Amerikas Lebensader verstopft

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Amerikas Lebensader verstopft
S E I T E 12
D I E W E LT
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D I E N S TAG , 2 . J U L I 2 013
WIRTSCHAFT
China-Ratingagentur
jetzt auch in Europa
TOBIAS BAYER
MAILAND
I
m Palazzo Giureconsulti direkt am
Mailänder Dom wird Chinesisch gesprochen. Guan Jianzhong sitzt unter einem gewaltigen Gemälde, das symbolisch die Industrie, die Landwirtschaft
und den Handel darstellt. Was eigentlich
die wirtschaftliche Stärke des italienischen Nordens abbildet, unterstreicht an
diesem Montag die Ambitionen der
Volksrepublik.
Guan Jianzhong ist Präsident der Ratingagentur Dagong und verkündet den
Angriff auf die großen Drei der Branche
Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch:
„Wer wenn nicht China hat die Kraft dazu, das Oligopol der Ratingagenturen anzugreifen?“, fragt er und blickt durch seine Brillengläser herausfordernd in den
Saal. „China ist schließlich das zweitwichtigste Industrieland der Welt.“
Die Ratingagentur Dagong gibt es seit
1994. Bislang bewertete sie nur die Bonität von chinesischen Unternehmen.
Jetzt wagt sie den Sprung über die Grenze. Im März 2012 eröffnete sie eine Niederlassung in Mailand, um auch in Europa ihre Dienste anzubieten. Im Juni 2013
erhielt sie die Lizenz von der europäischen Wertpapieraufsicht European Securities and Markets Authority (ESMA).
Die Europa-Tochter von Dagong wird
nicht Staaten bewerten, sondern sich
auf Banken, Versicherungen und Unter-
„Wir werden
nach dem
Sommer unsere
ersten Noten
veröffentlichen“
Mauro Alfonso, Leiter der
Europa-Tochter von Dagong
nehmen beschränken. Die 100 wichtigsten Emittenten will sie als Kunden gewinnen. In den kommenden fünf Jahren peilt sie einen Marktanteil von fünf
bis zehn Prozent an. Dazu soll das
Team von aktuell 15 Analysten auf über
50 vergrößert werden. „Uns geht es
nicht um Gewinn“, sagt Dagong-Präsident Guan Jianzhong. „Wir wollen Europa helfen.“
Europa öffnet den Chinesen die Tür,
um die Vorherrschaft von Standard &
Poor’s, Moody’s und Fitch einzudämmen. Den drei großen amerikanischen
Ratingagenturen kommt eine herausragende Bedeutung zu. Ihre Noten entscheiden beispielsweise darüber, ob und
zu welchem Preis die Europäische Zentralbank Staatsanleihen eines Landes als
Sicherheiten akzeptiert. Damit bestimmen sie darüber mit, zu welchem Preis
sich ein Land verschulden kann.
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Seit der Finanz- und der europäischen
Schuldenkrise stehen die Ratingagenturen jedoch in Misskredit. Ihnen wird
vorgeworfen, mit allzu positiven Bewertungen von Wertpapieren fragwürdiger
Qualität den Kreditboom angeheizt und
dann durch hektische Herabstufungen
den Tumult an den Kapitalmärkten verschärft zu haben. Ein Hauptpunkt der
Kritik ist das Geschäftsmodell: Die Ratingagenturen werden von den Unternehmen bezahlt, die sie bewerten.
Um das Oligopol von Standard &
Poor’s, Moody’s und Fitch zu brechen,
diskutierten Politiker verschiedener
Länder diverse Vorschläge. Unter anderem wurde erwogen, eine europäische
Ratingagentur zu schaffen, oder das
praktizierte Geschäftsmodell, also das
Bezahlen durch den Emittenten, zu verbieten. Beides wurde bislang nicht umgesetzt. Stattdessen wurde ein Zertifizierungsverfahren bei der Wertpapieraufsicht ESMA eingeführt. Es soll für einheitliche Standards sorgen und neuen
Anbietern den Weg ebnen, um den Unternehmen eine Alternative zu geben.
Mehr als 20 Agenturen haben sich bisher
registriert. Mit Assekurata, Creditreform, Euler Hermes und Feri sind auch
deutsche Anbieter darunter.
Dagong ist die einzige chinesische
Agentur, die in Europa an den Start geht.
