Positives – Oder: Ein „bisschen ADHS“ ist eigentlich ganz gut!
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Positives – Oder: Ein „bisschen ADHS“ ist eigentlich ganz gut!
Positives – Oder: Ein „bisschen ADHS“ ist eigentlich ganz gut! Im Jahr 2002 wurde auf Initiative des BV AÜK (Bundesverband Arbeitskreis Überaktives Kind), Barbara Högl, und in Kooperation mit der Abteilung für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Charité der Humboldt-Universität Berlin, Michael Huss, die ADHD-Profil-Studie, eine retrospektive Befragung von 1948 Eltern ADS/ADHS-betroffener Kinder und Jugendlicher bis zu einem maximalen Alter von 25 Jahren in Deutschland und Österreich durchgeführt; weitere Länder schlossen sich an. Ziel der Studie war eine Bestands- und Bedarfsanalyse zu schaffen, „die neben Handlungsrelevanzen auch Ressourcen aufzeigt“, um so als „Besonderheit“ „nicht nur Probleme und negative Symptome abzubilden, sondern auch explizit Stärken und besondere Fähigkeiten der betroffenen Kinder zu erfassen“. Die Grundfrage lautete: „Wie sehen die Eltern ihre Kinder, unabhängig von medizinischen Klassifikationen, und wie gehen sie mit ADHS um?“ Als häufigste positive Zuschreibungen für Kinder mit ADHS wurden angekreuzt: - sensibel (76 %) - neugierig (68 %) - ausgeprägter Gerechtigkeitssinn (67 %) - phantasievoll (64 %). In den angeführten Prosatexten der Eltern fanden sich häufig Beschreibungen von den guten Fähigkeiten, sich in die emotionale Lage von Mitmenschen einzufühlen, geradezu „seismographische Antennen“ zu haben, „offen“, „ehrlich“, „großherzig“ und „besonders tierlieb“ zu sein. Die Leitlinien der Kinder und Jugendärzte nennen als häufig zu beobachtende positive Eigenschaften bei ADHS: - Ideenreichtum - künstlerische Kreativität - Begeisterungsfähigkeit - Hilfsbereitschaft - Gerechtigkeitssinn. 1 Menschen mit ADHS sind offen für ungewöhnliche Situationen, ständig auf der Suche nach Neuem, sind begeisterungsfähig und aus dem Grund innovativ. „Stupide und eintönige Arbeiten liegen ihnen nicht, sie brauchen Bewegungs- und Ideenfreiheit gepaart mit Selbständigkeit, wobei sie gerne Verantwortung übernehmen“ (Simchen 2003). „ADS-Betroffene denken vielschichtig und vorwiegend in Bildern, sie können sich dadurch gut orientieren“ (Simchen 2003). Sie können sich schnell einen Überblick verschaffen, simultan handeln und verschiedene Dinge gleichzeitig tun. Sie haben eine „hohe Chaos-Toleranz“ (Hartmann 2003), sind belastbar in für andere unübersichtlichen Situationen und flexibel durch ständiges Neu- und Umdenken. Sie wissen sich zu helfen und können gut improvisieren. Sie sind experimentierfreudig, haben viele und ausgefallene Hobbys und kennen sich in vielen Dingen aus, wenn auch meist nur oberflächlich. Fehlendes Detailwissen wird durch Computerkenntnisse wettgemacht. „ADS-Betroffene lieben den Computer, er stimuliert ihr Gehirn; ein bisschen arbeitet ihr Gehirn auch wie ein Computer“ (Simchen 2003). „Es ist eine Binsenweisheit – aber wahr –, dass es angesichts eines Videospiels kein ADHS gibt“ (Hartmann 2004). Sie denken, reden und fühlen in Sprüngen, können von einem Extrem ins andere fallen und wundern sich dann oft, wenn ihre Umwelt „nicht mehr mitkommt“. Sie haben eine ungebremste Energie, eine schnelle Reaktionsbereitschaft, Hilfsbereitschaft und Ausdauer in Notfall-Situationen. Sie sind