Balz Engler, Hamlet – das berühmteste Stück der Weltliteratur-

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Balz Engler, Hamlet – das berühmteste Stück der Weltliteratur-
Balz Engler, Hamlet – das berühmteste Stück der Weltliteratur--1
Ringvorlesung VHS Zürich, 26.10.2015
MANUSKRIPT
Über Hamlet brütet die Kritik seit Jahrhunderten—ohne zu einem Schluss zu kommen. Allein
in den letzten fünfzig Jahren sind jedes Jahr im Durchschnitt mehr als 250 Studien erschienen
(nach ISB, schliesst wohl auch Inszenierungen ein). In einer einzelnen Vorlesung etwas
Allgemeines, Abschliessendes zu sagen, ist schier unmöglich. Ich werde darauf verzichten
müssen, Ihnen die Details der Handlung in Erinnerung zu rufen; aber aus Gründen, auf die ich
eingehen werde, ist das wohl auch gar nicht nötig.
Ich werde zuerst auf die Figur Hamlets eingehen und sie dann einbetten in die Struktur des
Stücks. Schliesslich werde ich zu zeigen versuchen, weshalb Hamlet das berühmteste Stück der
Weltliteratur ist.
Als meine Eltern als junge Leute vom Land nach Basel zogen, wollten sie das Theaterangebot
nutzen. Eines der ersten Stücke, die mein Vater sah, war Hamlet. Allerdings hatte er Pech:
Während der Vorstellung stürzte der Darsteller des Hamlet hinter der Bühne und brach sich das
Bein. Und so kam es, so frotzelten wir boshaften Söhne, dass er nie erfahren hat, wie das Stück
ausgeht.
Das ist natürlich zu kurz gegriffen. Wir alle kennen Hamlet, auch wenn wir das Stück nie im
Buch, auf der Bühne, im Kino oder auf dem Bildschirm erlebt hätten—zumindest in
Fragmenten. Ein schwarz gekleideter Mann, der einen Schädel betrachtet und dazu die Worte
spricht: „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage“—klar, wer das ist.
Oder stimmt da etwas nicht? Natürlich: Hamlet betrachtet den Schädel Yoricks im 5. Akt (1.
Szene), seinen berühmten Monolog spricht er im dritten (3. Akt, 1. Szene). Im kulturellen
Gedächtnis sind die beiden Momente verschmolzen—als Hamlet, der über den Tod sinniert. Es
geht noch weiter: Oft sind wir uns nicht einmal bewusst, dass wir uns in der Gegenwart Hamlets
befinden, wenn wir sagen, wir würden etwas mit einem lachenden und einem weinenden Auge
tun, oder wenn wir sagen: „Ich wittre Morgenluft.“ Siehe die NZZ vom letzten Freitag.
Das ist ein Beleg für den Ruhm des Stücks—es hat das Buch verlassen und existiert im täglichen
Umgang der Menschen. Lassen Sie mich hier kurz eine Klammer öffnen: Wie Hamlet in
Wendungen und Zitaten weiterlebt, haben wir im HyperHamlet-Projekt an der Universität
Basel untersucht. Wir haben bis jetzt gegen 9000 gesammelt, und wir sammeln weiterhin
Material. Wenn Sie also bei Ihrer Lektüre ein Hamlet-Zitat finden, so sind wir Ihnen dankbar,
wenn Sie dieses auf unserer Website eingeben. Es ist ganz einfach und hilft uns weiter. Näheres
dazu finden Sie auf der Website http://www.hyperhamlet.unibas.ch/. Vielen Dank im Voraus.
Klammer geschlossen.
Hamlet ist bestimmt, wie im Vortragstitel angekündigt, Shakespeares berühmtestes Stück,
wenn auch nicht sein beliebtestes—da geht bestimmt Romeo und Julia vor. Im deutschen
Sprachbereich gilt Hamlet nicht nur als das berühmteste Werk, sondern es gilt ohne Zweifel
auch als sein bedeutendstes. Dies nicht zuletzt, weil sich die Deutschen selbst in ihm erkannten.
