Radbruchsche Formel - Lehrstuhl für Rechts

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Radbruchsche Formel - Lehrstuhl für Rechts
Dietmar von der Pfordten Vorlesung: Einführung in die Rechts- und Sozialphilosophie
WS 2005/06
2. Vorlesung: Die Radbruchsche Formel
I. Einige Grundbegriffe
Die Radbruchsche Formel bezieht sich auf das Grundproblem der Rechtsethik, auf
das Verhältnis von positivem Recht zu überpositiver Gerechtigkeit. Zum Verständnis müssen deshalb zunächst einige Grundbegriffe erklärt werden:
Positives Recht: tatsächlich bestehendes, von Menschen gesetztes, empirisch feststellbares Recht, also: formelle Gesetze, materielle Gesetze (=Verordnungen + Satzungen), Verwaltungsakte, Gerichtsurteile (Richterrecht), Gewohnheitsrecht.
Überpositive Gerechtigkeit: Alternativen: Moral, Ethik, Naturrecht
(1) Moral = tatsächlich bestehende nichtrechtliche Normen in einer Gesellschaft: z.
B. das Lügenverbot
(2) Ethik = Kritik und Rechtfertigung von Moral und Recht
(3) Naturrecht = klassische Vorstellung eines überpositiven, nicht von Menschen
gesetzten und nicht empirisch feststellbaren „Rechts“, das Maßstab für das positive
Recht ist (z. B. die zehn Gebote, die Moses von Gott erhalten hat)
Rechtspositivismus: enthält zwei Thesen:
(1) Nur positives Recht ist Recht. Daraus folgt: Es gibt kein Naturrecht.
(2) Positives Recht ist Recht ohne Gerechtigkeit.
Nichtpositivismus:
(1) Starke Naturrechtsversion: Es gibt ein nichtpositives Recht, das Naturrecht.
(2) Schwache Nichtnaturrechtsversion: Positives Recht bedarf als Recht der Gerechtigkeit.
Diese Bestimmungen erfordern natürlich noch eine Verfeinerung und Konkretisierung, z. B. muß geklärt werden, was „Natur“ ist, was „bedarf“ heißt etc.
II. Die Infragestellung des positiven Rechts
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Die Rechtsethik fragt nach der Gerechtigkeit des positiven Rechts. Bevor näher
erörtert wird, was „Gerechtigkeit“ heißen kann, soll eine Anwendung behandelt
werden: Was folgt, wenn wir geltendes positives Recht (also vor allem Gesetze) für
ungerecht halten?
Die Gerechtigkeit von Gesetzen wird natürlich im Alltag häufig strittig sein, etwa
bei politisch umkämpften Steuergesetzen. Das kann noch keinen Zweifel an ihrer
Geltung oder ihrem Rechtscharakter begründen. Aber was ist mit stark oder gar
extrem ungerechten Gesetzen, wie z. B. den Rassegesetzen der Nationalsozialisten?
Nach 1945 mußten die Gerichte in einigen Verfahren entscheiden, wie mit derartigen Gesetzen oder sonstigem Recht zu verfahren sei. Sie erklärten derartiges extrem ungerechtes Recht in einigen Fällen für ungültig und beriefen sich dabei auf die
sog. „Radbruchsche Formel“, eine Passage aus einem Aufsatz mit dem Titel „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“, den Gustav Radbruch 1946 veröffentlicht hatte:1
„Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu
lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann
den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn
daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches
Maß erreicht, daß das Gesetz als „unrichtiges Recht“ der Gerechtigkeit zu weichen
hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen;
eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo
Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde,
da ist das Gesetz nicht etwa nur „unrichtiges Recht“, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“
Bevor näher auf diese Radbruchsche Formel eingegangen wird, sei Gustav Radbruch und seine Rechtsphilosophie vorgestellt:
III. Gustav Radbruch (1878-1949)
Gustav Radbruch war neben Hans Kelsen wohl der bedeutendste deutschsprachige
Rechtsphilosoph des 20. Jahrhunderts. Seine „Rechtsphilosophie“ hat Generationen von Jurastudenten und Juristen begleitet und ist zum Klassiker geworden.
