könne. Ich stimme vollkommen mit Susan Griffin überein. Ich möchte zu Griffins Gedankengängen hinzufügen, daß wir unsere kulturellen Errungenschaften jeder Art der bisexuellen Veranlagung verdanken. Und unsere homosexuelle Seite spielt eine besondere und überwiegende Rolle in Literatur und Kunst. Eros, der die Phantasie beflügelt, belebt und lenkt, ist aber in erster Hinsicht der Gott der Liebe, und durch ihn allein können intime Beziehungen lebendig werden und bleiben. Erotik, richtig verstanden, gibt uns die Wahl zwischen intimem Leben aus erster Hand oder Gefangenschaft in genitalen Klischees und materialistischen Wertungen. Denn dies ist der Unterschied zwischen genitaler Sexualität und Erotik: Sexualität ohne erotischen Schwung ist auf Macht und Eroberung eingestellt. Sie wird von Männern und Frauen zu Nutzzwecken gebraucht, als Instrument, den anderen zu beherrschen und ihn hörig zu machen. Der Triumph des Erfolges zählt mehr als alles andere. Dies ist das Leitwort des Kapitalismus mit seinen verheerenden Folgen. Männer, mehr als Frauen von der Gesellschaft deformiert, haben ihren Machttrieb seit Jahrtausenden in ihrer Sexualität und Weltanschauung bewiesen. Die Stereotypie in ihren „Affären―, mit dem Endziel der Eroberung der Frau, ist nicht nur aufs sexuelle Gebiet beschränkt. Sie ergreift die Phantasie und ist der Boden für sadistische Vorstellungen und Handlungen. Männlicher Sadismus ist die Basis der Pornographie, der bildlichen Darstellung des Frauenhasses, männlicher Rache und falscher Überlegenheit. Frauen können in ein ähnliches Muster der Rache gegen den Mann verfallen, besonders wenn sie von einem Machtbedürfnis besessen sind und der Seite 105 Mann sie erfolgreich daran hindern kann, ihr Ziel zu erreichen. Dies ist die dunkle Seite der Heterosexualität und ihrer perversen Auswüchse. Man darf aber nicht vergessen, daß auch Homosexuelle in dieselben Fallen sexueller Stereotypie und sadistischen Machttriebes rennen können. Diese Perversionen, die Hand in Hand mit sexueller Stereotypie und materialistischen Wertungen gehen, sind, wie zu erwarten, öfter bei Männern als bei Frauen zu finden, was ich in meiner Studie über Bisexualität experimentell aufzeigen konnte. Es gab mir die Gelegenheit, verschiedene Verhaltensmuster in der hetero - und homosexuellen Seite der Probanden zu untersuchen. Die Resultate sind aufschlußreich und illustrieren einige der erwähnten Punkte. Bisexuelle sind immer noch ,Ausgestoßene‗ der Gesellschaft, und meine Probanden mißbilligten natürlich die bestehenden Konventionen. Und doch hielt eine Anzahl von Männern an typischen heterosexuellen Vorurteilen fest. Es war bemerkenswert, daß ältere Männer geneigt waren, ihre Ehefrauen als Haushälterin und Muttersurrogat anzusehen. Einige hielten ihre Adresse geheim, so sehr fürchteten sie, daß ihre Homosexualität ihren Frauen zu Ohren kommen könnte. Sie machten nicht nur ein Geheimnis aus ihrer Homosexualität, sondern waren empört, wenn ich sie fragte, ob die Gattinnen vielleicht lesbische Neigungen hätten. Die jüngere Generation männlicher Probanden stand dazu in vollem Gegensatz. Sie waren stolz auf ihre weibliche Seite, die sie kultivierten. Sie teilten alles mit ihren Partnerinnen, von Hausarbeit bis zu Erziehung der Kinder und geistigen Interessen. Einige jüngere Männer gehörten einem Verein gegen Sexismus an. Summa summarum: die Untersuchung zeigte die Frau als starkes Geschlecht auf. Die Männer waren emotional an Frauen gebunden, während die Frauen emotional und erotisch auf ihr eigenes Geschlecht fixiert waren. Das Schwergewicht ihrer Beziehung zu männlichen Partnern lag in Mütterlichkeit und gemeinsamer Sorge für die Kinder. Dennoch waren die meisten Ehen der weiblichen Probanden — im Gegensatz zu den männlichen — unglücklich. Nur 10 der 75 Frauen fanden ihre Ehe glücklich. Die sexuelle Verbindung mit Männern wurde dagegen von der Mehrzahl als nicht unangenehm und von der Minderzahl als zufriedenstellend empfunden. Aber ein überwältigendes emotionales und erotisches Verlangen nach anderen Frauen beherrschte das Gefühlsleben der ganzen weiblichen Gruppe. Der emotionalen Abhängigkeit der Männer von den Frauen Seite 106 entsprach eine ebenso große emotionale Unabhängigkeit der Frauen von den Männern. ,,Il faut chercher la mère‖, um diesen Gegensatz zu verstehen (―man muß die Mutter suchen‖). Die allgemeine Höherbewertung des männlichen Geschlechts beeinflußt die überwiegende Mehrzahl der Mütter zugunsten des männlichen Kindes. Und sie überschütten es