Wie antikapitalistisch ist die BILD-Zeitung

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Wie antikapitalistisch ist die BILD-Zeitung
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Initiative Sozialistisches Forum
Wie antikapitalistisch ist die BILD-Zeitung?
jour fixe Frühjahr/Sommer 1997
Kleine Leute brauchen große Lügen: Darin besteht, bevor es ans Eingemachte geht, der listige
Respekt, den Herrschaft ihnen erweist. Denn die kleinen Leute sind große Bescheidwisser vor
dem Herrn; und vormachen lassen sie sich schon gar nichts. Sie durchschauen die
großsprecherischen Ideale von wegen Demokratie und Menschenrecht als Maskerade von
nichts als Eigennutz: Freiheit? Das ewigwährende Abonnement der Hubraum-Bonzen auf die
Überholspur! Gleichheit? Das angeborene Menschenrecht eines jeden, in die „Glücksspirale“
einzuzahlen! One man, one vote? Die da oben sind immer gleicher als gleich! Brüderlichkeit?
Die Horde der Fußballfans! Der Kommunismus? Prima Idee, aber das Mensch, das ist nicht so!
Die großen Ideale, denken die kleinen Leute, sind nur die Fassade, hinter der die Nichtstuer
und Absahner es sich gut sein lassen, nur die Reklame, um den Habenichtsen die Schufterei zu
versüßen. Der gesunde Menschenverstand ist von Hause aus ein Zyniker, der sich als Realist
tarnt, um sich ins Unvermeidliche zu fügen, das heißt: mit den stärkeren Bataillonen zu
marschieren in der Hoffnung, beim Beutemachen vorneweg zu sein. Hinter dem trotzigen,
geradezu impertinenten Aufbegehren, das sich von nichts und niemand imponieren läßt, steckt
die vollendete Demut gegenüber einer Herrschaft, die mit der traurigen Wahrheit Propaganda
treibt, daß Blut dicker ist als Wasser und das Hemd allemal näher als der Rock. Die kleinen
Leute brauchen andere, wuchtigere und feistere Lügen, als die der Ideologie es sind. Ideologie,
das notwendig richtige Bewußtsein zur falschen Gesellschaft, hat sich – zumal in Deutschland,
erst recht durch den Nazismus – zur freiwilligen und bewußten Lüge gesteigert, die sich wahr
machen will. Seitdem lügt Herrschaft, die mit den Unteren zur Bewegung, zum Mob, sich
verbünden will, am durchtriebensten mit der Wirklichkeit selbst. Diese ist schon Ideologie
genug, das heißt die überwältigende Masse der Tatsachen, die ganz objektiv und wertfrei ihr
souveränes Urteil in eigener Sache spricht. Daß der Mensch des Menschen Wolf ist, daß man
daher in einer Gesellschaft allseitig aufs Messer getriebener Konkurrenz lebt, daß das Recht
des Stärkeren gilt, ergo auch zu gelten hat – das ist die falsche Wahrheit, in der Herrschaft
ihren durchtriebenen Respekt vor dem gesunden Menschenverstand der kleinen Leute
ausspricht. Äußert jemand einen vernünftigen Gedanken, so stellt sich die Frage nach dem
Geldgeber, nach dem Interessenten. Die Wirklichkeit selbst stellt den Versuch, sie so
grundstürzend zu verändern, wie sie es verdient hat, unter fundamentalen Ideologieverdacht
und denunziert derart die Kritik als haltlose Anmaßung arbeitsscheuer Elemente, die sich das
schon werden leisten können. Das Zentralorgan dieser organisierten Lüge mit der Wahrheit,
das „Neue Deutschland“ für Wessis und Ossis, ist die „BILD“-Zeitung. „BILD kämpft für
Sie!“, indem es zur konformistischen Revolte aufstachelt, zum aufmüpfigen Einverständnis der
Steuerzahler. „BILD deckt auf: Neue Jobs entstehen in China statt in Chemnitz. Die
Spekulanten an der Börse schieben Milliardengewinne ein – und das völlig steuerfrei!“ BILD
kämpft für die kleinen Leute, indem es den völkischen Haß auf die Geldsäcke ankurbelt, die
leben, ohne zu arbeiten. Und wer nicht arbeitet, so lautet die nicht übermäßig geheimgehaltene
Botschaft, der soll auch nicht essen.