Nachdem sie in der 1. Auflage 1914 noch als „Grundzüge der Rechtsphilosophie“
erschienen war, erhielt das Buch ab der 2. Auflage von 1932 den Titel „Rechtsphilosophie“. Das Buch ist 1999 wieder in einer preiswerten Taschenbuchausgabe bei
UTB erschienen, herausgegeben von Ralf Dreier und Stanley Paulson (eine Anschaffung fürs Leben bzw. ein ideales Weihnachtsgeschenk).
1 Abgedruckt in: Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, Studienausgabe, hg. von R. Dreier und St. Paul-
son, Heidelberg 1999, Anhang S. 216.
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Gustav Radbruch wurde 1878 in Lübeck geboren. Er studierte in München, Leipzig
und Berlin, wo er 1901 das erste jur. Staatsexamen bestand. Schon 1902 promovierte er mit der Schrift „Die Lehre von der adäquaten Verursachung“ bei dem Strafrechtler Franz von Liszt. Und bereits 1903 legte er der Heidelberger Fakultät eine
Habilitationsschrift mit dem Titel „Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für
das Strafrechtssystem“ vor. Mit 25 Jahren war er Privatdozent. Allerdings erfolgte
dann erst 1914 der Ruf auf ein Extraordinariat in Königsberg. Diese Lehrtätigkeit
war aber von kurzer Dauer, weil Radbruch bald am 1. Weltkrieg teilnahm. Von
1919 bis 1926 war Radbruch dann ordentlicher Professor in Kiel und ab 1926 wieder in Heidelberg.
Neben dieser wissenschaftlichen Tätigkeit stand eine politische. 1913 hatte Radbruch am Begräbnis von August Bebel in Basel teilgenommen. Er trat 1919 in die
SPD ein und war damit einer der ganz wenigen sozialdemokratischen Hochschullehrer der damaligen Zeit. Von 1920 bis 1924 war er Mitglied im Reichstag und
zwischen 1921 und 1923 zweimal Reichsminister der Justiz. Herausragend ist sein
reformerischer „Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches“ von
1922.
Am 8. Mai 1933 wurde er nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten
aufgrund des Gesetzes über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.
April entlassen. Er blieb in Deutschland, mußte aber weitgehend im Ausland publizieren. Ein Ruf ins Ausland und verschiedene Reisen wurden ihm verwehrt, aber er
konnte 1935/36 ein Jahr in Oxford verbringen.
1945 kehrte Radbruch auf seinen Lehrstuhl in Heidelberg zurück und wurde Dekan
der Juristischen Fakultät. Er veröffentlichte noch einige kleinere Beiträge zur
Rechtsphilosophie, u.a. die schon erwähnte Schrift „Gesetzliches Unrecht und
übergesetzliches Recht“ (1946).
Radbruch war weder dezidierter Naturrechtler noch Rechtspositivist. Seine Rechtsphilosophie enthält in den Grundlagen nichtpositivistische Elemente, während sich
zwei Anwendungsgesichtspunkte positivistisch deuten lassen.
Radbruchs Denken wurde durch den sog. Neukantianismus geprägt, eine Wideraufnahme der Philosophie Kants, die allerdings in verschiedener Hinsicht weit über
Kant hinausging und auch hegelianische und platonische Elemente enthielt. Der
Neukantianismus wird in eine Marburger und eine Heidelberger Schule eingeteilt.
Radbruch wurde durch den Heidelberger Neukantianismus geprägt, insbesondere
durch Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert und Emil Lask. Aber es gibt auch
Marburger Einflüsse, vor allem durch Rudolf Stammler bezüglich der Rechtsidee.