Bei ihr handelt es sich um ein Privatunternehmen, der Staat ist – zumindest formal
– nicht beteiligt. An der Europa-Tochter
hält die italienisch-chinesische Beteiligungsgesellschaft Mandarin Capital 40
Prozent. Mandarin Capital investiert das
Geld von chinesischen und italienischen
Investoren in Mittelständler und hilft ihnen dabei, in China Fuß zu fassen. Was
bereits in Italien funktioniert hat, soll nun
auf Deutschland übertragen werden. Der
Private-Equity-Investor hat in Frankfurt
und München Büros eröffnet.
Die Chancen von Dagong, einen ordentlichen Kundenkreis aufzubauen, stehen nicht schlecht. Viele europäische
Unternehmen sind bestrebt, ihre Präsenz in der Volksrepublik auszubauen.
Ein Weg sind Kooperationen mit chinesischen Firmen oder Investoren. Ein Rating von Dagong kann bei der Suche
nach einem geeigneten Partner oder Kapital aus Fernost helfen. Nach Angaben
von Mauro Alfonso, dem Leiter der Europa-Tochter von Dagong, sind die Ratings schon jetzt gefragt. „Wir werden
nach dem Sommer unsere ersten Noten
veröffentlichen“, sagt Alfonso.
Punkten will Dagong mit großer
Transparenz und hoher Qualität. „Die
drei großen Ratingagenturen sind eher
in der Massenproduktion unterwegs“,
sagt Alonso. „Wir arbeiten eher wie ein
Maßschneider.“ Dagong-Präsident Guan
Jianzhong wählt eine weitaus angriffslustigere Formulierung: „Wir haben das
Selbstvertrauen, um unserer öffentlichen Verantwortung in Europa gerecht
zu werden. Wir werden Europa beweisen, dass wir komplett anders sind als
unsere westliche Konkurrenz.“
BLOOMBERG NEWS/DANIEL ACKER
Dagong wagt Angriff auf die Branchenriesen
Der Güterverkehr auf dem Mississippi kommt immer öfter zum Erliegen. Denn fast alle Schleusen und Häfen müssen dringend erneuert werden
Amerikas Lebensader verstopft
Die Wasserwege in den USA sind vollkommen marode. Doch weil sie für den
Warenverkehr unverzichtbar sind, droht dem Land ein wirtschaftliches Fiasko
Gelder für Projekte freigestellt werden,
kann es Jahre dauern, bis alle Zulassungen vorliegen. „Über Infrastruktur wird
in Washington häufig und gerne gesprochen“, sagt Kemmsies. „Nur leider passiert wenig.“ Eines der Kernprobleme:
Von den etwa 250 Schleusen in amerikanischen Flüssen und Kanälen entstand
mehr als die Hälfte in den 50er- und
60er-Jahren. „Die Schleusen wurden für
eine Lebensspanne von 50 Jahren gebaut. Ihre Zeit ist abgelaufen.“
Ein dramatisches Beispiel ist die Industrial-Canal-Schleuse, die den Mississippi River mit dem Gulf Intercoastal
Waterway verbindet, einer Wasserstraße,
die von den Raffineriegebieten in Texas
bis nach Florida führt. Die Schleuse wurde 1921 gebaut, ihre Erneuerung 1956 beschlossen. 1998 gab es die Baugenehmigung. Optimistische Schätzungen gehen
davon aus, dass die neue Schleuse bis
2030 fertiggestellt wird.
David Brackens Schiff ist ein seegängiger Schleppzug, der Öl transportiert.
Bracken, ein spröder Mann Mitte 50, mit
sonnengegerbter Haut und drahtigem
Haar, fährt eher selten auf dem Mississippi, aber er tut es, trotz allem, gerne.
„Ich mag den Fluss wegen seiner langen,
weiten Windungen. Im Winter bietet er
Schutz vor Stürmen und es gibt fast
überall Ankerplätze.“
Ankerplätze brauche man hier, denn
es könne stunden- und manchmal auch
tagelang dauern, bis ein einziger
Schleppzug eine Schleuse passiert habe,
sagt Donald Hinson, Flottenmanager der
Reederei Penn Maritime, zu der auch
Brackens Schiff gehört. Hinson, den seine Kollegen nur Captain Don nennen,
sieht mit seinem grauen Bart, dem stattlichen Bauch und den nautischen Tattoos aus, als sei er gerade einem Seemannsroman entstiegen. Captain Don
betreut 22 Frachtschiffe, fast alle seegängig. „Den Crews ist es egal, wie lange sie
warten, denn sie werden nach Tagen bezahlt.“ Doch die Wartezeiten der Schiffe
und der Mannschaften treiben die Kosten für die Reedereien, die Spediteure –
und am Ende auch für die Kunden in die
Höhe. Die Schiffe von Penn Maritime,
die einen Tiefgang von bis zu neun Metern haben, werden auf dem Mississippi
und auf anderen Flüssen häufig von einem flachen Flussbett gebremst.