Als Ferdinand Freiliggrath in den 1830er Jahren ein Gedicht verfasste über die Unfähigkeit der
Deutschen, eine Revolution zustande zu bringen, begann er es mit dem Satz: Deutschland ist
Hamlet! Und etwas später:
Er sinnt und träumt und weiß nicht Rat
Kein Mittel, das die Brust ihm stähle!
Zu einer frischen, mut'gen Tat
Fehlt ihm die frische, mut'ge Seele!
Aber Hamlets Ruhm ist weltweit. In der russischen Kulturgeschichte gibt es den Begriff des
„Hamletismus“, für die Intellektuellen, wie wir sie zum Beispiel aus Tschechows Dramen
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kennen, die zwar reden können, aber nicht zu handeln vermögen, und die sich deshalb
überflüssig vorkommen.
Bei dieser Rezeption steht der Zauderer Hamlet absolut im Zentrum. So sieht es schon Goethe
in Wilhelm Meisters Lehrjahre von 1795/96.
Das Unmögliche wird von ihm gefordert, nicht das Unmögliche an sich, sondern das,
was ihm unmöglich ist. Wie er sich windet, dreht, ängstigt, vor- und zurücktritt, immer
erinnert wird, sich immer erinnert und zuletzt fast seinen Zweck aus dem Sinne verliert,
ohne doch jemals wieder froh zu werden.
Und auch im Vorspann zum berühmten englischen Hamlet- Film von Laurence Olivier (1948)
wird uns gesagt: "This is the tragedy of a man who could not make up his mind"—Dies ist die
Tragödie eines Mannes, der sich nicht entschliessen konnte.
Hamlet ist Shakespeares längstes, ein überlanges Stück, in der gängigen Fassung ca. 4000
Zeilen (Macbeth ist gut halb so lang.). Hamlet hat davon knapp 1500, also mehr als ein Drittel
(1476)—die längste Rolle in Shakespeares Werk. Und Hamlet hat insgesamt sieben grosse
Monologe—mehr als jede andere Figur bei Shakespeare. Und diese Monologe, wie wir wissen,
betreffen immer wieder seine Befindlichkeit und philosophische Fragen: Tod, Pflicht und
Verantwortung. Kein Wunder also, dass seine Figur für das Verständnis des Stücks eine so
grosse Rolle spielt.
Die Frage, die Interpreten dabei immer wieder umgetrieben hat, ist: Warum denn nur handelt
er nicht? Hamlets Vater erscheint ihm als Geist und teilt ihm mit, er sei ermordet worden, von
Hamlets Mutter und ihrem Liebhaber Claudius, der nun König von Dänemark geworden ist (ein
Amt, das Hamlet zustehen würde). Der Geist fordert Hamlet auf, den Mord zu rächen.
Aber Hamlet handelt nicht. In seinen Monologen informiert er uns stattdessen über seine Pläne,
und denkt nach über die Nichtigkeit des Menschen, die Gerechtigkeit, den Tod und den
Selbstmord. Nachdem er seinen Auftrag erhalten hat, versucht er, sich diesem zu entziehen. Er
versinkt im Weltschmerz:
O that this too too solid flesh would melt,
Thaw, and resolve itself into a dew,
Or that the Everlasting had not fixed
His canon ‘gainst self-slaughter. O God, God,
How weary, stale, flat and unprofitable
Seem to me all the uses of the world!
(Shakespeare 2006, 1.2.129-133)
O schmölze doch dies allzu feste Fleisch,
Zerging und löst’ in einen Tau sich auf!
Oder hätte nicht der Ew’ge sein Gebot
Gerichtet gegen Selbstmord! – O Gott! O Gott!
Wie ekel, schal und flach und unerspriesslich
Scheint mir das ganze Treiben dieser Welt!
Oder er kommentiert, weshalb er die Tat nicht ausführen kann, angesichts von Claudius im
Gebet:
Now I might do it pat, now ‘a is a-praying.
