Stuart Pigotts über Tesch

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Stuart Pigotts über Tesch
Stuart Pigotts
Wilder Wein
Reise in die Zukunft des Weins
Mit Stephen Taylor
Aus dem Englischen von Ursula Heinzelmann
Scherz
Frankfurt am Main, 2006
Eem Nachdruck und einem glückseligen Lächeln. Wahnsinn! Und doch so frisch!
»Es ist 1921«, sagte Günter mit unverhohlenem Stolz, auch wenn sein Vater den Wein
gemacht hatte. »Ein Riesling, entweder aus dem Morstein oder dem Kirchspiel, das wissen wir
nicht genau.«
Der Wein erinnerte mich an den himmlischen 2003 RIESLING
AM TURM, einer Sonderabfüllung
aus der besten Parzelle der Witt-_manns in der Lage Kirchspiel, die Nervenzentren zum
Schwingenbringt, von deren Existenz ich bis zur Begegnung mit diesem Weinnichts wusste ...
Dröhnende Rapmusik reißt mich aus den Gedanken an die Weinzeitreise. Wir stehen alle
vom Frühstückstisch auf, um zu sehen, wer mit dem Auto auf den Hof gekommen ist. Das
Wetter hat sich vom Sonnenschein zu grauem Himmel gewendet. Aus einem silberfarbenen
Mercedes der C-Klasse klettert die vertraute lange, bebrillte Gestalt von Martin Tesch. Gleich
marschiert er rein und entschuldigt sich wegen der Verspätung. Ich danke den Wittmanns für
ihre Gastfreundschaft und die spatabendliche Reise in das erste goldene Wein-Zeitalter
Rheinhessens. Dann diesen wir los und sind nach wenigen Minuten auf der A61 Richtung
Langenlonsheim/Nahe, wo WEINGUT TESCH 18,8 Hektar Reben sein eigen nennt.
»Was ist mit dem Jeep los?«, frage ich.
»Oh, ich dachte, heute nehme ich mal denTarnkappenbomber«, antwortet er und legt dann
sofort los mit einer schonungslosen Analyse des jungen und wilden deutschen
Winzerphänomens, die für mich vollkommen überraschend kommt. Nicht zuletzt weil er
Jahrgang 1968 und so unkonventionell ist, dass er oft als Teil dieser Show angesehen wird.
»Warum verwenden sie alle Schwarzweiß-Fotos von sich selbst, die wie Rock-Fotografie aus
den 1970ern aussehen?«, fragt er und will wissen, was hinter dieser unter den jungen wilden
Winzern angeblich verbreiteten Weinstrategie steckt.
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»Keine Ahnung«, entgegne ich in dem Bewusstsein, dass mir diese Tatsache bis zu seiner
Frage nicht aufgefallen war. Mist! Habe ich diese jungen Kerle meine rationalen Fähigkeiten
und die gesunde Skepsis, die ich über Jahre hinweg aufgebaut habe, einfach mit einem
Cocktail von überholten Popklischees und fruchtbetonten jungen Weinen plattwalzen lassen?
»Ein Freund von mir aus der Musikbranche war im März auf der ProWein in Düsseldorf und
hat sich diese Typen und ihre Stande angeguckt«, fährt der Eminem des deutschen Weins fort.
»Schließlich hat er einen der jungen Winzer, der einen dreiteiligen Anzug trug, gefragt: >Seid
ihr Rockstars?< Und der konnte die Frage noch nicht mal beantworten!«
Natürlich gibt es auch Trittbrettfahrer, konventionelle Winzer mit konventionellen Weinen,
die zufällig unter 40 sind und sich an die Jung-und-Wild-Welle dranhängen, um vielleicht
auch davon zu profitieren.
»Hast Du gehört, dass >Darth Vader< die junge >Kathy Skywalken neu positioniert?«, fragt
Tesch.
Ich schüttele den Kopf und denke zurück an meine Begegnung mit »Luke Skywalker« und
»Kathy Skywalker« bei der Wein-in-den-Mai-Party.
»Er stellt eine Gruppe von jungen Winzern um sie, so wie man einen Rahmen um ein Bild
stellt«, erklärt er.