Alle Spielarten des Neukantianismus unterscheiden klar zwischen Sein und Sollen
(Methodendualismus), wobei für den Heidelberger Neukantianismus die Fassung
dieses Dualismus mit Hilfe des Wertbegriffs entscheidend wurde. Naturwissenschaftliche Tatsachen sind wertfrei, Ethik oder Ästhetik bewertend. Dazwischen
gibt es aber noch ein Drittes: die Kultur. Kultur ist die Gegebenheit, die den Sinn
hat, Werte zu verwirklichen. Das Recht ist Kulturtatsache, also wertbezogen: „Der
Rechtsbegriff kann nicht anders bestimmt werden denn als die Gegebenheit, die
den Sinn hat, die Rechtsidee zu verwirklichen. Recht kann ungerecht sein, aber es
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ist Recht nur, weil es den Sinn hat, gerecht zu sein.“2 Die Rechtsidee ist der Wert,
das Recht aber wertbezogene Wirklichkeit, Kulturerscheinung.
Die Rechtsidee kann nun aber keine andere sein, als die Gerechtigkeit. Soweit ist
Radbruchs Lehre eindeutig nichtpositivistisch im Sinne der schwachen Version,
daß positives Recht der Gerechtigkeit bedarf.
Allerdings stellt sich natürlich die Frage, wie die Gerechtigkeit zu bestimmen ist.
An dieser Stelle vertritt Radbruch eine Position, die den Nichtpositivismus
schwächt. Nach seiner Auffassung zerfällt die Gerechtigkeit in drei Alternativen:
Gerechtigkeit im engeren Sinne (v. a. formale Gleichheit), Zweckmäßigkeit und
Rechtssicherheit. Während die Gerechtigkeit im engeren Sinne als formale Gleichheit nur die Form des Rechts ausmacht, bedarf der Inhalt des Rechts Zweckmäßigkeitserwägungen. Hierzu kann man Individual-, Kollektiv- und Werkwerten folgen,
zwischen denen eine eindeutige Entscheidung nicht möglich ist. Das bedeutet aber:
Ein wesentliches Element der Gerechtigkeit im weiteren Sinne als Bezugspunkt des
Rechts ist nicht absolut und eindeutig zu bestimmen. Dies eröffnet zwei Spielräume
für den Aspekt der Rechtssicherheit und damit nach Ansicht mancher Autoren für
rechtspositivistische Elemente in der Anwendung:
(1) Zum einen im Hinblick auf die generelle Legitimation zur Rechtssetzung: „Wer
Recht durchzusetzen vermag, beweist damit, daß er Recht zu setzen berufen ist.“3
Das bedeutet natürlich nicht, daß die Rechtssetzung ohne Bezug zur Gerechtigkeit
erfolgen darf. Die Gewährleistung der Rechtssicherheit wird nur zur notwendigen
Voraussetzung. Es wird aber nicht die rechtspositivistische These vertreten, daß die
Rechtsdurchsetzung schon genügt, also bereits hinreichend ist. Es wird nicht behauptet, daß kein Bezug zur Gerechtigkeit für das Recht nötig ist.
(2) Zum anderen im Hinblick auf die Rechtsbefolgung: Radbruch gestand dem einzelnen Bürger bei „Schandgesetzen“ zu, mit Verweis auf sein Gewissen den Gehorsam zu verweigern. Allerdings – und dies ist das einzige tatsächlich positivistische Anwendungselement in seiner Theorie – sollte der Richter auch gegen sein
Gewissen das Recht anwenden. Die berühmte Passage lautet:
„Für den Richter ist es Berufspflicht, den Geltungswillen des Gesetzes zur Geltung
zu bringen, das eigene Rechtsgefühl dem autoritativen Rechtsbefehl zu opfern, nur
zu fragen, was Rechtens ist, und niemals, ob es auch gerecht sei. Man möchte freilich fragen, ob diese Richterpflicht selbst, dieses sacrificium intellectus, diese
Blankohingabe der eigenen Persönlichkeit an eine Rechtsordnung, deren künftige
Wandlungen man nicht einmal ahnen kann, sittlich möglich ist. Aber wie ungerecht
immer das Recht seinem Inhalt nach sich gestalten möge – es hat sich gezeigt, daß
es einen Zweck stets, schon durch sein Dasein, erfüllt, den der Rechtssicherheit.