mit ihrer Liebe und Protektion, die sie in Liebkosungen und Behandlung des Babys ausdrücken. So wird dem Jungen der erste Platz im Leben der Mutter und im Leben überhaupt zugesichert. Die emotionale Abhängigkeit des Mannes von der Frau sowie seine Arroganz und sein Überlegenheitsgefühl sind dadurch auch sichergestellt. Die Beziehung der Mutter zu ihrer Baby-Tochter ist in den überwiegenden Fällen von einem Gefühl der Enttäuschung getrübt. Eine gewisse Unsicherheit in Handeln und Gefühlsäußerung der Mutter geben der kleinen Tochter den Eindruck von Zurücksetzung und mangelhaftem Wert. Sie merkt früher oder später, daß sie das zweite Geschlecht ist. Sie verlangt die mütterliche Liebe ebenso stark und absolut wie das männliche Kind und muß sich enttäuscht mit dem zweiten Platz begnügen. Die Folgen davon sind Distanzierung und Ressentiment einerseits und Drang zu Unabhängigkeit andererseits, was sie zu Selbständigkeit prädisponiert. Die Sehnsucht nach der ganzen Liebe der Mutter bleibt jedoch, und sie sucht sie in anderen Frauen, falls sie sich nicht zum Vater und später anderen Männern als Substitut zuwendet. Es liegt auf der Hand, nach dem Unterschied zwischen bisexuellen und lesbischen Frauen zu fragen. Viele Soziologen glauben, daß der Unterschied nur darin besteht, daß eine lesbische Frau die Ehe als Unterschlupf benutzt und sich für bisexuell erklärt, ohne es zu sein. Dies widerspricht meiner Untersuchung. Bisexuelle Frauen können sich in Männer verlieben, lesbische nicht, auch wenn sie sich verheiraten. Aber beide sind erotisch und emotional an Frauen gefesselt. In diesem Sinne liebten die bisexuellen Frauen meiner Studie ihr eigenes Geschlecht nicht nur anders, sondern auch besser als bisexuelle und heterosexuelle Männer. Die weiblichen Probanden fühlten sich geistig und kreativ mehr von Frauen als von Männern inspiriert und hielten Bisexualität für wesentlich in kulturellen Errungenschaften. Besonders interessant war die Abwesenheit von Schuldgefühlen über Homosexualität bei den Frauen im Gegensatz zu den Männern. Man fühlt sich nicht schuldig wegen Beziehungen, die man als absolut richtig empfindet. Seite 107 Meine experimentellen Studien sowie meine eigenen Erfahrungen haben mich gelehrt, daß Frauen, die Frauen lieben, ein größeres erotisches ,Arsenal‗ als ihre heterosexuellen Schwestern besitzen. Und beide sind den Männern darin überlegen. Simone de Beauvoir schreibt in ,,Das andere Geschlecht‖: ,,Und wenn man die Natur befragt, muß man sagen, daß alle Frauen von Natur Homosexuelle sind‖ (meine Übersetzung). Karen Horney und Marie Bonaparte äußerten sich in ähnlicher Weise. Emotion und Sinnlichkeit erregen die erotische Phantasie und umgekehrt. Und Erotik insgesamt ergreift den ganzen Menschen. Sie kann sich in einem Blick, einer Geste, in einem Wort, in der Stimme und der leichtesten Berührung bemerkbar machen. Erotischer Magnetismus erregt nicht nur die erogenen Zonen, sondern jeden Flecken der Haut, wenn er richtig berührt wird, und bringt den Körper zu einem „globalen“ Orgasmus, in den der sexuelle einbegriffen sein kann, aber nicht muß. Wir haben genug von der hygienischen und psychologischen Befriedigung durch Orgasmus gehört. Es ist uns aber verschwiegen worden, daß diese Einseitigkeit in die Sackgasse der Stereotypie führt, wenn sie nicht mit erotischer Ekstase verbunden ist. Es sind nicht die mechanischen Antworten des Körpers, sondern die individuelle Sprache der Erotik, die physische Intimität jedesmal zu einem neuen Erlebnis macht. Alle diese Autoren, die Sexualität nicht klar von Erotik unterscheiden konnten, waren unfähig, ihre Bedeutung für ein Liebesleben aus erster Hand und für das Liebesleben überhaupt zu verstehen. Durch die Vermengung beider Begriffe gaben sie dem genitalen Orgasmus die entscheidende Bedeutung für ,erfolgreiche‗ Partnerschaften. Kinsey und seine Mitarbeiter erkannten die hochgradige Sensualität und Sexualität der Frau, die die des Mannes weit übertreffen. Sie verstanden hieraus auch die Natürlichkeit der lesbischen Liebe. Leider nahmen sie in ihren Forschungen die Häufigkeit des sexuellen Orgasmus zum Beweis ,sexueller‗ Überlegenheit des weiblichen Geschlechts. Sie hielten Sexualität in diesem beschränkten Sinn für fundamental und arbeiteten so mit dem abgeklapperten patriarchalischen Eroberungskonzept. Sie verwechselten Quantität mit Qualität. Liebesfähigkeit und Liebesglück hängen vom Reichtum der Sensualität und der erotischen Phantasie ab. Nur diese entheben physische Intimität der