Plötzlich rattern sämtliche Alarmglocken in meinem Kopf; auf dem Titel einer
Weinzeitschrift, die mir unlängst in die Hände fiel, entdeckte ich sie mit drei anderen jungen
Winzerinnen. Auf diesem Bild wie auch den anderen, die den lahmen Bericht begleiten, dreht
»Kathy Skywalker« für die Kamera so richtig auf. Sie ist möglicherweise auch eine begabte
Winzerin, aber bis jetzt habe ich noch nichts von ihr probiert. Bei dem ganzen PR-Firlefanz
geht es offen-sichtlich darum, mit dem Jungwinzer-Effekt »Darth Vaders« «Death-StarWeine« zu vermarkten.
Inzwischen sind wir von der Autobahn abgebogen, doch statt
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langsamer zu werden, als wir Langenlonsheim erreichen, fliegt der Tarnkappenbomber direkt
durch den Ort und auf der anderen Seite hinaus, durch die Weinberge hinauf und in den Wald
darüber.
»Ich bin in diesem Wald aufgewachsen, und jetzt bin ich der Herrscher dieses Dschungels«,
sagt Tesch mit dem ihm eigenen trockenen Humor. Aber diese Eskapade muss einen
ernsthaften Grund haben; er scheint nie etwas einfach nur aus Spa8 zu machen. Nein, es ist ihm
todernst, selbst wenn er lacht. Wir fahren immer langsamer, wahrend der Dschungel immer
dichter wird, bis dickes Gestrüpp uns zum Anhalten zwingt. Tesch steigt aus, und ich folge mit
wachsender Skepsis seinem Beispiel. Wir bahnen uns einen Weg durch Eichen, Ginster,
Brombeeren, vorbei an Gräsern, blühenden Veilchen und wilden Erdbeeren, und ich frage mich,
ob die Wildschweine uns beobachten, die er hier oben jagt. Hoffentlich haben sie keine
Rachegelüste.
»Wir holen ein paar Andenken für deine Frau«, ruft er mir zu -wieder ein Rätsel. »Wir haben
diesen Weg vor drei oder vier Jahren aufgelassen und jetzt holt ihn sich der Wald zurück.«
Weg? Das ist eine interessante Beschreibung für diesen Streifen an Urvegetation - oder
erkenne ich einfach eine Songline der Nahe-Aborigines nicht? Dann erreichen wir auf einmal
eine Lichtung, in deren Mitte ein Loch ist, das wie ein riesiger Bombenkrater aussieht — eine
schlechte Nacht für die Royal Air Force und eine glückliche für Bad Kreuznach, 1944 oder '45?
Stellenweise ist der Kiesboden zwischen dem Gebüsch und den dürren Birken zu erkennen.
Tesch geht sofort auf die Knie und fängt an, mit bloßen Händen im Kies zu graben. Was
erwartet mich?
»Das war früher eine Kiesgrube«, sagt er nur, ohne aufzuschauen. »Hier ist etwas ... Moment...
wenn ich nur an Werkzeug gedacht hätte, wäre es so viel einfacher.« Das alles erklärt mir
überhaupt gar nichts. Dann steht er auf, sagt, ich solle ihm meine Hand hinhalten, und lässt fünf
winzige kantige dreieckige Gegenstände darauf fallen, bei deren Anblick mich schaudert - die
scharfen Zähne eines
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bösartigen Fleischfressers! Werde ich Opfer irgendeines lebenden Fossils, von dem die
Zoologen überzeugt sind, dass es in Europa seit der letzten Eiszeit ausgestorben ist? Wie ist es
dem Tier gelungen, die Bundesrepublik von vor 1989 zu überleben, mit ihren pünktlichen
Zügen, grundsoliden Staatsfinanzen und nach Desinfektionsmittel stinkenden öffentlichen
Toiletten?
»Sie sind alter als die Alpen«, sagt Tesch gewichtig, »aber keiner der Experten kann mir
erklären, warum man hier so viele davon findet... Vor 35 Millionen Jahren muss es hier
Tausende von Haien gegeben haben.«
Ich stoße eine tiefen Seufzer der Erleichterung aus, dass ich nicht als Frischfleisch im Magen
eines lebenden Fossils enden werde, mit einer Blutpfütze, die im Kies versickert, und einem
Haufen Knochen, abgenagt von diesen scharfen Zähnen.