risikofreudig, kennen selten Angst, probieren alles aus und trauen sich fast alles zu. Diese Spontaneität ist positiv in Situationen, bei denen es auf Einsatzbereitschaft und schnelles Handeln, ohne viel zu überlegen, ankommt. Wenn es „wirklich darauf ankommt“, reagieren sie „prompt und meist souverän“ (Neuhaus 2005). So gesehen sind Menschen mit ADHS gute Notärzte, Feuerwehrmänner oder Ersthelfer in Krisengebieten. Als „dead-line-Arbeiter“ (Altherr) können sie unter Zeit-Druck und bei Motivation Hochleistungen erbringen, allerdings brauchen sie dazu ein Ziel, feste Strukturen und ein soziales Umfeld, das sie in ihrer Entwicklung nicht behindert“ (Simchen 2003). Sie sind erfindungsreich und kreativ, humorvoll und wendig, können sich selbst und andere begeistern. Durch ihr meist ausgeprägtes Sprachvermögen und ihre 2 Fähigkeiten zur Selbstdarstellung sind sie gute Entertainer, hervorragende Schauspieler, Theaterspieler und phantasievolle Erzähler. Sie nehmen Stimmungen empathisch wahr, haben eine gute Intuition und können andere schnell durchschauen. Sie spüren meist sofort, wenn das Gegenüber schlechte Laune oder Sorgen hat, können sich gut in andere einfühlen, können Akzeptanz und Einfühlungsvermögen beim Gegenüber gut einschätzen und merken sehr rasch, „ob es einer mit ihnen ehrlich meint“ (Simchen 2003). Sie haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn für eigene und auch fremde Belange. Sie setzen sich für andere ein, etwa als Schulsprecher oder bei der Jugendfeuerwehr, in Interessenvertretungen und Selbsthilfegruppen. Sie sind meist fürsorglich gegenüber Schwächeren und Jüngeren, sind natur- und tierlieb. Nach einem Eklat sind sie nicht nachtragend, „schnell wieder gut“, wenn sich das Gegenüber entschuldigt und alles wieder seine gerechte Ordnung hat. Wenn die Beziehungsebene für sie stimmt, sind sie „anhänglich und treu“ (Altherr). Sie sind „Steh-auf-Männchen“ (Altherr), prinzipiell optimistisch veranlagt, machen jeden Tag einen Neuanfang. Sie sind in der Regel besonders zäh, meist unkompliziert und in vielen Situationen erfrischend lebhaft. Simchen (2003) fasst die positiven Seiten von Menschen mit einer sogenannten Aufmerksamkeitsstörung zusammen: „Menschen mit ADS verfügen über eine assoziative Denkweise. Das heißt, sie denken vielschichtig, sie können aufgenommene Sinneswahrnehmungen unbewusst verändern und sie können mit Hilfe ihrer Fantasie ganz neue Wahrnehmungen erzeugen. Das ist eine Fähigkeit des Gehirns, was nur Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit ADS vorbehalten ist. Dabei können sie ihre Umgebung sehr bewusst wahrnehmen. Sie sind in der Lage, alles zu durchschauen und direkt zu hinterfragen; sie sind hellwach, wenn etwas sie interessiert. Ihnen kann man nichts vormachen, ihnen entgeht nichts. Sie hören und sehen mehr als für andere wahrnehmbar. Ist ihr Interesse einmal geweckt, ist ihr Wissbegierde riesengroß. Sie können sich dann sehr gut konzentrieren und Hervorragendes leisten. Sie besitzen einen Scharfblick mit starker Intuition, wie ihn sonst keiner hat. Sie können auch Gedachtes als real erleben, dank ihrer guten Fantasie. Sie denken vorwiegend visuell, d. h. sie stellen sich alles in Bildern vor, da sie sich diese besser 3 einprägen können. Ausgerüstet mit einem guten Selbstbewusstsein können Menschen mit ADS gerade aufgrund ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten