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R EI S E M A G A Z IN
Seelenwanderung – Shikoku zu Fuß
Eine Wanderung zu 88 Tempeln. Achtundachtzig! Das sind rund 1200
Kilometer über Berg und Tal. Und ein Pilgerpfad, der es in sich hat.
Von Axel Weidemann
1 Rauer Asphalt und sanfte Hügel: Auf der Suche nach der verlorenen Langsamkeit
B
is zum 13. Tempel geht alles gut.
Dann verschwindet das gesamte Kartenmaterial im Nichts.
Die Konsequenz stellt sich umgehend in einer sechsstündigen
Kreiswanderung ein, derweil sich die neuen Schuhe tief in die
Fersen fressen. Hinzu kommt, dass ich meine Unterkunft in
Tokushima nicht verlängern kann. Und überhaupt halten sich
mein Mut und Wille zur Kommunikation auf Japanisch noch in
beängstigenden Grenzen.
Tempel 1 bis 22: Allmähliches Erwachen
Zugegeben, die ersten kleinen Hürden auf meinem Weg zu den
88. Tempeln von Shikoku schwächen die Moral ein wenig. Aber
wer wird denn gleich unruhig werden? Einfach nur einen Fuß
vor den anderen setzen. Das ist im Grunde alles, was von mir in
den nächsten rund 40 Tagen verlangt wird.
So lässt sich denn auch das verlorene Kartenmaterial im Pilgershop des ersten Tempels erneut erwerben.
Was bitte? Ein Pilgershop. Allerdings. Religion ist – wie
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fast überall – auch auf dem Weg zu den 88 Tempeln Shikokus
ein durchdachtes Geschäftsmodell. Jedes Tempelsiegel kostet
umgerechnet seine 2,50 Euro und das Pilgeroutfit samt Hut mag
um die 90 kosten. Gut, dass es da ein jeder angehen kann, wie
er will.
Diese und ähnliche Gedanken begleiten einen auf den ersten Schritten. Noch lenkt man sich mit all dem Neuen ab, das
zu beiden Seiten des fremden Pfades auf den Reisenden wartet.
Wer aber allein geht, merkt – so er sich zu dem Luxus durchgerungen hat, auf Smartphone und Notebook zu verzichten – dass
er nun wirklich einmal mit sich allein ist. Was uns im Alltag
von dem ablenkt, das uns unweigerlich zu Menschen in jeder
Hinsicht macht, beginnt sich allmählich Gramm für Gramm auf
den Schultern des Wanderers abzulagern.
Schön ist das nicht. In solchen Momenten schimmert nicht
selten immer stärker die ganze ehrliche Hässlichkeit eines Egos
durch, das gleichsam so aufgeblasen wie unfertig ist. Aber nun
ist da niemand, bei dem man ein wenig nach Komplimenten
durch Shikoku, um dort an bestimmten Stellen und heiligen
Orten seine in China erlernten Kenntnisse im Shingon-Buddhismus zu praktizieren. Der erste Vermerk zur Pilgerfahrt mit
all ihren 88 Haupt- und 20 Nebentempeln innerhalb Shikokus,
taucht jedoch erst im 12. Jahrhundert auf.
Ich befinde mich auf dem Weg zum 24. Tempel. Die Nacht
habe ich auf einer kleinen Insel namens Deba-Jima verbracht.
Im „Shanti-Shanti Guesthouse“ bei Kazu-san. Kazu-san ist leidenschaftlicher Surfer und mindestens einmal im Jahr in Hawaii
anzutreffen. Früher war er einer von vielen „Sarari-Männern“ in
den überfüllten Zügen Osakas. Jetzt betreibt er auf der autofreien 150 Seelen-Insel
eine kleine Pension in
seinem windschiefen
Haus und bewirtet seine
Gäste mit fantastischem
Eintopf und dem wundervollem Flötenspiel
auf seiner Shaku-Hachi.
Ein kleiner Bus-Ritt
am nächsten Tag lässt
mich ein wenig Zeit
schinden, so dass der Rest meiner Reise in entspanntem Tempo
von statten gehen kann. Diesen Kniff werde ich bis nach dem
stürmischen Kap Ashizuri noch vereinzelt wiederholen. Bei den
vielen Bus-, Motorrad- und Autopilgern wird Kūkai wohl nichts
dagegen haben.
Es ist nach einem Taifun-artigen Sturmtag und dem Besuch
des 38. Tempels Kongōfukuji am Kap Ashizuri, als ich mich
aufmache, um über den Matsuo-Pass in die Präfektur Ehime zu
wandern: Das Dōjo der Erleuchtung. Der Himmel nach diesem
Sturm gehört zu den schönsten und strahlendsten, die mir während der gesamten Wanderung begegneten.