»Das war heute also die große Haijagd«, stottere ich, unbewusst den Titels eines Werkes vom
Guru des Gonzo-Journalismus zitierend.
»Ich habe gerade Hunter S. Thompson gelesen«, entgegnet er sofort. »>Die große Haijagd< und
ein anderes Buch, >Hell's Angels<.«
»Oh ja, >Hell's Angels< ist wirklich richtig gut«, spucke ich aus, aber er blickt skeptisch,
»davon haben sich eine halbe Million Exemplare in den ersten sechs Monaten verkauft,
inzwischen sind es 1,2 Millionen inklusive der ausländischen Ausgaben.«
Er zuckt immer noch mit keiner Wimper, und mir wird plötzlich klar, dass ich nach wie vor
nicht die leiseste Idee habe, was wir hier eigentlich tun.
»Thompson ist mein großes Vorbild als Schriftsteller«, füge ich hinzu und frage mich, warum
ich diese ganzen Verkaufszahlen genannt habe, als ob sie das Entscheidende seien.
»Dann hast du dir das falsche Thema für diese Art des Schreibens ausgesucht«, sagt er mit
großer Überzeugung.
»Da bin ich anderer Meinung«, widerspreche ich ihm. »Was ist mit diesen ganzen
Möchtegern-Rockstar-Jungwinzern, >Darth Va218
der< und diesen Haifischzähnen? Die sehen ganz wie der Stoff aus,
der Thompson anturnen konnte.«
^
Ich folge ihm zurück zum Auto, und wir fahren zum Tesch-Hauptquartier im Ortszentrum,
wo ich hoffe, endlich herauszufinden, was zum Teufel das alles bedeutet.
Die Weinverkostung - wieder in einem Raum eines alten Hauses, dem der helle weiße JetztLook verpasst worden ist — beginnt mit dem dritten Jahrgang, 2003, seines knochentrockenen
Riesling UNPLUGGED, der nur ganze 1l,5%vol Alkohol hat. Der gegenwärtig angesagte trockene Stil
beim Riesling unter deutschen Winzern, ob jung oder alt, lasst das gesetzlich zugelassene
Höchstmaß an unvergorenem Zucker, 9 Gramm pro Liter, mindestens 13%vol Alkohol und
überbordende Aromen zu. Viele von diesen »Trockenen« verdienen daher eher die Beschreibung
weißes Kuschelhäschen.
UNPLUGGED
ist genau das Gegenteil davon, ohne deswegen sauer oder
neutral zu wirken. Stattdessen besitzt er eine natürliche Frische und charakterliche Direktheit, die
sagt, »Ich bin ein richtig knackiger Riesling, so wie sie aus dieser Gegend ohne Verstärker
klingen«.
»Aber wollen die Leute UNPLUGGED trinken?«, frage ich mich laut.
»Wir verkaufen
UNPLUGGED
auf fünf Kontinenten«, antwortet mein Gastgeber, mit einem
Hauch von Stolz in der Stimme, »an aufgeschlossene Menschen ... es gibt eine neue
Generation von Konsumenten.«
Die ganze Sache mit dem Weinkonsum ist der große blinde Fleck des Weinjournalismus.
Wir Weinjournalisten konzentrieren uns alle fast ausschließlich auf die Weinerzeugung; auch ich
habe da viel nachzuholen.
Es folgen fünf Schlegelflaschen mit trockenem Riesling, jede eine Einzellagen-Abfüllung
mit einem andersfarbigen Etikett und einem auffallenden Bild darauf: kühles Grün und ein
Ausschnitt einer alten Weinbergskarte für den
LOHRER BERG;
zitronengelb und ein bekrönter
Frosch für die KRONE; helles Türkisblau und ein
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mittelalterliches Lanzenturnier fürs
KARTHAUSER
den
KONIGSSCHILD;
Rotbraun und Karthäusermönche für den
und schließlich tiefes leuchtendes Rot und St. Remi mit seinem Gefolge für
ST. RE-MIGIUSBERG.
