Das Osesp unter Marin Alsop in Zürich

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Das Osesp unter Marin Alsop in Zürich
Codex Flores
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14 October 2013
Das Osesp unter Marin Alsop in Zürich
Von Wolfgang Böhler
In den letzten eineinhalb Jahrzehnten hat das Orquestra Sinfônica de Estado de São
Paulo (Osesp) der brasilianischen Wirtschaftsmetropole São Paulo Anstrengungen
unternommen, um Profil und Resonanz zu gewinnen. Der gebürtige Carioca John
Neschling, der zuvor Chefdirigent des Sinfonieorchesters St. Gallen und musikalischer
Oberleiter am Stadttheater St. Gallen war, hat dabei eine Schlüsselrolle gespielt.
Neschling und das Orchester haben sich allerdings im Streit getrennt, der Dirigent ist
heute Künstlerischer Leiter des Stadttheaters von São Paulo. Mit der amerikanischen
Dirigentin Marin Alsop hat das Ensemble heute aber eine Leiterin, die sich als eine der
wenigen (wenn nicht einzige) Frau in dem Metier international dauerhaft hat durchsetzen
können und dem Klangkörper internationale Aufmerksamkeit verschafft.
Die Tonhalle Zürich vermag das opulent besetzte Orchester kaum zu fassen, und bis
kurz vor Konzertbeginn im Rahmen der Reihe Meisterinterpreten probt es im Saal noch,
um sich an die offenbar ungewohnt engen Verhältnisse anzupassen. Um dies
vorwegzunehmen: Man war überrascht, wie transparent und dynamisch stimmig sich der
Klangkörper bei aller akustischen Fülle präsentierte, und wie schnell er jeweils nach kurz
hörbaren Registerkalibrierungen in der Koordination zu stupender Präzision fand ‒
sowohl in Beethovens viertem Klavierkonzert (wo die Hörner zunächst die Intonation
feinabzustimmen hatten) als auch in Mahlers erster Sinfonie, wo Streicher und Bläser in
den kaum von einem rhythmischen Puls definierten Pianissimo-Flächen sich zunächst
synchronisieren mussten.
Als erstes gab’s aber mal einen höchst vergnüglichen Einstieg mit «Terra Brasilis», einer
frechen «Fantasie über die brasilianische Nationalhymne für Orchester» der mit allen
musikalischen Wassern gewaschenen Clarice Assad, der Tochter des Gitarristen und
Komponisten Sergio Assad. Von ihr wird man auch hierzulande zweifellos noch einiges
hören, so souverän und vital sie mit dem grossen Orchesterapparat umzugehen versteht
und so geschickt sie kompositorischen Einfallsreichtum mit strukturellem Formgefühl und
ästhetischer Zugänglichkeit zu kombinieren vermag.
Fürs Klavierkonzert gesellte sich der Pianist Nelson Freire zum Orchester ‒ zu einer
Sternstunde der Beethoven-Interpretation. Orchester und Solist durchdrangen das Werk
mit genauso viel Energie wie Transparenz und Delikatesse und hoben es über
Diskussionen über konservatives und historisch informiertes Interpretieren weit hinaus in
eine Sphäre allgemeingültiger Gestaltungsprinzipien und expressiver Zeitlosigkeit. Der
zweite Satz, in dem Nelson das Kunststück vollbrachte, die Zeit fast zum Stillstehen zu
bringen und dabei die Innenspannung hochzuhalten, war sicherlich einer der Höhepunkte
des Abends ‒ atemraubend. Den zerstörte Freire auch nicht mit einer appellativen
Zugabe. Das ästhetische Statement bekräftigte er vielmehr mit einer Wiedergabe von
Bachs Choral «Jesu bleibt meine Freude», einem Paradestück von Pianisten alter Schule.
Man glaubte, Dinu Lipatti grüsse von weitem.
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So hoch wurde da künstlerisch die Latte gelegt, dass die Erwartungen an die Wiedergabe
der Mahler-Sinfonie möglicherweise zu hoch gingen. Als es um den entspanntwienerischen, grotesken und ironisch-morbiden Sinfoniker ging, erwies sich Alsops
athletisch-aufsässig wirkende gebückte Körpersprache als wenig empathisch. Zwar
zeigte der Klangkörper auch hier hohe Orchesterkultur, solistische Potenz und
klangliches Feingefühl. Sein Mahler schien aber doch recht vordergründig, die
hintersinnigen Partien (vor allem im zweiten Satz) unausgelotet.
Als Orchesterzugaben gab’s noch eimal zwei Stücke der «Terra Brasilis»-Machart, als
erstes ein freches Choro für grosses Ochester mit Fagott-, Posaunen- und Flötensoli, das
sich gewaschen hat und historische Versuche an die Popularkultur Brasiliens
anzuknüpfen ‒ man denke an Milhauds «Le boeuf sur le toit» ‒ buchstäblich alt
aussehen lässt. Man geht kein grosses Wagnis ein, wenn man dem Osesp zutraut, in der
Entwicklung
einer
zeitgemässen,
global
kompetitiven
lateinamerikanischen
Orchesterkultur ein führende Rolle einzunehmen, aber auch eine wichtige
Botschafterrolle für die jüngere Komponistengeneration des Landes zu spielen. (wb)
13. Oktober 2013, Tonhalle Zürich: Orquestra Sinfônica de Estado de São Paulo (Osesp),
Marin Alsop (Leitung), Nelson Freire (Klavier). Clarice Assad: «Terra Brasilis» – Fantasie
über die brasilianische Nationalhymne für Orchester, Ludwig van Beethoven:
Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur op. 58, Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 1 D-Dur «Titan».
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