And now I’ll do it—and so a goes to heaven,
And so I am revenged! That would be scanned:
A villain kills my father, and for that
I, his sole son, do this same villain send
To heaven.
Jetzt könnt’ ich’s tun, bequem; er ist im Beten,
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Jetzt will ich’s tun—und so geht er gen Himmel,
Und so bin ich gerächt? Das hiess’: ein Bube
Ermordet meinen Vater, und dafür
Send ich, sein einz’ger Sohn, denselben Buben
Gen Himmel.
Oder er redet über die eigene Schwäche—am Tiefpunkt seiner Tatenlosigkeit:
How all occasions do inform against me
And spur my dull revenge. What is a man
If his chief good and market of his time
Be but to sleep and feed? A beast, no more. (Shakespeare 2006, 4.4.31-32)
Wie jeder Anlass mich verklagt und spornt
Die träge Rache an! Was ist der Mensch,
Wenn seiner Zeit Gewinn, sein höchstes Gut
Nur Schlaf und Essen ist? Ein Vieh, nichts weiter.
Dieser Monolog kommt übrigens nicht in allen Texten vor, die als zuverlässig gelten. Er wird
manchmal ausgelassen, oder er wird ersetzt—wie in der Inszenierung von Peter Brook 2000—
durch Hamlets Monolog „Tobe or not to be“.
Auf diesen müssen wir nun kommen. Er ist der Monolog der Monologe, und durch ihn wurde
Hamlet auf dem Kontinent zuerst bekannt, als Voltaire ihn übersetzte. Hier redet Hamlet über
den Tod, und die Rede gilt als Inbegriff des Tiefsinns. Meist wird angenommen, er denke über
den Suizid nach—aber die Rede ist darin nicht eindeutig. Sie kann sich ebenso auf seinen Tod
in der Erfüllung seiner Aufgabe als Rächer beziehen.
Auch hier wieder nur ein Ausschnitt:
Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage:
Ob's edler im Gemüt, die Pfeil' und Schleudern
Des wütenden Geschicks erdulden, oder,
Sich waffnend gegen eine See von Plagen,
Durch Widerstand sie enden. Sterben – schlafen –
Nichts weiter! – und zu wissen, daß ein Schlaf
Das Herzweh und die tausend Stöße endet,
Die unsers Fleisches Erbteil – 's ist ein Ziel,
Aufs innigste zu wünschen. Sterben – schlafen –
Schlafen! Vielleicht auch träumen! – Ja, da liegt's:
Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen,
Wenn wir den Drang des Ird'schen abgeschüttelt,
Das zwingt uns still zu stehn.
Die Rede ist ist so voller Stellen, die zu Zitaten geworden sind, dass sie für Schauspieler
besonders schwierig vorzutragen ist. Das Publikum ständig Gefahr läuft, von ihrer Intensität
abgelenkt zu werden. Ich erinnere mich an eine Inszenierung mit Helmut Lohner am Zürcher
Schauspielhaus, in der er die Rede auf dem Rücken liegend, den Kopf gegen das Publikum,
sprach.
Sehen Sie nun die Einspielung. Es handelt sich um die Aufzeichnung einer Bühnenaufführung
der Royal Shakespeare Company 2004, mit Toby Stephens als Hamlet. Anders als bei
Verfilmungen kommt sie ohne untermalende Musik aus.
(Shakespeare 2006, 3.1.55-58)
Auffällig ist bei dieser Aufführung, dass Hamlet uns sehr direkt anspricht. Es widerspiegelt eine
neuere Praxis, die zu jener des elisabethanischen Dramas zurückkehrt. Hamlet spricht nicht „für
sich“, wie es bei den Monologen in den Stücken Goethes und Schillers heisst, sondern zum
Publikum.
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Noch eine weitere Bemerkung ist hier angebracht: Was wir als Monolog zu bewundern gelernt
haben, ist im Grunde gar keiner. Claudius und Polonius haben sich versteckt, um Hamlet
zuzuhören.