Stereotypie. Die geringere erotische Erregbarkeit des Mannes ist wahrscheinlich für seine genitale Seite 108 Besessenheit verantwortlich, ob er hetero- oder homosexuell ist. Neid auf die Gebärfähigkeit der Frau kann in diese genitale Überbewertung hineinspielen. Zweifellos ist Massensuggestion für das Überwiegen heterosexueller Beziehungen verantwortlich, aber man darf nicht vergessen, daß eine Art der Liebe auch ebenso authentisch sein kann wie die andere. Und darauf kommt es an. Kategorisierungen und Werturteile über die Variationen intimer Beziehungen sind arrogant und sinnlos. Sogenannte heterosexuelle Männer machen freudig in den heimlichen Abenteuern von Homosexuellen mit, und verheiratete Frauen, die ihre Ehepartner zu lieben glauben, aber in späterem Alter ihre Homosexualität entdecken, sind keine Seltenheit. Mängel an der einen oder anderen Art der Liebe zu finden, zeigt Unverständnis für die Liebe selber. Die höher entwickelte erotische Fähigkeit der Frau, die besonders in homosexuellen Beziehungen zutage tritt, enthält kein Werturteil über Lesbianismus, sondern ist Feststellung einer Tatsache. Es kann aber kein Zweifel sein, daß homosexuelle Frauen einen besonderen Platz in der Entwicklung der Gesellschaft haben, da sie die Entwicklung der Frauenbewegung begünstigten. Nach Simone de Beauvoir ist weibliche Homosexualität ein Versuch, die Autonomie der Frau mit ihrer physischen Passivität zu versöhnen. Sicherlich ist die Lesbe autonom, weil sie emotional und sexuell unabhängig vom Mann ist. Sie hat aber durchaus keinen Grund, sich ihrer ,physischen‗ Schwäche entledigen zu wollen, da die sportliche Entwicklung des letzten Jahrzehnts sie als gleichwertigen Gegner (oder Kameraden) des Mannes aufgezeigt hat. Und dieser Prozeß schreitet fort. Frauen haben sich nicht nur geistig verändert, sondern auch körperlich. Dasselbe gilt für den Mann, in umgekehrter Richtung, was den Unterschied zwischen den Geschlechtern immer mehr zu verringern scheint. Es wäre aber eine falsche Schlußfolgerung, sexuelle Polarität für verschwindend zu halten. Obwohl Frauen physisch stärker und Männer psychisch ansprechbarer werden, kann man kaum Veränderungen fundamentaler sexueller und erotischer Strukturen erwarten. Diese sind insoweit unveränderlich, als sie in der konstitutionellen Anlage und der sozialen Bedingtheit der Geschlechter begründet sind. Der Überlegenheitskomplex des Mannes ändert sich nicht, auch wenn er sich angesichts der steigenden Bedeu- Seite 109 tung der Frau unbehaglich und bedroht fühlt. Die Hetero- und Homosexualität des männlichen Geschlechts haben eine seit Jahrtausenden zu beträchtliche Macht ausgeübt, als daß sie ihre Fahnen vor den Frauen senkten. Dennoch sind die Frauen jetzt an der Reihe, uns vor einem Atomkrieg und anderen Auswüchsen des Patriarchats zu bewahren. Frauen, die Frauen lieben, sind am besten vorbereitet, Pfeiler einer neuen gesellschaftlichen Entwicklung zu werden. Man kann nur hoffen, daß der bestehende Widerstand der sogenannten heterosexuellen Schwestern sich mit der Zeit verlieren wird, je mehr sie sich ihrer bisexuellen Natur bewußt werden. Die homosexuelle Frau selber hat nach meinen Beobachtungen aber auch noch viel zu lernen. Ihre intimen Beziehungen ahmen immer noch heterosexuelle Muster nach. Lesbische Frauen sollten verstehen, daß sie sich damit eine Falle stellen. Eroberungs- und Sensationslust und die Überbewertung des sexuellen Orgasmus sind Lernstoff der patriarchalen Sexualität. Eine Frau muß sich ihrer autonomen erotischen Macht bewußt werden, um ein Leben aus erster Hand leben zu können. Dies ist die conditio sine qua non für die homosexuelle Frau. Durch Imitation heterosexueller Rollen, Gesten und Handlungen setzt sie sich einer falschen Einschätzung von anderen und sich selbst aus und verrät sexuelle Minderwertigkeitsgefühle. Die Folgen sind nicht nur für die Betroffenen, sondern für die Frauenbewegung als Ganzes negativ, denn Individualität und Selbstbewußtsein im intimen Leben stehen in direkter Beziehung zu Freiheit im sozialen Leben. Niemand kann leugnen, daß es Zeit braucht, aus dem Gefängnis gewohnter Lebensweisen herauszukommen. Die heterosexuellen Strukturen sind tief im Gedächtnis eingebettet, und die Aufgabe des Umlernens ist eine der schwersten überhaupt. Es ist nicht nur notwendig, alte Rollen, sondern Rollen überhaupt aufzugeben, um ein authentisches Leben zu führen. Authentizität ist der Boden, auf dem die Originalität erotischer Phantasie beruht, die in lesbischen Beziehungen eine