Dieses Quintett hatte seinen ersten Auftritt mit dem Jahrgang 2002,
und wie letztes Jahr sind die Unterschiede in Duft, Geschmack und Persönlichkeit
zwischen ihnen genauso markant, wie es die Farben und Bilder andeuten. Jede der fünf
Lagen hat sich dem dort gewachsenen Wein aufgeprägt. Das ist keine neue Idee, aber wie
sie vermittelt wird, ist in ihrer modernen Direktheit wohl radikal.
Tesch geht kurz hinaus und lässt mich mit meinen Gedanken allein. Dann kehrt er mit
einer grünen Burgunderflasche mit dunkel-blauem Etikett und einem Porzellanteller
zurück, die er beide vor mir auf den Tisch stellt. Er selbst setzt sich, verschränkt die Arme
und lässt mich nicht aus den Augen. Auf dem Etikett lese ich
DEEP BLUE
2003. Das Blau
entpuppt sich als eine von unten, aus derTaucherperspektive fotografierte Wasseroberfläche.
Von einem Anhänger am Flaschenhals starrt mich ein hungriger Hai an. Auf dem Teller liegt
ein ganzer Haufen der versteinerten Haifischzähne. Tesch schenkt ein Glas von dem Wein
ein und schiebt es mir wortlos über den Tisch. Ich bin immer verwirrter, denn für einen
Weißwein sieht der Wein ziemlich merkwürdig aus, da ist nichts von dem üblichen
grünlichen oder strohfarbenen Schimmer, sondern eher ein Hauch von Pink ... Duft und
Geschmack sind ebenfalls vollkommen anders als alles, an das ich mich erinnern kann,
und versetzen mich schlagartig in eine schwimmende Welt, in der alles fließend ist,
schwebend.
»Was ... was ist das?«, stottere ich.
»Es ist eher Jacques Cousteau als >Jaws<, da scheint ein Tropfen Blut im Wasser zu sein«,
lautet Teschs rätselhafte Antwort. »Was genau in der Flasche ist, verrate ich nicht. Es ist ein
Experiment ...
UNPLUGGED
war als Wein geplant, der überall funktionieren würde, von der
Reeperbahn in Hamburg bis zum Restaurant >Tan220
tris< in München. Mit dem hier wollen wir jetzt ausloten, wie weit wir es treiben können,
wo die Grenzen wirklich liegen. Die Haifischzähne, die ich dir gezeigt habe, liegen auch im
Weinberg, aus dem dieser Wein stammt, nur oben im Wald sind sie einfacher zu finden.
Sie waren der Auslöser für die Ideen, die mich auf diesen neuen Wein gebracht haben. >Die
Geduldigen werden belohnt werden<, hat meine Großmutter zu mir als Kind oft gesagt. Jetzt
weiß ich, dass sie Recht hatte.«
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Pass und andere Dokumente per Fax hinübergebeamt hatten. Er erzählte mir all das in dem
vollen Bewusstsein, dass ich die Geschichte gleich danach aufschreiben würde, was bedeutet,
dass er damals zweifellos Schiss hatte, aber das Ganze inzwischen ziemlich cool nimmt...
Ich warte, bis die zwei Sex-Heilungs-Ärzte ihre Medizin an die Masse verteilt haben, und
gehe dann zur Palette, um meine Dosis verabreicht zu bekommen. SEX MACHINE ist auf diese
Weise nicht so leicht zu verkosten wie im Frühjahr, als ich ein ganzes Glas zugeteilt bekommen
habe, aber der Schluck bestätigt meinen damaligen Eindruck. Der Wein schmeckt
überwältigend nach den reifsten Brombeeren und Pflaumen und schlägt dann so richtig ein.
Süße, Fülle und Festigkeit verschmelzen zu einem massiven Hit. Nach dem Stimmengewirr
zu urteilen, das hier unten herrscht, während James Brown noch mal zu seiner erotischen
Hymne ansetzt, ist niemand enttäuscht vom Geschmack der Maximalkraft der Weinzukunft.