Der Richter, indem er sich dem Gesetz ohne Rücksicht auf seine Gerechtigkeit
dienstbar macht, wird also trotzdem nicht bloß zufälligen Zwecken der Willkür
2 Rechtsphilosophie, Studienausgabe S. 12.
3 Rechtsphilosophie, Studienausgabe S. 82.
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dienstbar. Auch wenn er, weil das Gesetz es so will, aufhört, Diener der Gerechtigkeit zu sein, bleibt er noch immer Diener der Rechtssicherheit. Wir verachten den
Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der
sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue nicht beirren
läßt; denn das Dogma hat nur als Ausdruck des Glaubens, das Gesetz aber nicht
nur als Niederschlag der Gerechtigkeit seinen Wert, sondern auch als Bürgschaft
der Rechtssicherheit, und vornehmlich als solches ist es in die Hand des Richters
gegeben.“4
Angesichts der Gefahr nicht gesetzestreuer Richter in der Weimarer Republik war
diese Haltung verständlich. Aber sie konnte zu blindem Rechtsgehorsam, zur
Rechtsanwendung ohne Gerechtigkeit führen. Zudem mangelt es an der Unterscheidung zwischen einer rechtlichen und einer ethischen Pflicht zum Rechtsgehorsam.
IV. Die Radbruchsche Formel
Die Textpassage aus dem Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches
Recht“, die dann zur Radbruchschen Formel wurde, sei noch einmal zitiert:
„Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu
lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann
den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn
daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches
Maß erreicht, daß das Gesetz als „unrichtiges Recht“ der Gerechtigkeit zu weichen
hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen;
eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo
Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde,
da ist das Gesetz nicht etwa nur „unrichtiges Recht“, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“
Man kann in dieser Passage drei Stufen der Beurteilung des positiven Rechts als
ungerecht unterscheiden:
1. Recht, das inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist. Dieses Recht verdient den
Vorrang vor aller rechtsethischer Kritik. Es bleibt in jedem Fall gültiges Recht.
2. Recht, bei dem der Widerspruch zur Gerechtigkeit aus einer objektivierenden
Perspektive ein „unerträgliches Maß“ erreicht, so daß das Recht als „unrichtiges
Recht“ seine Geltung verliert. Es wird also nach wie vor als Recht angesehen, aber
4 Rechtsphilosophie, Studienausgabe S. 85.
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es ist kein geltendes Recht mehr und darf nicht mehr angewandt und befolgt werden.
3. Recht, bei dem Gerechtigkeit nicht einmal subjektiv erstrebt wird, wo also der
Rechtssetzer nicht einmal die Absicht hat gerechtes Recht zu schaffen. Dieses
Recht entbehrt überhaupt der Rechtsnatur. Diesem Recht fehlt nicht nur die Geltung, wie einem Gesetz, das noch nicht in Kraft oder außer Kraft getreten ist. Es
ist überhaupt kein „Recht“, sondern allenfalls „Unrecht“, „Macht“, „Gewalt“,
„Herrschaft“ usw.
Die Rechtsprechung und auch manche Theoretiker haben nicht zwischen der zweiten und dritten Alternative unterschieden, obwohl Radbruch die Unterscheidung
eindeutig ausgesprochen hat. Sie liegt angesichts von Radbruchs Rechtsphilosophie
auch auf der Hand. Wenn Recht nur dasjenige ist, bei dem der Rechtssetzer nach
Gerechtigkeit strebt, so ist klar, daß beim Fehlen einer derartigen subjektiven Intention des Rechtssetzers kein Recht besteht, sondern nur „Macht“ oder „Gewalt“.
In welchen Fällen hat die Rechtsprechung die Radbruchsche Formel angewandt?
Berühmt geworden ist ein Fall, in dem die zwangsweise Ausbürgerung jüdischer
Mitbürger durch die Nationalsozialisten für ungültig erklärt wurde (BVerfGE 6, 98
(106)). Hintergrund war die Frage, welches Erbrecht entsprechend der Staatsangehörigkeit anzuwenden war.
Die Ausbürgerung stützte sich auf § 2 der 11, Verordnung zum Reichsbürgergesetz
vom 25. 11. 1941:
Ein Jude verliert die deutsche Staatsangehörigkeit
a) wenn er bei Inkrafttreten dieser Verordnung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im
Ausland hat, mit Inkrafttreten der Verordnung
b) wenn er seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort im Ausland hat, mit der Verlegung
des gewöhnlichen Aufenthalts ins Ausland.