besondere Bedeutung hat, um physische Erlebnisse immer neu und einzigartig zu machen. Wenn zärtliche Gefühle und Emotionen zusammen mit erotischer Phantasie an erster Stelle stehen, haben sexueller Ehrgeiz und Eroberungssucht ihre Herrschaft verloren. Sie sind der Grundriß für ein individuelles und originelles Liebesleben, das sich vom patriarchalischen Alpdruck befreit hat. Nur im Vertrauen auf ihr autonomes Anderssein kann sich die lesbische Frau von männlichen Seite 110 Stereotypen losreißen. Jedes Wort in der Sprache der Liebe muß klingen, als ob man es zum ersten Mal hörte. Das ist der ―touchstone‖ ihrer Einzigartigkeit. Ein anderes Verhängnis der Liebe zwischen Frauen, das vielleicht mit unbewußtem Nachahmen heterosexueller Formen zusammengeht, ist eine oft krankhafte Eifersucht. Dieses Gift wirkt am stärksten, wenn ein Mann ins Gehege zweier Frauen kommt. Es gibt immer Ausnahmen von Regeln, und eine solche war die geistreiche und verführerische Natalie Barney. Jean Chalons ,,Portrait d‗une Séductrice‖ läßt keinen Zweifel, daß sie vielleicht auf andere Frauen, aber nie auf Männer eifersüchtig war. Sie hatte eine unwiderstehliche Anziehungskraft für Frauen, die - wie sie wohl wußte - kein Mann überbieten konnte. Die Frauenbewegung arbeitet an einer Erneuerung der Sprache, um sie von patriarchalischen Prägungen zu befreien. Das ist eine überaus wichtige Aufgabe. Aber mindestens ebenso wichtig ist meiner Meinung nach die Befreiung homosexueller Frauenliebe von heterosexuellen Mustern; denn das ist wesentlich für die Lebendigkeit der Bewegung und ihrer Anhängerinnen. Literatur: Bab, E.: Die gleichgeschlechtliche Liebe, Berlin 1903 Beauvoir, Simone de: The Second Sex, London 1967 Ellis. H.: Studies in the Psychology of Sex, New York 1942 Freud, S.: Three Essays on the Theory of Sexuality, London 1967 Griffin, S.: Interview in Psychologie Heute, Nr. 7, Juli 1981 Groddek, G.: The Book of the Id, London, 1950 Hirschfeld, M.: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, Berlin 1914 Hutt, C.: Males and Females, London 1972 Wolff, C.: Bisexualität, Frankfurt/Main 1979 Wolff, C.: Hindsight, London 1980 Seite 111 Charlotte Wolff Ärztin und Forscherin Charlotte Wolff (1897-1986) ist die Verfasserin eines Standardwerkes über wissenschaftliche Handdeutung und die Verfasserin zweier Bücher zur Sexualforschung sowie zweier Autobiografien und eines Romans. Im folgenden stehen die eher unbekannten wissenschaftlichen Arbeiten Wolffs im Vordergrund. Studium und Assistenzzeit in Deutschland Im Mai 1920 begann Charlotte Wolff ihr Medizin- und Philosophiestudium in Freiburg. Weitere Semester in Königsberg, Tübingen und Berlin folgten. Die intellektuelle Begeisterung als Studentin von Husserl und Heidegger, die langen Diskussionen mit Walter Benjamin, einem engen Freund aus dieser Zeit, Liebeskummer und eine gefährliche Reise nach Sebastopol 1924, Deutschunterricht für russische Studenten und nächtelange Besuche in Lesbenlokalen und nachmittags in den entsprechenden Cafés machten das Medizinstudium nicht immer zu einer leichten Sache. Trotzdem bestand Charlotte Wolff das Staatsexamen in allen Fächern, außer Psychiatrie. Nach dem praktischen Jahr im Virchow-Krankenhaus erhielt sie 1928 die Zulassung zur Berufsausübung. Ärztin war ihr jedoch mehr Beruf als Berufung. Sie bekam leicht Kontakt zu Menschen und war jederzeit bereit, ihnen zuzuhören und zu helfen. Dennoch zweifelte sie an ihren Fachkenntnissen und litt an verschiedenen Ängsten. Ihr Interesse an psychosozialer Medizin und Sexualmedizin erwachte bei ihrer Arbeit in einem Ambulatorium der Allgemeinen Krankenkassen, wo sie für Schwangerschaftsfürsorge zuständig war. Sie führte viele Beratungsgespräche: Einzel-, Paar- und Familiengespräche. Ihre Vorgesetzte, Dr. Alice Vollnhals, versicherte ihr, sie habe einen sechsten Sinn für diese Arbeit, und beauftragte sie mit der Einrichtung der ersten Klinik für Schwangerschaftsverhütung in Deutschland. Das neue Medizinverständnis in den Ambulatorien begeisterte sie. „Hier arbeitete die Avantgarde der Präventivmedizin und der sozialen Fürsorge. Ärzte, die nur Privatpatienten behandelten, sahen auf uns - die Angestellten der öffentlichen Krankenkassen - herab.» Seite 112 Vier Ärztinnen arbeiteten im Team mit Charlotte Wolff: Minna Flake, Kommunistin und Jüdin, Alice Vollnhals (Direktorin), Polin und mit einem Juden verheiratet, Hella Bernhardt, Deutsche, ebenfalls mit einem Juden verheiratet. Diese drei Frauen wurden ihre Freundinnen und beeinflussten sie in verschiedener Hinsicht. Die vierte Ärztin verhielt sich ―uns gegenüber stets höflich und korrekt, war aber recht verschlossen. Ihre Ansichten blieben unergründlich bis zum Jahr 1933. Dann stellte sich heraus, dass sie seit 1924 aktive Nationalsozialistin war. Wahrscheinlich hatte man sie auf uns angesetzt, und sie hatte regelmäßig Berichte erstellt - vermutlich während all jener Jahre, die ich als Ärztin in Deutschland tätig war.