Hamlets Monologe geben uns kaum Auskunft darüber, weshalb er zaudert. Vielmehr zeigen sie
uns, wie er mit seinem Zaudern umgeht, und sie entwickeln dabei die höchst nachdenkliche und
sensible innere Welt eines Menschen in einer schwierigen Situation.
Hamlet zeigt dabei einen hohen Grad an Introspektion, einen Wunsch nach SelbstVergewisserung, ein subtil entwickeltes Gewissen, die ihn abheben von der Welt, in der er lebt.
Sie erweisen ihn als erstaunlich modern, als autonomes Individuum, als Menschen einer neuen
Zeit.
Was aber sind die Motive seines Zauderns? Darüber ist immer wieder gerätselt worden. Um
wieder nur zwei Stimmen zu nennen. Goethe sah den Schlüssel dazu in einer Stelle aus Hamlets
Monolog am Schluss des ersten Akts:
The time is out of joint; O cursed spite
That ever I was born to set it right.”
Die Zeit ist aus den Fugen: Schmach und Gram,
Dass ich zur Welt, sie einzurichten, kam!
„In diesen Worten, [sagt Goethe] dünkt mich, liegt der Schlüssel zu Hamlets ganzem
Betragen, und mir ist deutlich, dass Shakespeare habe schildern wollen: eine große Tat
auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist.“ (Goethe [1948-] 1959/1960, S.
245–246)
Und der Freud-Schüler Ernest Jones, dessen psychoanalytische Interpretation wichtig für
Laurence Oliviers Film war, sah in Hamlet einen Beleg für die Wirksamkeit des OedipusKomplexes: Hamlet kann Claudius nicht töten, weil er sich unterbewusst mit ihm identifiziert.
Denn Claudius hat seinen geheimen Wunsch verwirklicht, den Vater zu töten, um die Mutter
zu besitzen.
Die Faszination durch Hamlets Zaudern als Signatur seiner sensiblen Psyche führt leicht dazu,
dass man andere Elemente vernachlässigt. Hamlet beweist im Stück ja auch durchaus seine
Fähigkeit auch ohne Rücksichten zu handeln, etwa, wenn er Ophelia verstösst, wenn er
Rosencrantz und Guildenstern auf dem Weg nach England abservieren lässt, oder wenn er
Polonius, den er für Claudius hält, durch den Vorhang durch ersticht.
Aber auch die Rolle anderer Figuren und die Struktur des Stücks werden vernachlässigt, wenn
Hamlets Zaudern ins Zentrum gerückt wird. Der Geist von Hamlets Vater zum Beispiel
erscheint schlicht als Auftraggeber, als ein dramaturgischer Kniff, um eine Handlung
auszulösen.
Nun hat die Forschung (John Dover Wilson) aber gezeigt, dass die Dinge nicht so einfach
liegen: Die Existenz von Geistern war zu Shakespeares Zeit zwar allgemein akzeptiert. Es gab
aber zwei sich widersprechende Auffassungen: Nach dem alten Glauben waren sie
Wiedergänger aus dem Fegefeuer (der Geist von Hamlets Vater sagt das von sich selbst). Nach
der reformatorischen Doktrin, die seit sechs Jahrzehnten offiziell war, als das Stück entstand,
aber gab es kein Fegefeuer und Geister waren Phantasmen oder Abgesandte des Teufels (woher,
zum Beispiel, kann Hamlets Vater wissen, wie er im Schlaf ermordet wurde?). Hamlet kann
nicht wissen, ob er dem Geist trauen kann—deshalb versucht er die Wahrheit seiner Aussagen
zu überprüfen—zum Beispiel, indem er dem König Claudius den Mord seines Vaters als
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Theaterstück vorführt und seine Reaktion darauf beobachtet. Hamlets Zaudern hat also
zumindest einen guten Grund.
Damit sind wir in die Zeit der Entstehung eingetaucht. Die Interpretation Hamlets, von der ich
bis jetzt ausgegangen bin, gibt es erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, seit der Zeit
der Empfindsamkeit. In einer Gegenbewegung zur Aufklärung galt das Interesse nun dem
Irrationalen und den grossen Gefühlen. Es ist die Zeit des Schauerromans (in denen ja auch
Geister als Auslöser erscheinen konnten).