1. April 2005 »Willkommen im Yellow Submarine!, begrüßt Martin Tesch Ursula, als wir in
seinen Gärkeller kommen. Eigentlich erinnert es eher an das U-Boot der Rebellen in »Matrix« —
dunkel, klaustrophobisch, Retro und auf aggressive Weise Punk - als an eine Szene aus dem
verspielten Comic-Film der Beatles. Große Zylinder aus emailliertem Stahl sind links und
rechts von uns zu enormen Stapeln übereinander geschweißt, und sie sind gewissermaßen
gelb, okay. Tesch registriert mit Genugtuung, dass Ursula geziemend von dieser
ungewöhnlichen Ausrüstung beeindruckt ist, und erklärt, er habe das alles von seinem Vater
übernommen und sei ursprünglich dieser Retro-Technik gegenüber mehr als skeptisch
gewesen.
»Zuerst haben wir alles an neuer und neuester Kellertechnik ausprobiert, dann haben wir
beschlossen, bei der alten Ausrüstung; zu bleiben«, hallt seine Stimme in dem Wein-echo
chamber. Seine Me240
thoden hier unten sind in der Tat Lichtjahre entfernt von dem Industrie-Look des Ganzen. Er
fängt den Widerhall der Geologie und Topographie seiner Weinberge in dem vergorenen Saft der
Riesling-Trauben einfühlsam und unplugged ein. Wir gehen mit ihm durch den Keller, über einen
schmalen Hof und in das Backstein-Gutshaus aus dem späten 19. Jahrhundert.
»Ich war gerade in London«, erzählt Tesch, »der Riesling unplugged beginnt sich da richtig zu
bewegen. Ich bin beinahe der einzige deutsche Erzeuger, der in England trockene Weine verkauft,
und da drüben schmeckt er wirklich ein bisschen erschreckend.«
»Erschreckend?«, frage ich erstaunt.
»Ja, nach einem Glas deutschem Riesling mit über 30 Gramm Restsüße pro Liter, wie das
meiste, das in England verkauft wird, schmeckt einer mit nur zwei Gramm ein bisschen
erschreckend , insistiert er, während wir uns an den Tisch im Probierzimmer setzen. »Ich war in
einem erstaunlichen indischen Restaurant mit einem Michelin-Stern und Riesling Unplugged auf
der Karte, und der Chef hat mir zu dem Wein alle möglichen Kräuter und Gewürze zum Probieren
gegeben — was zeigt, dass man den ganzen Marktforschungsscheiß vergessen kann, weil die Leute
mit deinen Weinen sowieso machen, was sie wollen.« Vor uns steht ein Designer-Spucknapf, wir
sind bereit fürs Verkostungsritual.
»Dieses Jahr war die Pro Wein in Düsseldorf absolut verrückt«, bricht es förmlich aus ihm
heraus. »Überall auf der Messe Fancy Wines, Weine mit Fantasie-Namen und schicken DesignerEtiketten, 70 oder 80 schon allein bei den Österreichern!«
Auch da trifft er wieder voll ins Schwarze. So wie es für jugendlich wirkende Winzer ziemlich
einfach ist, sich mit Hilfe von Haargel und gestreiften Hemden an die Jung-und-Wild-Geschichte
anzuhängen, so kann auch jeder Winzer einen Fantasie-Namen und ein Designer-Etikett auf eine
Flasche klatschen und auf diese Weise versuchen, einen Langeweiler-Wein schneller und/oder zu
einem besseren Preis loszuwerden. Es gibt Tausende von Langeweiler-Wei241
nen da draußen in der großen weiten Welt und beinahe ebenso viele opportunistische
Winzer.
»Sie klingen interessant«, redet er weiter. »Manche schmecken besser, als man erwartet,
aber nur wenigen Winzern gelingt es, wirklich was rüberzubringen ... und dann ist alles
vorbei.«
»Aber meinst du nicht, dass da ein natürlicher Selektionsprozess am Markt einsetzen wird
und nur die Weine überleben werden, die etwas rüberbringen?«, frage ich, und er stimmt
etwas widerwillig zu und schenkt dann den 2004 riesling unplugged ein.
»Wie kamen deine 2004 an?«, erkundige ich mich, weil ich neu-gierig bin, welche
Reaktionen seine eigenen »Fancy-Wines« ausgelöst haben.