Das Geld regiert die Welt: In dieser zutiefst ernüchternden und also durchschlagenden
Aufklärung besteht der ganze Antikapitalismus der BILD-Zeitung. So entschieden
antikapitalistisch ist dieser Antikapitalismus, daß er für die gerechte Herrschaft eintritt und für
den starken Staat, der die angemaßte Macht des Geldes in die Schranken weist, der die
Spekulanten nach Chemnitz zwingt und zur Investition in deutsche Fabriken, für einen Staat
daher, der resolut als Hüter von Recht und Gerechtigkeit auftritt, für den Staat des
Gemeinwohls, in letzter Instanz also für die Volksgemeinschaft. Denn der Staat sind eigentlich
„wir“: Es ist dieser Gegensatz von Recht und Gerechtigkeit, den der Springer-Konzern
herausschreit und der im Herzen einer verschrobenen Sozialkritik west, die immer Geld sagt,
aber nie das Kapital meint. Die gute Herrschaft soll gegen die Ausbeutung durch die
Schlechten mobil machen. Während die „Aktion Brot für die Welt“ ihren Beitrag zum
Trommelfeuer der Verblendung auf meterhohen Plakatwänden leistet, auf denen es unter
Angabe der Kontonummer „Den Armen GeRECHTigkeit!“ brüllt, greift BILD tiefer in die
Tasten: „Der eine schuftet. Der andere lebt von Zinsen. Gerecht? – Der eine hat recht. Der
andere einen teuren Anwalt. Gerecht? – Der eine geht arbeiten. Der andere kassiert vom Staat.
Gerecht? BILD Dir Deine Meinung!“
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Karl Marx und die materialistische Ideologiekritik hatten die gesellschaftliche
Wirklichkeit als eine entzweite und in sich selbst zerrissene bestimmt, als Klassengesellschaft,
die sich selbst zu ideologisieren genötigt war. Die fixe Idee vom „gerechten Lohn für gerechte
Arbeit“ war die Selbsttäuschung eines Proletariats, wie sie aus dessen sozialer Existenz
zwangsläufig entwuchs; die Vorstellung vom „gerechten Preis für gute Ware“ deren
kleinbürgerliches Remake. Ideologie war, der materialistischen Kritik zufolge, nicht allein die
Idee des Rechts als der juristischen Form des freien und gleichen Tausches, sondern auch die
Idee der Gerechtigkeit selbst, weil sie den Tausch zur Moral überhöhte und darin zum Inbegriff
eines scheinbar der sozialen Realität entrückten Gewissens, zur außerirdischen
Einspruchsinstanz steigerte. Die unmittelbare Evidenz der Ideologie war so nur das
Selbstbewußtsein der zur zweiten Natur verdinglichten kapitalisierten Gesellschaft, das heißt
die vollendete Bewußtlosigkeit in der Form des Denkens. Darin beweist die klassische
Ideologiekritik ihre, wenn auch negative Wahrheit, daß sie von der „BILD“-Zeitung eingeholt
und überholt werden konnte. Sie hat sich als die Wahrheit dieser Wirklichkeit erwiesen, gerade
indem sie ihr widerlegt wurde. Denn der polemische Gegensatz von Arbeit und Geld, von
produktiver Mühe und genußsüchtigem Müßiggang, von Ruhrpott, Maloche und Schufterei
hie, Monte Carlo, Spekulation und nichts als Luxus da, den „BILD“ tagein, tagaus breitwalzt,
hat, indem er zum Antisemitismus notwendig sich fortbestimmte und „den Juden“ zur
Inkarnation des arbeitslosen Einkommens ebenso symbolisch stilisierte wie er die Juden real
massakrierte, noch die relative Harmlosigkeit eingebüßt, die der Ideologie als objektiver
eignete. Im Namen der Arbeit gegen das Geld zu agitieren, kann seit dem Nazismus kein
Mißverständnis mehr über den eigenen Zweck sein und also kein „Antisemitismus der