Es ist auch die Zeit, in der eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Shakespeare.in der Lektüre
geschah, und Kritiker der Meinung sein konnten, Shakespeare in seiner Grösse lasse sich
überhaupt nicht aufführen. Da konnten die Figuren aus dem Kontext des Stücks heraustreten
und gesehen werden wie wirkliche Menschen. Da war es auch möglich, dass man Hamlets
grossen Monolog aus dem Zusammenhang herauslöste und ihn als allgemein gültige
philosophische Aussage verstand.
Diese Interpretation hat lange Zeit andere Interpretationen in den Hintergrund gedrängt.
Die amerikanische Shakespeare-Forscherin Margreta de Grazia hat 2007 ein Buch publiziert
mit dem Titel Hamlet without Hamlet. In diesem zeigt sie wie die Interpretation des Hamlet,
welche die letzten 200 Jahre dominierte, entstand, und sie liest das Stück auf eine Weise, die
vor diese Periode zurück geht, als Stück, in dem es um Besitz und um die korrekte Erbfolge
geht.
An einem Beispiel lässt sich zeigen, welche Folgen es hat, wenn man die Bedingungen zur Zeit
der Entstehung des Stücks ernst nimmt.
Shakespeare hat selten ein Drama selbst erfunden. Immer wieder überarbeitete er Quellen und
folgte Handlungsmustern. So ist es auch bei Hamlet. Allerdings zeigt sich seine Brillanz darin,
wie er die verwendeten Muster und Quellen umformt, zuspitzt und kompliziert.
Bei Hamlet haben wir keine direkte Quelle. Es gibt allerdings Hinweise darauf, dass es schon
vor Shakespeare ein Hamlet-Stück, einen Ur-Hamlet gab. Es ist allerdings verloren. Letztlich
geht die Geschichte auf den dänischen Chronisten Saxo Grammaticus (um 1200) zurück. Dort
ereignen sich die Dinge allerdings in Jütland. Elsinore, Helsingör, am Eingang zur Ostsee,
wählte Shakespeare wohl aus aktuellem Anlass als Schauplatz, weil der dänische König dort
eben ein prächtiges, in ganz Europa bewundertes, Schloss hatte bauen lassen—heute besuchen
die Touristen das Schloss als Hamlets Schloss …
Das Muster, dem Hamlet folgt, ist das des Rache-Dramas, einer Form der Tragödie der
Gerechtigkeit. (wie wir sie in Thomas Kyds Spanish Tragedy exemplarisch vorfinden). Da
versagt das öffentliche, göttlich legitimierte Recht, und der Held muss, um Gerechtigkeit zu
schaffen, das Recht brechen, bzw. er muss es in die eigene Hand nehmen, und er geht an der
hartnäckigen Erfüllung seiner Aufgabe zu Grunde. Auch in der Spanish Tragedy spielen vor
allem drei Elemente eine Rolle: der Geist des Getöteten, der dem Helden die Rache aufträgt,
eine Theateraufführung, welche die Dinge klärt, und die Rolle des Rächers: Er muss sich ganz
auf seine Aufgabe konzentrieren, er darf sein Geheimnis nicht verraten, er muss sich deshalb
verstellen, und wird dadurch zum Aussenseiter und gerät an den Rand des Wahnsinns.
Im Hamlet nimmt Shakespeare diese Elemente auf, variiert und kompliziert sie, ja verkehrt sie
in ihr Gegenteil:

Der Geist bringt die Handlung nicht in Gang, sondern schafft Unsicherheit.

Die Aufführung des Stücks im Stück, in der die Darstellung des Mordes König
Claudius als Mörder von Hamlets Vater entlarven soll, ergibt kein klares Resultat.
Shakespeare nutzt sie aber zu einem szenischen Essay über die Aufgaben und die
Möglichkeiten des Theaters. (Ein Thema für einen weiteren Vortrag.)