Die Mandarinen-Haine auf den noch grünen Hügeln leuchten in der Nachmittagssonne und der Himmel bedeckt sein Bild
nur spärlich mit Wolken. Vor allem diese Momente sind es, die
mich während des Wanderns für den Bruchteil einer Sekunde
an nichts anderes denken lassen. Da ist man wunschlos zufrieden mit sich und der Welt.
Ohnehin lernt man wieder, wie fantastisch eine einfache
Mandarine schmecken kann, die man von einem freundlichen
fischen kann und das allabendliche japanische Fernsehprogramm auf dem Bildschirm (so vorhanden) im leeren Zimmer
der kleinen Gasthäuser bietet auch wenig Zerstreuung.
Aber auch die schönen Momente lassen nicht lange auf sich
warten. Wer beispielsweise mit der Morgensonne im Rücken
den steilen Aufstieg zum Tempel Nummer 20, dem „Tempel
des Kranichhaines“ bewältigt, erhebt sich allmählich aus der
zersiedelten Stadtlandschaft der ersten Tage. Weit geht der Blick
in die Täler und über die üppig bewaldeten Hügel Shikokus und
die Vorfreude auf alles Kommende gewinnt leicht die Überhand
über so manch negativen Gedanken. Nur die neuen Schuhe
drücken immer noch.
Tempel 23 bis 44: Askese und Erleuchtung
Die Zeit! Es ist der achte Tag meiner Wanderung. Um den 15.
Dezember will ich wieder in Tokyo sein. „Schaffe ich das?“ Die
Gedanken an das rechte „Zeitmanagement“ sind schwer abzuschütteln. Der Plan war, „alles zu Fuß!“ Doch dafür bräuchte ich
50 Tage, wenn es kein Gewaltmarsch werden soll. Jeder Abend
kostet allerdings sein Sümmchen. Was tun? Nun gut. Ein paar
Abstriche bei Ehrgeiz, Ruhm und Ehre, aber dafür die Einsicht,
dass eine solche Reise einen entspannten Geist benötigt.
Mittlerweile bin ich in Kochi angelangt, der historischen
Provinz Tosa — dem Dōjo der Askese. Der heutige Pilgerweg
führt durch alle vier Präfekturen Shikokus. Jede ist mit einer
speziellen Stufe auf dem Weg des Pilgers verbunden. Der Beginn
der Reise wird in der Regel am ersten Tempel, dem Ryōzenji in
Tokushima in der historischen Provinz Awa unternommen. Hier
durchläuft der Pilger das Dōjo des spirituellen Erwachens. Dann
geht es der Reihe nach durch Kochi und Ehime – dem Dōjo der
Erleuchtung – schließlich nach Kagawa, früher bekannt als
Sanuki. Dort wartet das Dōjo des Nirvana.
Man nimmt an, dass die Pilgerroute in ihrer Urform im 9.
Jahrhundert durch den in ganz Japan bekannten Mönch Kūkai
(postum Kōbo Daishi) ins Leben gerufen wurde. Dieser reiste
Auf den Spuren von Kūkai:
Shikokus 88 Tempel
81
72 77 78 80 82
84 85
79
71 73
83
68 69 70 74 76
86
Kagawa
67
75
88 87
54 55
53 56
52
51 57 59 62
63 64
50 49 58 61
48
60
Ehime 47
46
44 45
43
65 66
12
30
42
41
Kouchi
35 34
31
33
32
36
37
40
39
8 7
4
2 1
6 5 3
10 9
11
13 14 15
29
17
16
20
Tokushima 21
28
18
19
22
23
27
26
25
24
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1 Kraft schöpfen: Abendsonne am Ryūkoin in Uwajima
Bauern am Wegesrand in die Hand gedrückt bekommt.
Das Höchste ist und bleibt allerdings das heiße Bad am
Abend. Darüber kommt nur noch der Himmel.
Tempel 45 bis 66:
Nicht zusammenbrechen
Endlich. Ich habe einen Rhythmus gefunden. Meinen Rhythmus. Die Strecke ab Ainan in der Präfektur Ehime lässt sich
nun spielend bis zum 15. Dezember bewältigen. Ohne, dass
ich jeden Tag meine 40 Kilometer abreißen muss. Es sind sogar
Polstertage für die Stadt Matsu­yama mit ihrem wundervollen
Dōgo Onsen eingeplant.