Viele Schifffahrtsverbände in den USA
setzen sich deshalb für Fahrrinnenvertiefungen ein, doch das Ingenieurskorps
der US-Armee, das die Instandhaltung
der Wasserstraßen verantwortet, ist mit
dringlicheren Projekten beschäftigt und
die Belastungen solcher Vertiefungsarbeiten für Umwelt und Ökosystem sind
hoch. Das wirtschaftliche Problem aber
bleibt: Bei einem flachen Flussbett können Frachtschiffe weniger Ladung trans-
KATJA RIDDERBUSCH
E
NEW ORLEANS
in grasbewachsenes Ufer;
nur die Mücken schwirren in
der bleischweren Nachmittagshitze über dem Wasser.
Hier, auf dem Mississippi River, dem großen amerikanischen Strom,
im Niemandsland zwischen Baton Rouge
und New Orleans in Louisiana, liegt der
Schleppzug „Captain Hagen“ vor Anker
– und wartet auf den Einlass in den Hafen von New Orleans. Das kann dauern.
Warten sei Teil seines Jobs, sagt David
Bracken, Kapitän des Schleppzuges und
Chef einer siebenköpfigen Besatzung.
Seit mehr als 30 Jahren arbeitet er auf
Frachtschiffen. „Früher sind wir von Ort
A nach Ort B gefahren, ohne Unterbrechung. Doch heute gibt es ständig Kontrollen und Auflagen und eine Flut von
Papierkram.“
Viel Bürokratie – und vor allem: viele
Staus gibt es auf dem Mississippi, der
belebtesten Wasserstraße der USA, auf
der jedes Jahr 6000 Ozeanfrachter und
150.000 Schleppzüge rund 500 Millionen
Tonnen Fracht transportieren. Dort
staut sich der Verkehr, wenn ein niedriger Wasserpegel oder ein verschlacktes
Flussbett die Schiffe bremsen oder zum
Stehen bringen. Oder wenn Schleppzüge
erst getrennt werden müssen, weil die
Schleusen veraltet und schlichtweg zu
kurz für moderne Frachtschiffe sind.
Amerikas Lebensader verstopft. Und
nicht nur auf dem Mississippi River, sondern auf fast allen Binnengewässern der
USA ist die Infrastruktur in einem desolaten Zustand. „Wenn die Flüsse, Schleusen, Staudämme und Häfen nicht in den
nächsten Jahren instand gesetzt werden,
droht ein sehr gefährliches Szenario“,
sagt Walter Kemmsies, Chefökonom der
Beratungsfirma Moffatt & Nichol mit
Sitz in Long Beach, Kalifornien.
Zu diesem Ergebnis kommt auch der
Verband der US-Bauingenieure (American Society of Civil Engineers, ASCE),
der in einer Studie auf die dramatischen
Investitionslücken in der Infrastruktur
des Landes hinweist. Demnach drohen
„bis 2020 wirtschaftliche Verluste in Höhe von 270 Milliarden Dollar – und ein
Absacken des Bruttoinlandsprodukts in
Höhe von 697 Milliarden Dollar“. Produktionskosten und Arbeitslosigkeit
würden steigen, Exporte und Wettbewerbsfähigkeit sinken. 2,5 Billionen Dollar seien nötig, um Amerikas Infrastruktur wieder in Schwung zu bringen, schätzen die Ingenieure.
Die Wirklichkeit sieht anders aus. Gerade einmal 357 Millionen Dollar stellte
das US-Transportministerium in den
letzten vier Jahren für Reparaturen an 25
Häfen zur Verfügung. Und selbst wenn
+
portieren – „und das kostet natürlich
Geld“, sagt Captain Don.