― 1929 habe sie - sagt Charlotte Wolff von sich selbst - „den Hitlerputsch von 1923 nicht ernst genommen, wie ich schon andere Warnzeichen missachtet hatte. Nach wie vor waren Poesie, Kunst und Philosophie meine Welt, ich war mit Haut und Haaren eine Individualistin.― 1931 wurde sie als Jüdin dazu gedrängt, ihre klinische Arbeit aufzugeben und in ein Institut für elektro-physiologische Medizin zu wechseln. Nach einem Jahr wurde sie dort Direktorin und begann ihre erste Forschungsarbeit. Im Februar 1933 bekam sie die Kündigung. Der Schlag war ein kollektiver: alle Jüdinnen und Juden mussten ihren Beruf aufgeben. Von dreitausend zugelassenen Ärztinnen in Deutschland erhielten sechshundert als „Nicht-Arierinnen― ein Berufsverbot. Exil in Frankreich und England Knapp der Verhaftung entgangen, flüchtete Wolff nach Paris. Für die nächsten 19 Jahre würde sie ihren Beruf nicht mehr ausüben dürfen. Erst 1952 erhielt sie in London erneut eine Bewilligung, als Ärztin zu arbeiten. Das Berufsverbot dauerte von ihrem 36. bis zum 55. Altersjahr. Sie litt an reaktiven Depressionen und machte für kürzere Zeit vor und nach der Flucht eine Jungsche Psychoanalyse. Diese Information lässt sie in ihrer Autobiografie quasi beiläufig in ein Gespräch mit Virginia Woolf einfließen. Handdeutung aus physiologischer und psychologischer Sicht Während dieser knapp zwanzig Jahre entwickelte Charlotte Wolff eine wissenschaftliche Methode der Handinterpretation. Sie sammelte Hunderte und Tausende von Handabdrücken. In Frankreich begann sie ihre Forschung durch die Vermittlung von Seite 113 Prof. Wallon, einem Spezialisten für Kinderheilkunde, in einer Klinik für geistig behinderte Kinder. Daneben gaben sich in ihren Privaträumen - durch die Vermittlung ihrer Freundin und Geliebten Helene Hessel, einer Journalistin - Prominente aus Aristokratie, Kunst (v. a. die Surrealisten), Schauspiel und Politik die Klinke in die Hand. So konnte sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen. Als Hessel und sie sich trennten, beschloss Charlotte Wolff, nach London zu gehen, auch aus Angst vor dem Nationalsozialismus. Sie konnte dort ihre Forschungen fortsetzen, untersuchte nacheinander Menschenaffen, menschliche Neugeborene, Studenten und Patienten endokrinologischer und psychiatrischer Kliniken. Nach ihrer Theorie prägen die Handfunktionen Greifen und Tasten, also die motorischen und sensiblen Funktionen der Hand (durch ein image motorique und ein Tastbild), die Entwicklung und Ausgestaltung der Hirnfunktionen entscheidend mit. So stehen Tasten und Begreifen mit Begriffsbildung, Sprache, Denken, Schrift und Lesen in einem unmittelbaren Zusammenhang. Überzeugt davon, dass sich Emotionen in einer Art Psychogramm direkt auf die Hände auswirken, entwickelte Charlotte Wolff ein System zur Erfassung von Konstitution, Temperament, Charakter sowie zur Diagnose von psychischen und endokrinologischen Krankheitsbildern. Sie unterscheidet sechs Handtypen, denen sie je eine entsprechende Konstitution sowie Temperament, Mentalität und Befähigungen zuordnet. Die Nägel geben Auskunft über die Gesundheit. Die einzelnen Teile der Hand, Handwurzel und -ballen, Finger und Daumen geben in ihrem Zusammenspiel ein Bild der individuellen handlungs- und wahrnehmungsorientierten Aspekte der Persönlichkeit. Die Handlinien schließlich zeigen die psychische Stabilität oder Verletzlichkeit an, erworben oder vererbt. Eine Deutung des Schicksals aus jedem Quadratzentimeter der Hand hielt Charlotte Wolff für Aberglaube; davon distanzierte sie sich vehement. Es gibt drei Traditionen des Handlesens: die Deutung der Sinti und Roma, der Astrologen und die ärztliche Handdeutung, die seit dem klassischen Griechenland als wichtiges diagnostisches Mittel eingesetzt wurde. Sich selbst sah sie in der ärztlichen Tradition - unter Einbezug der ihr bekannten Resultate der Hirnforschung. Die diagnostische Gültigkeit überprüfte Wolff in mehreren Grossversuchen, verglich ihre Handdiagnostik mit den medizinischen Diagnosen, wobei sie eine Übereinstimmung von 80 % erreichte. Seite 114 Diese