Schweinis Wade

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Schweinis Wade
Jan We i ler
m e i n le be n als mensch
Schweinis Wade
Mit einer Illustration von Larissa Bertonasco
B
astian Schweinsteiger hat zumindest
ein faszinierendes
Bein. In einer Zeitschrift sah ich ein Bild davon. Eigentlich sah
ich ein Bild von Schweinsteiger und seiner Model-Freundin. Die
beiden lagen nebeneinander auf Liegestühlen und lasen Zeitschriften. Der unter dem drastisch verkürzten Namen Schweini
bekanntgewordene Mittelfeldspieler des FC Bayern nippte an
etwas, das aussah wie harmloser Eiskaffeespaß oder White
Russian. Das ist jener teuflische Drink, den der Lebenskünstler
Jeffrey Lebowski in dem Film „The Big Lebowski“ literweise verzehrt. Auch an dem Bild aus dem Schweinsteigerschen Urlaub
sah etwas nach Kunst aus, nämlich die Wade des Rekonvaleszenten. Sie war mit einem rosafarbenen Riesenpflaster umklebt.
Es soll den Schmerz wegwärmen, las ich in der Bildunterschrift.
Welchen Schmerz? Den in der Wadenmuskulatur oder jenen,
den der unglückliche Schütze nach dem verschossenen Elfmeter gegen Chelsea verspürt haben wird? Das wäre eine Behandlungstaktik, die ich noch aus meiner Kindheit kenne. Meine
Mutter klebte häufig Pflaster auf Wunden, die gar nicht hätten
versorgt werden müssen. Aber das Pflaster tat gut, es war mehr
ein Seelenpflaster. Vielleicht war das da an Schweinis Wade auch
ein Seelenpflaster, aufgeklebt von Jogi Löw, dem durchaus zum
mütterlichen tendierenden Trainer der Nationalmannschaft.
Jedenfalls fand ich das rosa Pflaster sehr künstlerisch, es verlieh dem kranken Bein etwas Skulpturales. Ich finde überhaupt,
dass Fußball Kunst ist. Ein großes Match gleicht für mich einem
Schlachtengemälde aus dem 19. Jahrhundert. Und erschaffen
nicht die großen Fußballer in ihren besten Momenten mit ihren
Pässen, Flanken, Finten, Tricks und Torschüssen kleine Meisterwerke? Das qualifiziert Lionel Messi, Mesut Özil und Wayne
Rooney fürs Museum. Leider haben das aber bisher fast nur die
Sponsoren des Fußballs erkannt, die ihre Helden wie griechische Götter überlebensgroß auf Plakate drucken. Besonders
eindrucksvoll geriet in diesem Zusammenhang vor sechs Jahren
das Abbild Oliver Kahns, der riesenhaft über die Zubringerau-
tobahn vor dem Münchner
Flughafen hechtete.
Wenn man von der werblichen Gebrauchskunst absieht, spielt der Fußball in der Kunst
eine untergeordnete Rolle. Nur einmal ist er mir ziemlich aufgefallen. Das war bei der letzten Documenta. 2007.
Ich fuhr nach Kassel, um mir die Weltleistungsschau der
Kunstszene anzusehen, aber das meiste sagte mir nichts. Daran
änderten die Erklärungen im Katalog wenig. Da standen Sätze
drin wie: „Beide Künstlerinnen lenkten die Aufmerksamkeit
auf die Immanenz der Freiheit als einer organischen Kraft, die
ein integraler Bestandteil unseres Seins ist.“ Und etwas über
„aktivistische Energie, die ehemals der Bewusstseinsschaffung
galt, als breit angelegtes Selbstverständnis einen neuen Ausdruck findet.“ Ich gebe zu, dass ich für solche Texte zu doof
bin. Ich peitschte mich selbst aus mit der stundenlangen Lektüre des Katalogs und sehnte mich nach irgendeiner Kunst, die
mich nicht verachtet. Und dann betrat ich einen Raum mit einer
Medieninstallation von Harun Farocki.
Der Filmemacher zeigte auf 12 Bildschirmen das Endspiel der
Weltmeisterschaft von 2006 aus unterschiedlichen Perspektiven und in verschiedenen Darstellungsformen. Parallel sah man
das Spiel im Fernsehbild, in einer Computeranimation, mit sich
bewegenden Pfeilen anstelle der Spieler. Man konnte auch die
untergehende Sonne über Berlin anschauen oder Diagramme
über die Leistungskurven der Spieler. Dazu gab es den parallel
aufgezeichneten Polizeifunk zu hören und Anweisungen aus
der Senderegie des Fernsehens. Ein faszinierendes und dramatisches Gebilde, ein riesenhaftes künstlerisches Monument von
über zwei Stunden Spieldauer. Ich setzte mich auf eine Bank und
sah es mir vollständig an. Alle anderen Arbeiten der Documenta
habe ich bald nach dem Besuch in Kassel vergessen, aber „Deep
Play“ werde ich immer in Erinnerung behalten. Auch in diesem
Jahr fahre ich zur Documenta. Aber vorher sehe ich mir die EM
an. Vielleicht spielt Schweinsteiger ja mit seinem rosa Bein. Und
irgendein Künstler macht etwas Gescheites daraus.
11 . juni 2012