Tatsächlich werden die meisten Güter
in den USA noch immer auf dem Wasser
transportiert: 70 Prozent aller Importe
und 75 aller Exporte gehen durch die Hä-
WIRTSCHAFTSFAKTOR
WASSERWEG
Die Binnenschifffahrt spielt in den USA
bis heute eine zentrale Rolle. Auf einem
Wasserwegenetz von insgesamt
17.700 Kilometern werden jedes Jahr
rund zwei Milliarden Tonnen Fracht
umgeschlagen. In den USA gibt es
rund 300 Binnenhäfen und 250
Schleusen. Zum Vergleich: Deutschland
verfügt über 7300 Kilometer an Binnenwasserstraßen, 67 Binnenhäfen und
immerhin 335 Schleusen. Hier wurden
im Jahr 2012 insgesamt 223,2 Millionen
Tonnen an Gütern transportiert. Der
Rhein, die verkehrsreichste Wasserstraße Europas und nach dem Mississippi River eine der verkehrsreichsten
der Welt, zieht sich in einer Gesamtlänge von 1233 Kilometern quer durch
Europa. Er hat ein Transportaufkommen von insgesamt 237 Millionen Tonnen im Jahr.
Der Mississippi ist für seine riesigen
Transportmassen bekannt. Auf dem
Fluss verkehren einige der weltweit
größten Schubverbände. Das sind
Baukastensysteme, die aus mehreren
Frachtkähnen bestehen, aber nur von
einem einzigen Schubschiff angetrieben werden. Teilweise kommen diese
Verbände auf eine Tragkraft von über
100.000 Tonnen. rid
fen an der Ost- und der Westküste. Allein auf dem Mississippi wird der Großteil des amerikanischen Getreides bewegt, außerdem Kohle, Öl und Chemikalien. Die Zahl der Schiffe, die Amerikas
Häfen anlaufen, nimmt jedes Jahr zu;
ebenso ihre Größe: Ab 2015, wenn die Erweiterung des Panamakanals abgeschlossen ist, werden noch längere, noch
tiefere, noch breitere Schiffe an den
Docks anlegen. Doch bislang sind nur
sieben US-Häfen darauf ausgerichtet,
diese Schiffe aufzunehmen. „Die Probleme werden mit jedem Jahr größer, in
dem die Häfen nicht umgerüstet werden“, sagt Ökonom Kemmsies.
Amerikas marode maritime Infrastruktur hinterlässt erste wirtschaftliche
Spuren. Im Hafen von New Orleans sanken im letzten Jahrzehnt die US-Getreideexporte von 60 auf 46 Prozent. Eine
Entwicklung, die auch Roy Hauck mit
Sorge betrachtet. Hauck ist Vizepräsident von Belle Chasse Marine, einem
Wassertaxi-Service in New Orleans. Die
Hafenfähren bringen Crews, Schiffsmakler, Lotsen, Ingenieure, Zoll- und Grenzschutzbeamte auf Frachtschiffe und holen sie ab, sie liefern Frischwasser und
Ersatzteile; Bunkerboote bringen Benzin
und Schmieröl. „Noch ist unser Geschäft
nicht direkt betroffen“, sagt Hauck.
„Aber das könnte sich mittelfristig ändern. Weil der Schlepperverkehr auf dem
Mississippi und vor dem Hafen von New
Orleans so langsam und teuer geworden
ist, werden Unternehmen ihre Fracht zunehmend auf alternativen Wegen transportieren, zum Beispiel per Bahn.“
Bereits heute rangieren die USA auf
der Infrastruktur-Rangliste des World
Economic Forum auf Platz 25, nach Ländern wie Barbados und Südkorea.
Deutschland liegt auf Platz neun. Ganz
vorne sind die Schweiz, Singapur, Hongkong und Finnland. Kemmsies ist nicht
überrascht, dass viele ehemalige Infrastruktur-Musterschüler wie Deutschland, die USA oder auch Japan ins Straucheln kommen. „Was diese Länder gemeinsam haben, ist ihre rasant alternde
Bevölkerung. Dort fließt ein Großteil der
öffentlichen Gelder in Renten- und Gesundheitsfonds.“ Mittel, die den dringend notwendigen Infrastrukturprojekten abgehen. In den USA gibt es bereits
Überlegungen, Gelder aus öffentlichen
Rentenfonds statt in Staatsanleihen in
Infrastrukturprojekte zu investieren.
Schlepperkapitän David Bracken will
nicht zu viel über Politik nachdenken.
„Ich versuche, mit dem Strom zu
schwimmen“, sagt er und zuckt mit den
Schultern, während sich die „Captain
Hagen“ wieder in Bewegung setzt, Richtung New Orleans und dann in den Golf
von Mexico. Wie langsam der Strom
auch immer fließt.