Ergebnisse weckten das Interesse der englischen Psychologen und Mediziner. Charlotte Wolff wurde zu einem respektierten Mitglied der psychologischen Forschung, veröffentlichte im British Journal of Medical Psychology, und erhielt den Titel Fellow of the British Psychological Society. Love beetween Women - Lesbenforschung Charlotte Wolff schrieb 1961 zum erstenmal über das Thema weibliche Homosexualität im Zusammenhang mit ihrer ersten Autobiografie mit dem Titel „On the way to myself―. Sechs Jahre später, 1967, im Alter von siebzig Jahren, begann sie ihr zeitintensivstes Forschungsprojekt. Sie befragte 108 lesbische und 123 heterosexuelle Frauen zu Biografie und Sexualität. 231 Fragebogen wurden statistisch ausgewertet. Die 108 lesbischen Frauen befragte Charlotte Wolff persönlich zu Hause bei Tee und Kuchen, abends und am Wochenende. Es handelte sich um tiefenpsychologische Interviews. Vorgängig hatten die Frauen Wolff einen schriftlichen Bericht geschickt über Lebensumstände, emotionale und sexuelle Erfahrungen. Zwei dieser Interviews sind protokollarisch im Buch „Love between Women― wiedergegeben. Wolff wollte mit dieser Untersuchung die weibliche Homosexualität, Homoemotionalität und lesbische Lebensweise möglichst umfassend beschreiben. An früheren Arbeiten anderer Autoren kritisierte sie deren zu engen Blickwinkel. Zu welchen Resultaten kam Wolff? Lesben zeigen ein größeres Bestreben ―nach Freiheit und Unabhängigkeit, größere emotionale Neugier und Abenteuerlust. Sie sind häufiger gewalttätig in Wort und Tat‖. Lesben scheinen ständig in Abwehrbereitschaft zu sein. Wolff sieht darin die Auswirkung einer diskriminierenden Umwelt. Lesben können es sich weniger leisten, sich zu entspannen, und zeigen oft weniger Lebensfreude. Dafür bescheinigt ihnen Wolff eine größere erotische Verspieltheit und allgemein ein stärkeres erotisches Interesse. Die lesbischen Frauen ihrer Studie machten häufiger Angaben zu Depressionen und Sucht als die heterosexuelle Vergleichsgruppe. Dieser Befund wird von Bell und Weinberg nicht bestätigt. Sie befragten 1978, also zehn Jahre später, 785 lesbische Frauen in San Francisco. (Barbara Giessrau hat alle ähnlichen Studien in ihrem Buch «Die Sehnsucht der Frau nach der Frau» (1993) bestens Seite 115 zusammengefasst.) Bestätigen kann Gissrau hingegen, auch aufgrund eigener Forschungen, eine größere Aktivität, Aggressivität, Durchsetzungsfähigkeit und Zielgerichtetheit von Lesben - sowie mehr Selbstbewusstsein - im Vergleich zu heterosexuellen Frauen. Reaktionen auf das Buch „Love between women“ Wolff schrieb ihr Buch für ein medizinisch-psychologisches Fachpublikum, für die Öffentlichkeit und für lesbische Frauen. Psychologen und Mediziner missachteten das Buch tapfer, stur und konsequent. Wolff wurde zu einem einzigen Vortrag in einer Londoner Klinik eingeladen. Die Öffentlichkeit zeigte sich nicht berührt: „... einige Männer hielten es für eine amüsante Angelegenheit, andere reagierten zynisch. Wieder andere machten körperliche Angriffe auf Lesben.» Trotzdem war das Buch ein beruflicher Meilenstein für Wolff, und sie wurde zu einer Expertin, die von vielen homosexuellen Frauen und Männern konsultiert wurde. Was heute am Buch am meisten auffällt, ist Wolffs psychopathologische Ausdrucksweise. Da sie in Deutschland in den 20er Jahren studierte, zu einer Zeit, als die sogenannte „Rassenhygiene― ein integraler Bestandteil des Medizinstudiums war (nicht nur in Deutschland), ist ihre Sprache von diesem Vokabular durchsetzt. Durch die unkritische Übersetzung wird das Unbehagen am Text noch verstärkt, was grundsätzlich die Frage aufwirft, ob die psychopathologische Forschung für Lesben nicht per se diskriminierend ist, trotz der ehrlichen Absicht, aufklärend zu wirken. Intermezzo Wolff war zugleich stolz und enttäuscht: „Es war eine Illusion, das Buch könne zu einer Verringerung der Vorurteile gegen homosexuelle Frauen führen.― Sie selbst fühlte sich nach der Veröffentlichung müde und erschöpft. „Der Versuch, einen angemessenen Platz in der Welt zu finden, kostete mich ungeheure Anstrengung und ließ mir wenig Zeit zum Ausruhen und Nachdenken (...), ich litt an Depressionen und einem Gefühl der Leere (...), doch nichts, außer der Fürsorge und Liebe einer mütterlichen Person, heilte die Wurzeln des Übels. (...) ich wollte meinen Kopf auf ein Kissen legen, das nicht meines war, und ein Stück Leben genießen, das ich mir von einer Freundin oder Geliebten lieh.