Neue Wege beim Schulgesetz in Sachsen Bericht: Julia Cruschwitz

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Neue Wege beim Schulgesetz in Sachsen Bericht: Julia Cruschwitz
Neue Wege beim Schulgesetz in Sachsen | Manuskript
Neue Wege beim Schulgesetz in Sachsen
Bericht: Julia Cruschwitz, Ines Ziglasch
Das sächsische Kultusministerium geht auf Klassenfahrt. Und wie in der Schule kommt
immer jemand zu spät.
Dirk Reelfs am Telefon:
Antje, hier ist Dirk, kommst Du runter in den Innenhof? Ja, um vier heute.
Die Beamten auf dem Weg zu denen, für die sie Gesetze machen – schon zum fünften Mal
innerhalb weniger Wochen. Es geht um den Entwurf zum neuen Schulgesetz. Die Experten
aus dem Kultusministerium stellen sich öffentlich der Kritik.
Thomas Rechentin:
Es gibt manche Diskussionen, die sind nicht vergnügungssteuerpflichtig. Das muss man
ganz klar sagen. Aber es ist für mich schon auch von Interesse zu sehen, wie beim Thema
Schulgesetz, das ja nun wirklich alle berührt, die Leute ticken.
Ein völlig neues und bislang unerprobtes Vorgehen in der sächsischen Politik: Jeder darf
Stellung zu einem Gesetzentwurf nehmen. Online, per Post oder eben in der Diskussion.
Heute geht es nach Zwickau.
Ergotherapeutin: Und mit den gestreckten Fingern nach hinten zum Körper ziehen.
In Zwickau wohnt Vanessa Helbig, 14 Jahre alt. Zweimal die Woche hat sie Ergotherapie für
ihre geschwächte rechte Hand. Die kann sie seit einem Schlaganfall im Kleinkindalter nicht
mehr benutzen. Vom ersten Schultag an ging sie dennoch auf Regelschulen, inzwischen
besucht sie das Gymnasium.
Vanessa Helbig:
Schön, dass man das auch weiß, dass man das auch kann, also auf ein ganz normales
Gymnasium gehen, dass man nicht auf eine Sonderschule muss oder so. Und es ist schön
zu wissen, dass man so ganz normal angenommen wird, von ich sage jetzt mal ganz
normalen Schulen und ganz normalen Klassenkameraden.
Ihre Mutter Carmen Steinhäuser hat für sie den Weg durch die Institutionen durchgeboxt.
Dass behinderte Kinder das Recht haben, auf Regelschulen zu gehen, findet sie grundsätzlich
gut. Aber dass laut Gesetzentwurf alle zunächst in die normale Grundschule kommen sollen,
geht ihr zu weit.
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verwendet werden. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Urheberberechtigten ist unzulässig.
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Carmen Steinhäuser:
Es ist eine Sache, die sehr schwierig ist und denke ich, noch mal durchdacht werden muss,
ob man sagt: Alle. Nehmen wir jetzt geistig behinderte Kinder, wie will ich die in einer
normalen Grundschule integrieren.
In Vanessas Schule findet das Treffen zwischen Bürgern und Ministerialbürokratie statt, im
Käthe-Kollwitz-Gymnasium in Zwickau. Auch die Kultusministerin höchstpersönlich rollt
dafür an.
Ministerin steigt aus: Guten Tag! Wo gehen wir denn hin? Hier gehen wir hin.
Brunhild Kurth, CDU, stellt sich insgesamt neunmal der Diskussion mit den Betroffenen, reist
durch alle Schulbezirke Sachsens.
Brunhild Kurth:
Ich spüre dann auch die Punkte in unserem Gesetzgebungsvorhaben, wo es brisant werden
könnte. Also das ist für mich so ein Seismograph, so eine Veranstaltung.
Knapp 130 Menschen wollen an diesem Abend mitdiskutieren, Carmen Steinhäuser als
Elternsprecherin der Schule kommt aus dem Händeschütteln nicht mehr raus.
Ministerin: Guten Abend meine sehr geehrten Damen und Herren!
Nach einer Begrüßung der Ministerin verteilen sich die Zuhörer auf vier Klassenräume,
diskutieren über verschiedene Themen. Es geht um zu weite Schulwege, Lehrermangel oder
mehr Mitsprache bei Personal und Ausstattung. Oder eben um Inklusion. Die Ministerin
geht von Raum zu Raum. Wohin zuerst?