Die Notwendigkeit der Verstellung führt zu einem der Rätsel Hamlets. Als
Zuschauer werden wir im Ungewissen gelassen, inwiefern Hamlets Verhalten Zeichen
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einer kühl berechneten Verstellung sind oder Ausdruck der Verzweiflung und des
Wahnsinns ist. Die Monologe, wenn sie denn eindeutig wären, könnten da hilfreich sein.

Die überraschendste Abwandlung, geradezu eine Umkehrung der Dinge, ist aber
natürlich, dass die Rache, auf welche die Handlung hinzielt, in Hamlet so lange nicht
stattfindet. Und am Ende, wenn sich die Bühne mit Leichen füllt, erscheint die Tötung
von Claudius schon fast als etwas Beiläufiges.
Ich habe nun einige Elemente des Stücks kurz angetönt. Und es gäbe noch so viel mehr. Ich
habe nichts gesagt über seinen Reichtum an brillant gezeichneten Figuren und Szenen. Ich habe
nichts gesagt über die Stimmung des Misstrauens am Hof, an dem alle alle andern
ausspionieren. Ich habe ich nichts gesagt über das besondere Verhältnis Hamlets zu seiner
Mutter. Ich habe nichts gesagt über Hamlets Beziehung zu Ophelia und ihre Verstossung Ich
habe nichts gesagt über ihren Wahnsinn und ihren Tod im Wasser (ist es Suizid?). Ich habe
nichts gesagt über Hamlets Umgang mit Rosencrantz und Guildenstern. Ich habe nichts gesagt
über die komischen Szenen mit den Totengräbern und über den Hofnarren Yorick, dessen
Schädel Hamlet in der berühmten Szene hält. Ich habe nichts über die komische Figur des
Ratgebers Polonius gesagt, nichts über Fortinbras, den norwegischen Prinzen, der am Schluss
die Macht übernimmt und so die Ordnung wieder herstellt (oder eine neue einführt?).
Ein anderer Dramatiker hätte aus dem Material, das Shakespeare in Hamlet einsetzt, ohne
weiteres drei oder vier Stücke gemacht.
Das Stück ist ja auch etwas lang geworden …
T. S. Eliot, der grosse angloamerikanische Dichter und Kritiker, war 1921 in seinem Aufsatz
„Hamlet and his Problems“ der Meinung:
So far from being Shakespeare’s masterpiece, the play is most certainly an artistic
failure. In several ways the play is puzzling, and disquieting as is none of the others. Of
all the plays it is the longest and is possibly the one on which Shakespeare spent most
pains; and yet he has left in it superfluous and inconsistent scenes which even hasty
revision should have noticed. (Eliot 1921)
Eliot vermisst die Geschlossenheit der Handlung. Er ist in seinem Aufsatz der Meinung,
Shakespeare habe in der Hamlet-Figur an eigenen psychologischen Problemen gearbeitet, und
es sei ihm nicht gelungen, die nötige Distanz zu ihr zu gewinnen. Damit liest er das Stück im
Grunde romantisch als Ausdruck des Dichters und vermisst in ihm das, was er selbst anstrebte:
eine unpersönliche Dichtung.
Aber die Dinge lassen sich auch anders lesen: Die Vielfalt der Szenen, die Lücken, die kleinen
Widersprüche, die offenen Enden und losen Verknüpfungen machen das Stück formbar: Reden
lassen sich, wie wir gesehen haben, in andern Szenen unterbringen. Handlungsstränge lassen
sich kürzen oder ausbauen: In Oliviers Film werden Rosencrantz und Guildenstern gestrichen;
in Inszenierungen wird Ophelias Begräbnis manchmal gekürzt. Andererseits lassen sich
Handlungsstränge ausbauen: Tom Stoppard in Rosencrantz and Guildenstern are Dead (1966)
ihre Geschichte ins Zentrum eines Stücks gestellt. John Updike, in Gertrude and Claudius
(2000) erzählt die Vorgeschichte dessen, was Shakespeares Stück zeigt. Es gäbe noch viele
Beispiele.