Das Bundesverfassungsgericht hat diese Norm mit Hilfe der Radbruchschen Formel für ungültig erklärt (S. 106): „Der Versuch, nach rassischen Kriterien bestimmte Teile der eigenen Bevölkerung mit Einschluß der Frauen und Kinder physisch
und materiell zu vernichten, hat mit Recht und Gerechtigkeit nichts gemein. Recht
und Gerechtigkeit stehen nicht zur Disposition des Gesetzgebers.“
Weitere ältere Entscheidungen: BVerfGE 3, S. 58 (S. 119); 3, S. 225 (S. 233); 6, S.
132 (S. 198); 6, S. 389 (S. 414ff.); 23, S. 98 (S. 106); 54, S. 53 (S. 67ff.); BGHZ 3,
S. 94 (S. 107); 23, S. 175 (S. 181); BGHSt 2, S. 173 (S. 177); 2, S. 234 (S. 238); 3,
S. 357 (S. 362ff.).
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Nach der Wende zur Wiedervereinigung wurden mit Hilfe der Radbruchschen
Formel Mauerschützen, die Todesschüsse auf Flüchtlinge abgaben, und ihre Hintermänner im Staatsrat der DDR (Keßler, Mielke) verurteilt.
Nach Art. 315 I EG StGB i. V. m. § 2 I StGB kann die Tötung eines Flüchtlings
nur dann bestraft werden, wenn die Tat nach dem zur Tatzeit in der DDR geltenden Recht zu bestrafen war.
Nach § 112 StGB-DDR war Mord strafbar, nach § 115 StGB-DDR vorsätzliche
Körperverletzung.
Entscheidend ist deshalb, ob ein Rechtfertigungsgrund vorlag.
Nach § 20 III des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Deutschen
Volkspolizei (VoPoG) vom 11. 6. 1968 waren die Angehörigen der Nationalen
Volksarmee berechtigt, „in Erfüllung militärischer Wach-, Ordnungs- und Sicherungsaufgaben entsprechend den vom Ministerium für Nationale Verteidigung getroffenen Festlegungen, die in diesem Gesetz geregelten Befugnisse wahrzunehmen“.
Nach § 17 Abs. 2 lit. A VoPoG durfte ebenso wie nach dem späteren § 27 II S. 1
DDR-GrenzG geschossen werden, um die unmittelbar bevorstehende Ausführung
oder Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein
Verbrechen darstellt. Nach § 213 DDR-StGB war der ungesetzliche Grenzübertritt
ein solches Verbrechen.
Die Anwendung der Rechtfertigungsgründe wird hier vom BGH und BVerfG aber
mit Verweis auf die Radbruchsche Formel abgelehnt. Danach muß ein Rechtfertigungsgrund bei der Rechtsanwendung unbeachtet bleiben, wenn er die vorsätzliche
Tötung von Personen deckt, die nichts weiter wollten, als unbewaffnet und ohne
Gefährdung allgemein anerkannter Rechtsgüter die innerdeutsche Grenze zu überschreiten (BVerfGE 95, 96 (135).
Das Bundesverfassungsgericht verneint schließlich einen Ausschluß der Bestrafung
durch das Rückwirkungsverbot des Art. 103 II GG: Keine Strafe ohne Gesetz
(nulla poena sine lege): BVerfGE 95, 96.
„Das strikte Rückwirkungsverbot des Art. 103 II GG findet seine rechtsstaatliche
Rechtfertigung in der besonderen Vertrauensgrundlage, welche die Strafgesetze tragen, wenn sie von einem an die Grundrechte gebundenen demokratischen Gesetzgeber erlassen werden. An einer solchen Vertrauensgrundlage fehlt es, wenn der
Träger der Staatsmacht für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts die Strafbarkeit durch Rechtfertigungsgründe ausschließt, indem er über die geschriebenen
Normen hinaus zu solchem Unrecht auffordert, es begünstigt und so die in der
Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtet. Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 II GG
muß dann zurücktreten.“