in ihrem Leben Großes vollbringen. So leisten heute viele Erwachsene mit ADS in der Tat Hervorragendes, ohne dass die je von ihrem ADS wussten und dessen Behandlung nötig hätten. Sie wuchsen eben trotz ihres ADS unter günstigen Rahmenbedingungen auf, verfügten über ausgezeichnete intellektuelle Ressourcen und konnten deshalb ein gutes Selbstbewusstsein entwickeln“ (Simchen 2003). Für ADHS-Kinder und ihre Eltern spielt die Schule eine besondere Rolle. Eggert et al. (2003) befassen sich in dem von ihnen entwickelten SelbstkonzeptInventar mit Möglichkeiten zur Diagnose und Förderung von Kindern im Vorschulund Grundschulalter und weisen darauf hin, dass emotional bedeutsame Ereignisse großen Einfluss auf die Konstruktion des Selbstkonzepts ausüben und fordern: „Man sollte positive Erlebnisse schaffen. Diese positiven emotionalen Zustände muss die Person wiederholt erleben können“ (Eggert et al. 2003). Positive Eigenschaften des ADS-Kindes lassen sich in der Schule durch Lehrkräfte geschickt einsetzen und führen zur deutlichen Verbesserung der Atmosphäre im Klassenzimmer, da sich das ADS-Kind ernstgenommen und wertgeschätzt fühlt und so motiviert ist, „für die Lehrkraft, die es mag, zu arbeiten“ (Altherr o. J.). Durch Motivation und Interesse an einer Aufgabe und durch die empathische Begleitung einer Bezugsperson beim Lernen, die sich an das Können des Kindes anpasst, reduziert sich häufig die Symptomatik von ADHS und verbessert sich die Prognose, was soziale Auffälligkeiten und späteres kriminelles Verhalten betrifft. „Unendlich viel hängt davon ab, ob diese kreativen Sonderlinge und ungestümen Geister, deren Anderssein sich ja oft schon in der Kindheit ankündigt, von den Mitmenschen erkannt, angenommen und verständnisvoll begleitet werden – wobei, um Missverständnissen vorzubeugen, verständnisvolle Begleitung nichts mit gelangweiltem laisser-faire zu tun hat; diese Kinder brauchen zu ihrer inneren Orientierung nichts so dringend wie einen anderen Menschen, der sie sieht, der sie respektiert, wie sie sind, und ihnen echte Wertschätzung entgegenbringt. Denn nur von einem solchen Menschen lassen sie sich führen und korrigieren“ (Köhler 2004). 4 Für Eltern und Kinder mit diagnostizierter ADHS ist der Fokus auf positive Eigenschaften und auf Erwachsene mit Vorbildfunktion, die es trotz vermuteter ADHS geschafft haben, wichtig und entlastend. Das lässt sie die Zukunft ihrer Kinder und spätere Berufe gelassener betrachten. „Menschen mit ADHS sind oft leidenschaftlicher und emotionaler und tun das, was sie tun, oft mit sehr viel größerer Überzeugung als wir anderen“ (Barkley 2002). Erfolgreich sind sie da, wo es um leidenschaftlichen Ausdruck und Begeisterung geht, in den darstellenden Künsten, der Schauspielerei, der Literatur oder bei Verhandlungen. „In Kombination mit ihrer Gesprächigkeit und ihrer Vorliebe für das Arbeiten mit Menschen macht diese Leidenschaft oft hervorragende Verkäufer aus ihnen“ (Barkley 2002). Michael Bauschmann (2002) thematisiert in seiner Diplom-Arbeit die „berufliche Beratung aufmerksamkeitsgestörter (ADS, ADHS, HKS) Jugendlicher und Erwachsener“. Er geht speziell auf „eher positiv zu wertende Eigenschaften“ ein und nennt eine breite Palette geeigneter Tätigkeiten für Menschen mit ADHS: Pflegeberufe, selbstständige Berufe, politische Berufe, journalistische