Und wenn wir schon dabei sind: Es gibt nicht einen Hamlet, schon gar nicht ein Manuskript
mit einer Fassung letzter Hand. Es gibt drei voneinander verschiedene gedruckte Texte, die
unabhängige Autorität besitzen.. Sie sind verschieden lang, die Erstausgabe, die offenbar auf
einer Theaterfassung beruht, ist mehr als 1600 Zeilen kürzer als der längste. Aus ihnen haben
die Herausgeber lange, im Glauben, es müsse den einen originalen Text geben, ihre Versionen
abgeleitet.
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Die lockere Struktur ermöglicht vielfach verschiedene Deutungen, ja sie fordert diese heraus.
Sie ermöglicht es den Interpreten, ihre Anliegen in das Stück zu projizieren. Dass sie dabei
verschiedene Elemente verschieden berücksichtigen und gewichten, ist selbstverständlich—
ähnlich wie bei der Interpretation der Bibel.
So konnte die Befindlichkeit Hamlets in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, unter
Vernachlässigung anderer Elemente, ins Zentrum rücken, und das Stück zur allgemein gültigen
Darstellung des empfindsam, philosophisch veranlagten Menschen werden. In dieser Form
konnte sich Hamlet als grosses Werk etablieren. So wurde es zum Klassiker. Und Klassiker
sind dadurch gekennzeichnet, dass Kritik an ihnen unmöglich wird; die Kritik fällt unmittelbar
auf den Kritiker zurück, der sein Unverständnis beweist. Damit geht auch der Wunsch einher,
eine einzelne gültige Version zu besitzen. Als Klassiker wurde es zu einem Werk, an dem sich
unsere Kultur definiert, und an dem sich neue Ideen durchsetzen und bewähren mussten. Jede
neue Aufführung auf der Bühne, jede kritische Abhandlung, jeder Roman, jedes Bild, jede Oper
trug dazu bei, diese Stellung zu bestärken, auch wenn sich die Interessen der Interpreten
wandelten.
Drei Beispiele:
 Füssli (1780-85) Tusche und Bleistift. Kunsthaus Zürich
 John Everett Millais, Ophelia (1852)
 Branagh Hamlet (1996) film
So konnte Hamlet dazu verwendet werden, wie wir gesehen haben, um das sensible Individuum
zu feiern. Die Nazis versuchten, ihn zum nordischen Helden zu machen. In den sozialistischen
Ländern wurde das Stück als ein Beleg der Zeitenwende gelesen, aber auch, da der Klassiker ja
über der Kritik steht, als Kritik der politischen Zustände.
So setzte sich Hamlet, der einen Schädel hält und „Sein oder nicht Sein“ spricht, in unserem
Gedächtnis fest.
Und so kommt es auch, dass im Jahr 2015—und vielleicht auch noch 2115--eine Vorlesung
gegeben werden kann, die den Titel trägt: Hamlet, das berühmteste Stück der Weltliteratur.
Eliot, T. S. (1921): Hamlet and His Problems. In: T. S. Eliot (Hg.): The Sacred Wood; Essays
on Poetry and Criticism. New York: Alfred A. Knopf. Online verfügbar unter
http://www.bartleby.com/200/sw9.html, zuletzt geprüft am 14.10.2015.
Goethe, Johann Wolfgang ([1948-] 1959/1960): Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Johann
Wolfgang Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 7. Hg. v. Erich Trunz. Hamburg: Christian
Wegener.
Shakespeare, William (2006): Hamlet. Hg. v. Ann Thompson und Neil Taylor. London: Arden
Shakespeare (The Arden Shakespeare. Third series).
Shakespeare, William; Schlegel, August Wilhelm von; Schmitz, Siegfried (1993): Sämtliche
Dramen. [in drei Bänden ; nach der 3. Schlegel-Tieck-Gesamtausgabe von 1843/44]. 7. Aufl.
München: Winkler

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