Brunhild Kurth:
Das überlege ich mir gerade noch. Am Thementisch Inklusion sind immer die meisten
Personen versammelt. Da kommt man wahrscheinlich nicht wieder weg.
Kein Wunder, denn hier gibt es die meisten Änderungen. Bislang wurde der erste Entwurf
immer nur bestimmten Gremien wie Landeselternrat oder Lehrergewerkschaft zur
Stellungnahme gegeben. Zum ersten Mal können sich jetzt Eltern, Schüler und Lehrer direkt
dazu äußern. Carmen Steinhäuser will die Bedenken zu ihrem Herzensthema loswerden: die
Inklusion und deren Grenzen.
Carmen Steinhäuser:
Ich sehe Lehrer da, Eltern da. Mal schauen, was kommt.
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Viele Grundschulleiter sind gekommen. Denn mit dem neuen Gesetz sollen alle Kinder
zunächst in eine normale Grundschule eingeschult werden. Und erst danach bei Bedarf in
eine Förderschule wechseln. Die Lehrer konfrontieren die Ministerin mit ihren Ängsten und
Bedenken.
Ralf Burkhardt, Leiter Nicolai Grundschule Zwickau:
Bei den Rahmenbedingungen, die wir jetzt haben, sprich: wir sind in einer städtischen
Schule mit 26 Schülern, ist das nicht leistbar.
Grundschulleiterin:
Ich habe tatsächlich an der Lehrergesundheit festgestellt, dass meine Lehrer an Grenzen
kommen und manche auch schon gescheitert sind.
Grundschulleiter:
Wenn wir dort schon fest stellen, ich sage es jetzt überspitzt, dass im Kindergarten mit
kleinen Stühlen um sich geschmissen wird, dann probieren wir es in der Schule auf Deutsch
gesagt mit großen Stühlen. Das halte ich für sehr bedenklich.
Auch betroffene Eltern sehen dieses Vorhaben sehr kritisch.
Katja Schubert:
Mein Kind hätte auf einer normalen Schule nicht überlebt, sage ich. Er braucht eine kleine
Klasse und er braucht diese spezielle Förderung.
Die Ministerin hört sich alles an. Von ihrem Vorhaben lässt sie sich grundsätzlich nicht
abbringen.
Brunhild Kurth:
Ich möchte nicht, dass ein Kind vor der Einschulung schon einen Stempel aufgedrückt
bekommt: Du bist ein Förderschulkind und wirst es immer bleiben.
Aber immerhin verspricht sie den Lehrern mehr Personal an den Grundschulen. Eine Stunde
lang dauert die hitzige Diskussion. Trotzdem konnte man die Probleme lediglich anreißen,
findet Carmen Steinhäuser. Sie nutzt die Gelegenheit, ihr Anliegen direkt bei der Ministerin
anzubringen.
Dialog Steinhäuser/ Kurth:
Steinhäuser: Ich denke, da braucht es viel Gesprächsbedarf, was die Eltern angeht, um bei
manchen vielleicht auch ein bisschen Einsicht zu erzeugen, dass nicht immer der Weg der
richtige für das Kind ist.
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Brunhild Kurth:
Da habe ich auch Respekt vor diesen Gesprächen. Weil es auch Eltern - aus Sorge um ihr
Kind, das ist nicht böse gemeint – gibt, die sagen, ich möchte die Beschulung an einer
Regelschule und für das Kind ist es ein Nachteil.
Die Ministerin und ihre Experten werden die Wünsche der Betroffenen mit in den
Gesetzentwurf aufnehmen, so das Versprechen. Brunhild Kurth weiß, dass sie daran
gemessen wird.
Brunhild Kurth: Die Bürgerinnen und Bürger, die hier diskutiert haben, werden sehr genau
auf den novellierten Text schauen, der zur zweiten Kabinettbefassung kommt. Dort kommt
die Stunde der Wahrheit: Habe ich einfach nur mal zugehört oder aber dringenden
Änderungsbedarf eingearbeitet in den Text.
Fazit des Publikums: Schön, dass man miteinander geredet hat. Aber:
Ralf Burkhardt, Leiter Nicolai Grundschule Zwickau:
Machen wir uns nichts vor. Das hängt an Ressourcen. Da muss Geld gegeben werden.
Ende April soll der geänderte Gesetzentwurf vorliegen. Den werden sich wohl alle, die
mitdiskutiert haben, sehr genau ansehen.
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