― Aus diesen Gefühlen heraus schrieb sie nach Love Seite 116 between women den Roman An older Love. Auf besagtem Kissen ruhte sie sich nicht lange aus, sondern wandte sich der Frage zu, „ob Bisexualität für normale Menschen eher akzeptabel sei als lesbische Liebe―. Sie schrieb ein neues Buch mit dem Titel „Bisexuality: A study.― Darin vertritt sie die Ansicht, dass nur eine bisexueIle Gesellschaft von Sexismus und der ganzen Skala psychosexueller und sozialer Unterdrückung befreien kann. Nach ihrer Definition ist Bisexualität die Wurzel der menschlichen Sexualität und die Grundsubstanz aller biopsychischen Reaktionen, seien diese nun passiv oder aktiv. aus: die, Heft 6/1997, Zürich Seite 117 “Wir über uns“ Lebenslauf des Charlotte-Wolff-Kollegs 1970 In Berlin gibt es im Zweiten Bildungsweg (ZBW) nur zwei staatliche Einrichtungen zum Nachholen des Abiturs mit interner Prüfung, das Berlin-Kolleg (BK) und die Peter-A.-Silbermann-Schule (Abendgymnasium). Weiterhin gibt es die Begabtenprüfung und private Schulen (zumeist hohe Schulgelder und hohe Abbrecher- und Durchfallquoten - ca. 50%). Frühjahr 1970 Berliner Volkshochschulen planen angesichts dieser unzureichenden Situation, Abiturlehrgänge für Erwachsene mit Stufenprüfung einzurichten. Gleichzeitig läuft die Werbung an, obwohl noch keine Zustimmung der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) vorliegt. September 1970 Trotz der noch fehlenden Zustimmung der KMK wird an der Volkshochschule Charlottenburg ein Vorlaufkurs eingerichtet, den etwa 30 Teilnehmer/ -innen in der bloßen Hoffnung auf KMK-Genehmigung und mit dem Risiko der Absage besuchen. Frühjahr 1971 Vorläufige und widerrufliche Genehmigung der VHS-Lehrgänge als Modellversuch mit Anerkennung der Abiturzeugnisse von allen Bundesländern. Herbst 1973 Ablegung der ersten Stufe des Abiturs nach zweieinhalb Jahren (Mathematik und, wenn als Wahlpflichtfach gewählt, eine zweite Fremdsprache oder eine Naturwissenschaft) Herbst 1974 24 Teilnehmer/-innen legen die zweite Stufe des Abiturs ab (Fächer Deutsch, Englisch, Politische Weltkunde und - sofern sie nicht eine zweite Fremdsprache oder eine Naturwissenschaft gewählt hatten - Sozialwissenschaften oder Wirtschaftslehre) und verlassen als erste Abiturient/-inn/en die VHS-Abiturlehrgänge in Seite 118 1975 1977 Charlottenburg. Weil einige Teilnehmer/ -innen die Doppel- Dreifachbelastung von Ausbildung, Beruf und Familie nicht bewältigen können, wird im Laufe des ersten Jahrgangs mit Hilfe der Senatsverwaltung für Schulwesen durchgesetzt, daß die Teilnehmer/-innen, wenn sie ihren Beruf aufgeben, nach den Sätzen des elternabhängigen BAFöG gefördert werden können. In den folgenden Jahren erreichen andere Kollegiat/-inn/ en auf dem Prozeßweg den wichtigen Fortschritt, daß alle Teilnehmer/-innen elternunabhängige Förderung beantragen können. Erstmalig und (zunächst) einmalig werden fünf hauptamtliche Lehrer/-innen-Stellen geschaffen. Zuvor waren die Dozent/inn/en - wie leider noch alle nicht im ZBW tätigen VHS-Dozent/-inn/en bis heute - als Honorarkräfte oder sogenannte freie Mitarbeiter bezahlt worden (nur ca. die Hälfte eines normalen Lehrer-Einkommens, sozial und arbeitsrechtlich ungesicherte Stellung; dadurch hohe Fluktuation, häufiger Lehrerwechsel, wenig kontinuierliche pädagogische Arbeit). Beginn der schwersten Krise für die VHSLehrgänge: Die Senatsverwaltung für Schulwesen muß der KMK einen Erfahrungsbericht vorlegen, um anstelle der widerruflichen Anerkennung die endgültige zu erreichen. Der Bericht fällt so negativ aus, daß er bei den Teilnehmer/-innen, Lehrer/innen, den Volkshochschulleitungen und den Lehrgangsleitern einhelligen Protest hervorruft, da er in den wesentlichen Punkten, die auch vorher von der Senatsverwaltung nie beanstandet worden waren, nicht gerechtfertigt ist. Bayern zieht aufgrund des Berichts nunmehr seine Zustimmung zurück. Der Streit in der KMK um die Anerkennung der VHS-Abiturlehrgänge zieht sich etwa zwei Jahre hin; das Land Berlin muß schließlich nachgeben, die Stufenprüfung abschaffen und das gymnasiale Modell übernehmen. Seite 119 1979 1981 1991 1997 Alle Dozent/-inn/en des ZBW an den Berliner Volkshochschulen müssen aufgrund erfolgreicher Klagen einzelner Kolleg/-inn/en vor dem Arbeitsgericht mit dem gleichen Status wie Lehrer/-innen der Schulen festeingestellt werden. Ohne nennenswerte Änderungen muß die gymnasiale Oberstufe übernommen und das Stufenabitur abgeschafft werden. Zwar ist damit die endgültige bundesweite Anerkennung des VHSAbiturs gesichert und das VHS-Kolleg in seiner heutigen Form