Berufe, gestalterische Berufe, darstellende Berufe, risikoreiche Berufe, Dienstleistungsberufe, kreative Berufe, forschende Berufe, Medienberufe, helfende Berufe, Berufe mit hohem Bewegungsanteil, Berufe, die im Freien ausgeübt werden, Berufe, die viel Abwechslung bieten (vgl. Bauschmann 2002). „Vermehrte Reizoffenheit, hohe Kreativität mit der Fähigkeit zu assoziativem Denken außerhalb eingefahrener Gleise und Eloquenz können durchaus Qualitäten darstellen, die in bestimmten Berufen wie Manager, Vertreter, Verkäufer, Politiker, Moderator, Entertainer, Künstler, Wissenschaftler und Erfinder zu großen Leistungen befähigen“, wobei die Hyperfokussierung und die anhaltende Aufmerksamkeit für faszinierende Themen als Mittel zum Erfolg führen können, so dass „die erfolgreichen unter den aufmerksamkeitsgestörten Erwachsenen ein so gutes Durchhaltevermögen beim Erforschen einer Sache, die sie interessiert, entwickeln, dass sie in kurzer Zeit zu Spezialisten werden“ (Krause und Krause 2005). Simchen (2003) zieht aus den Lebensbeschreibungen von Johann Wolfgang von Goethe, Napoleon oder Astrid Lindgren Parallelen zur ADS-Symptomatik. Sie beschreibt die Biographien von Edison, Einstein oder Churchill nach dem Motto „in Kindheit und Jugend ‚Versager’ – als Erwachsene bewunderte Genies“. Von den Biographien von Benjamin Franklin und Bill Clinton ausgehend, lassen sich 5 Mutmaßungen zu einer Aufmerksamkeitsstörung anstellen. Hallowell und Ratey (2005) nennen Edgar Allan Poe, George Bernhard Shaw, Salvador Dali und Abraham Lincoln. „Diese Prominenten schrieben Geschichte außerhalb der Patientenkartei, obwohl sie medizinische Fälle sind“, weil ihre Motivation sie voranbrachte und ihr Ziel erkennen ließ. „Sie alle hatten doppelt Glück: Bei ihnen genügten Perspektiven und passende Rahmenbedingungen, um die Folgen des Syndroms auf ein erträgliches Maß abzumildern“ (Prinzing 2004). Solche Aussagen können Eltern von ADHS-Kindern helfen, einen Perspektivwechsel vorzunehmen sowie die Bedeutung der „Rahmenbedingungen“ und des sozialen Umfelds zu erkennen. Die Lage entspannt das merklich, zeigt es doch, dass auch ein Leben mit ADHS „einigermaßen gelingen“ oder sogar „sehr erfolgreich“ sein kann. Für Erwachsene mit ADHS heißt das: „Ihr ADS-Typ bringt ebenso viele gute wie problematische Eigenschaften mit sich. Ihre Aufgabe ist es, die weniger konstruktiven Aspekte Ihres Verhaltens unter Kontrolle zu halten und die positiven Aspekte voll zur Entfaltung zu bringen. Wenn Ihnen das gelingt, können Sie nur gewinnen“ (Weiss 2003). Bildhaft beschreiben Hallowell und Ratey das „So-Sein“ von Menschen mit ADHS: „Für viele Erwachsene ist ADD eine kaum wahrnehmbare, aber unveräußerliche Komponente ihrer Identiät, wie ein roter Faden, der in einen Nadelstreifenanzug eingewoben ist (...) Der rote Faden könnte ein Faden aus Ablenkbarkeit, Impulsivität oder Zerstreutheit sein, der in einen Streifen aus Kreativität, Geselligkeit oder Fleiß eingewoben wird. Und die Therapie liegt vielleicht nicht darin, den roten Faden zu beseitigen, sondern nur ganz leicht seinen Farbton zu ändern, so dass er sich nicht mehr mit seiner Umgebung beißt, sondern sie hebt“ (vgl. Hallowell und Ratey 2005). Oder: „ADHS wächst sich nicht aus. Die Kinder müssen lernen, damit umzugehen – und ihre Umwelt auch.“ (Ehlert, Kultusministerium Stuttgart, Kongress Böblingen, 2005) 6