Die Schuhe sind zwar immer noch nicht eingelaufen, aber
mit ein paar Verbänden lässt es sich aushalten. Man muss nur
lange genug laufen und ab und zu die Zähne zusammenbeißen.
Auch an den Tempeln habe ich nun Muße. Das Prozedere
braucht eine Weile. Doch mit der Zeit gewann auch dies für
mich an Bedeutung. Obgleich es jeder für sich frei entscheiden
kann und sollte, es gehört doch irgendwie dazu – und sei es nur
aus Respekt vor dem Weg.
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Mittelpunkt des Tempelbesuches und der ganzen Pilgertour ist die Rezitation des Herz-Sutras. Ein abgekürztes Sutra
von 266 Zeichen, das obgleich seiner Kürze, zusammengefasst
alle Lehren Buddhas in sich vereint. Und genau dies macht die
ganze Angelegenheit, obgleich oder gerade aufgrund seiner
Dichte, wieder extrem kompliziert. Vorher und nachher wird
sich vielfach verbeugt, diverse Glocken geläutet und ein paar
Münzen in den Opferstock geworfen. Das kann eigentlich jeder,
ganz gleich ob Christ oder Buddhist.
Langsam aber sicher nähere ich mich auch dem letzten
Abschnitt meiner Reise. Doch der Einzug ins letzte Dōjo ist
beschwerlich. Vor dem 66. Tempel wartet noch einmal ein
berüchtigter „Henro-Korogashi“ – damit wird ein Streckenabschnitt bezeichnet, auf dem der Pilger „zusammenbricht“. Auf
dem „Wolkenkanten“-Berg an der Grenze zur Präfektur Kagawa,
dem Dōjo des Nichts, erfahre ich – neben einem Aufstieg, der
es in sich hat – noch einmal die gesamte Ladung Wetter, die
ein launischer Berg im Herbst heraufzubeschwören weiß. Mit
Regencape und Strohhut samt Schutzhülle, sehe ich aus wie ein
wandelndes blaues Zelt. Von außen klatscht mir der Regen ins
Fotos: Axel Weidemann
Gesicht. Von innen durchnässt mich der Schweiß.
Enttäuschung mit.
Es ist so kalt geworden, dass ich während der letzten SutraRezitation nur noch an die heiße Schale voller dampfender
Udon-Nudeln denken kann, die wir uns nach dem Tempelbesuch versprochen haben. Diese schmeckt dann aber dafür
auch nach Sieg. In gelöster Stimmung geht es im Auto zu einem
nahegelegenen Onsen. Im warmen Wasser lässt man die Reise
in Teilen noch einmal an sich vorbei ziehen. Doch es sind nur
Ausschnitte von etwas, das erst noch reifen muss, bevor man es
hinreichend erfassen und rekapitulieren kann.
Als wir gemeinsam zum allerersten Tempel fahren, um den
Kreis zu schließen, malt der Himmel zur rechten ein goldenes
Bild von durch die Wolken brechenden Sonnenstrahlen. Und
ich staune nicht schlecht, als ich zur linken den Schimmer eines
Regenbogens über dem Grat der langen Hügelkette im Norden
erkenne.
„Das ist ein Geschenk für uns. Wir haben es geschafft“, sage
ich zu Yamada-san. „Das kann man wohl so sagen“, antwortet er.
Jetzt sind auch die Schuhe endlich eingelaufen. Es könnte
weitergehen. n
Tempel 67 bis 88: Der Kreis schließt sich
Wandergefährten. Sie sind wieder weniger geworden, die FußPilger, aber man trifft sie noch. In meinem Fall in Form von
Yamada-san, der mich von nun an auf dem letzten Weg-Stück
zum 88. Tempel begleiten wird. Zusammen wandert es sich einfach leichter und speist es sich gemütlicher.
Mittlerweile ist es herbstlich geworden. Die ehemals grünen Hügel tragen ihr prachtvolles Herbstkleid und haben die
Häupter teilweise schon mit Schnee bedeckt. Am 36. Tag mache
ich mich zusammen mit Yamada-san auf den Weg zum letzten
Wegstück, das uns zum letzten Tempel führen soll. Wir entscheiden uns für die schnelle, aber steile Route. Wenn unsere
schöne Wanderzeit nun schon so bald zu Ende gehen soll, dann
wollen wir wenigstens noch mal ordentlich gefordert werden.
Als der letzte Gipfel erklommen ist, wird der Blick frei
in das Tal, in dem der Ōkuboji liegt, die Nummer 88. Meine
Gefühle sind gemischt. Diese Ankunft hat man sich schon oft
ausgemalt. Immer anders. Und nun schwingt doch ein bisschen
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