geboren, aber auch das Oberstufenkurssystem mit seinen Vor- und Nachteilen eingeführt: einerseits größere Fächerauswahl, etwas größere Wahlfreiheit, andererseits Auflösung der festen Klassenverbände im Kurssystem, häufig wechselnde Bezugsgruppen, Jagd nach Punkten und verstärkter Klausurendruck. Die 20-Jahr-Feier offenbart, dass die Schule längst ihren Kinderschuhen entwachsen ist. Seit 1971 hat sich die Teilnehmerzahl von 34 auf ca. 500 pro Jahr ausgeweitet, und ca. 1500 Erwachsene haben bisher das Abitur mit einer Durchschnittsnote von 2,5 erfolgreich bestanden; nur etwa 2% der Prüflinge waren nicht erfolgreich. Nach langer Suche, kontroversen internen Diskussionen und nach Überwindung einiger Irritationen in Politik und Verwaltung darf sich die Schule den Namen ―Charlotte-Wolff-Kolleg an der Volkshochschule Charlottenburg‖ geben. Am 5. März findet in der Aula des Kollegs eine auch von Presse und Rundfunk beachtete Feier mit Namensverleihung statt. Die bekannte Schriftstellerin Christa Wolf hält die Laudatio auf ihre ―alte Londoner Freundin und Namensvetterin‖ Charlotte Wolff. Seite 120 Bibliografie Deutschsprachige Veröffentlichungen Wolff, Charlotte: Psychologie der lesbischen Liebe: eine empirische Studie der weiblichen Homosexualität / Charlotte Wolff [Autoris. Übers. a. d. Engl. von Christel Buschmann]. - [1. -13. Tsd.]. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1973, 170 S. Wolff, Charlotte: Flickwerk. Aus d. Engl. Von Gerlinde Kowitzke Verlag Frauenoffensive, München 1977 2. Aufl. 1979, 188 S. Wolff, Charlotte: Bisexualität. Aus d. Engl. von Brigitte Stein. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl., 1981. - 307 S. (Fischer-Taschenbücher; 3822) S.-Fischer-Verl., Frankfurt am Main Wolff, Charlotte: Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit : e. Autobiographie / Charlotte Wolff [Aus d. Engl. von Michaela Huber]. - 1. Aufl., von d. Autorin durchges. u. autoris. Ausg. Weinheim [u.a.] : Beltz, 1982. - 319 S. :1 Ill. (Edition Monat) Wolff, Charlotte: Die Hand als Spiegel der Psyche: [Einzig berechtigte Übers. aus d. Engl. von Ursula von Mangoldt]. - 1. Aufl. d. Neuausg. - Bern; Wien [u.a.] : Scherz, 1983. - 261 S. :Ill. Wolff, Charlotte: Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit: eine Autobiographie / Charlotte Wolff Aus d. Engl. Von Michaela Huber. - Ungekürzte Ausg. - 20. - 21. Tsd. - Frankfurt am Main FischerTaschenbuch-Verl., 1990. - 317 S. (Fischer-Taschenbücher; 3778 : Die Frau in der Gesellschaft) Seite 121 Englischsprachige Veröffentlichungen Wolff, Charlotte: Title: A psychology of gesture / by Charlotte Wolff Transl. from the French manuscript by Anne Tennant. Published: London: Methuen, 1945. Wolff, Charlotte, Title: On the way to myself: communications to a friend. Published: London, Methuen, 1969. Wolff, Charlotte Title: Love between women / [by] Charlotte Wolff. Published: London : Duckworth, 1973. Wolff, Charlotte Title: Bisexuality : a study / [by] Charlotte Wolff. Published: London ; New York : Quartet Books, 1977. Wolff, Charlotte Title: Bisexuality, a study / Charlotte Wolff. Published: London ; New York : Quartet Books, 1979. Wolff, Charlotte Title: Hindsight / Charlotte Wolff. Published: London ; New York : Quartet Books, 1980. Wolff, Charlotte Title: Hindsight / Charlotte Wolff. Published: Charlestown, MA : Charles River Books, 1981. Wolff, Charlotte Title: Magnus Hirschfeld : a portrait of a pioneer in sexology / Charlotte Wolff. Published: London ; New York : Quartet Books, 1986. Seite 122 “Lektoren scheinen auch nicht mehr das Richtige zu lesen. Jedenfalls versicherte man mir am Stand von Quartet Books, daß für die fast 500seitige Biographie Magnus Hirschfelds, verfaßt von Charlotte Wolff, sich noch kein deutscher Verleger interessiert hat.“ tageszeitung, 10. Juni 1986 1999 wartet die Biographie von Magnus Hirschfeld immer noch auf eine Übersetzung! Seite 123 Abbildungsnachweis S. 15-17 S. 21, 92 S. 24, 27 S. 30, 33, 35, 38, 39 S. 42, 45 S. 77, 123 S. 81 S. 83 S. 96 S. 117 Helga Tscharke-Holtz Frankfurter Allgemeine Zeitung Christa Maria Rüter Ch. Wolff, Hindsight Archiv Charlotte-Wolff-Kolleg Ch. Wolff, Magnus Hirschfeld Berliner Morgenpost Konrad Komm McDavid Courage, Berliner Frauenzeitung die, Zürich Wir danken allen Beteiligten für ihre Mühe. Besonderen Dank an: Sybille Binder, Eugen Bühler, Claudia Franke, Eleanor Katzschner, Konrad Komm McDavid, Brigitte Menzel, Jürgen Minz, Rainer Pabst-Wolter, Christa Maria Rüter, Helga Tscharke-Holtz, Felix Wolter. Seite 124