»Ich war ziemlich besorgt, weil ich am Nahe-Stand neben der großen Posaune, dem großen
Superhelden und dem kleinen Superhelden war«, anrwortet er und meint damit drei der
etablierten Starwinzer seines Gebiets, »aber meine Weine schienen kein Problem zu
haben.«
Das bedeutet, dass sie einen Testlauf in diesem natürlichen Selektionsprozess ohne
Schwierigkeiten überstanden haben. Dann schenkt er die Weine ein, damit wir uns selber
ein Urteil über die ProWein-Überlebenden bilden können: Riesling unplugged, deep blue,
dann die bunten, trockenen Einzellagen-Rieslinge, allesamt aus dem Jahrgang 2004. Es ist
jedoch weit mehr als nur eine Wiederholung der letztjährigen Verkostung, weil sie etwas
Neues gemeinsam haben; eine Brillanz, die die vorhergehenden Jahrgange im Vergleich
wie ungeschliffene Diamanten erscheinen lässt. Diese Juwelen funkeln mit ihren Facetten
in vielen Schattierungen, als seien sie von einem Strahl reinen weißen Lichtes erleuchtet.
Dann stellt Tesch in der ihm eigenen Art, mit der ich inzwischen ziemlich vertraut bin,
wortlos eine grüne Schlegelflasche mit Weißwein auf den Tisch und blickt mir direkt in die
Augen.
»Das ist eine sehr kleine Menge, ein Weißwein, der etwa wie ein
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Rotwein ausgebaut worden ist — etwas, das wir noch nie hatten«, sagt er in einem Ton, der
beinahe drohend wirkt.
Er schenkt den Wein in frische Gläser ein und schiebt sie uns hinüber. Nun, der Versuch,
Weißweine wie Rote zu vergaren — das heißt, den Saft zusammen mit dem Fruchtfleisch
und den Schalen, statt nur den Saft für sich allein, wie es normalerweise der Fall ist -ist
durchaus schon unternommen worden. Für mich lag das Ergebnis immer irgendwo
zwischen hart und oxidiert. Das macht das, was vor uns steht, zu einem »Fancy Wine«
ersten Grades. Draußen in der großen weiten Welt frisst so einer entweder alle anderen
oder er wird gefressen nach den Regeln der natürlichen Selektion. Wir greifen gespannt zu
den Gläsern ... und bereits beim ersten Schluck habe ich das Gefühl, als bebe die Erde unter
meinem Stuhl ein wenig. Der Geschmack ist streng und unnachgiebig dunkel, gleichzeitig
aber auch voller Leben wie die vibrierende Saite einer elektrischen Gitarre in der
Rückkoppelung ... Wenn die Weinpresse das in die Finger bekommt, dann werden ein paar
Journalisten ausflippen, aber andere meiner Kollegen werden den Wein mit ihren Krallen
zerreißen.
»Natürlich ist der Wein sehr finster und düster«, beschreibt Tesch den blass strohfarbenen
Wein. »Er erinnert mich an ein T-Shirt, das ich in Amerika gesehen habe und auf dem
stand: >I'm So Spooky I Piss Darkness< — ich bin so gespenstisch, dass ich Finsternis
pisse. Das Etikett ist noch nicht fertig, aber ich habe entschieden, ihn five miles out zu
nennen.«
Ich muss nachfragen, was dieser Name bedeutet, obgleich mir schon klar ist, dass es um
Navigation geht. Er erklärt, dass die Bezeichnung für die äußere Grenze des streng
kontrollierten Luftraums um einen Flughafen steht; für ihn offensichtlich Metapher für die
Grenze der vertrauten Weinwelt. Weißwein wie Rotwein zu vergaren liegt zweifellos auf
der anderen Seite der äußeren Grenze; es ist ein Plug aus dem kontrollierten Luftraum
direkt in den Sturm hinein.
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»Als ich ihn nach der Garung das erste Mal verkostet habe, sah es aus, als würden wir
direkt auf eine Crash-Landung zusteuern, und ich wollte den Schleudersitz auslösen, aber
von Woche zu Woche wurde der Sturmgott gnädiger. Weil er so weit außerhalb unserer
normalen Wein-Palette liegt, werden wir ihn als einfachen Tafelwein bezeichnen, aber er
wird nicht billig sein. Ob wir es wollen oder nicht, fliegen wir in die Zukunft des Weins.
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