dummen Kerls“, wie noch August Bebel meinte, sondern einzig der Widerschein dessen, daß
die zweite Natur zum ersten Bedürfnis wie zur erklärten Absicht wurde. Seit Hitler das
vorgeblich deutsche, das heißt zum Gemeinwohl verpflichtete Eigentum gegen die
„abstrakten“, „wurzellosen“ und „kosmopolitischen“ Mächte des Finanzkapitals in Stellung
brachte, ist die Propaganda gegen das Geld, das die Welt regieren soll, als vorbereitende und
flankierende Maßnahme des nazistischen Programms zur „Brechung der Zinsknechtschaft“
entlarvt. Heute ist die objektive Verblendung zur subjektiven Bösartigkeit verinnerlicht, und
die Ideologieproduktion des „Völkischen Beobachters“ war darin aufklärbarer, daß er Name
und Adresse des Feindes noch aussprechen mußte: Unterstellten die Nazis doch, im
Unterschied zur „BILD“-Zeitung, die Leute wüßten das nicht schon ganz von allein. Jetzt, da
sie es wissen und wollen, erübrigt sich Ideologie als besondere Veranstaltung. Wenn 30.000
Stahlarbeiter unter Führung der IG Metall durchs Frankfurter Bankenviertel demonstrieren und
„Wir sind das Kapital!“ rufen, dann ist die Arbeit der „BILD“-Zeitung getan, dann ist der linke
Flügel der „Wir sind das Volk!“ - Gesellschaft auf den Plan getreten.
„Geld ist genug da“: Das hat Gregor Gysi im Namen der sozialdemokratisierten SED
im Deutschen Bundestag verkündet, und die Linke Liste/Friedensliste hat dazu einen Kongreß
in Freiburg veranstaltet: 68 Organisationen riefen, 300 kleine Leute kamen. Die kleinen Leute
brauchen die großen Lügen, und die linken unter ihnen brauchen womöglich noch größere, und
sei es nur, um sich die letzten Skrupel beim Mittrommeln auszutreiben. Weil die Lügen
keineswegs, im genauen Gegensatz zur Ansicht des gesunden Menschenverstandes, zu kurze
Beine für den langen Marsch haben, tischte diese ebenso absurde wie traurige Veranstaltung
den gesammelten Kaffeesatz von hundert Jahren Sozialreformismus, sechzig Jahren
nationalem Sozialismus und linkem Keynesianismus, dazu den Abhub von dreißig Jahren
neulinkem Gutmenschentum auf: Geld, so wurde erstens beschlossen, sei der an sich
klassenneutrale Reichtum, der von Rechts wegen anders verteilt gehört; der Staat, das seien
zweitens wir Demokraten; und nicht um die Abschaffung des Geldes als Inbegriff kapitaler
Vergesellschaftung ginge es drittens, sondern um dessen gerechte Distribution und soziale
Investition etc. pp.; im übrigen gelte Artikel 15 Grundgesetz und außerdem: Eigentum
verpflichtet.
John Maynard Keynes, der Urheber dieses wunderbaren Programms, hatte das Ziel
derart geldkritischer Bemühungen in seiner 1936 erschienenen „Allgemeinen Theorie der
Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ kurz und knapp als die „Aufstellung eines antimarxistischen Sozialismus“ umrissen, d. h. als eben das, was die Nazis noch kürzer und noch
knapper die Volksgemeinschaft nannten. Daß der Sozialreformismus alles andere denn ein
Gegengift gegen den Nazismus darstellt, ist eine seit dem Lehrstück vom 1. und vom 2. Mai
1933 keineswegs neue Nachricht: Er gibt sich praktisch, ist aber bloß pragmatisch. Seine
Politik des „Möglichen“ und der „kleinen Schritte“ ist der historische Rückschritt hinter das
Niveau des gesellschaftlich Notwendigen. Das ist schlimm genug und ist exaktes Indiz der
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Idiotie derer, die, Antifaschismus als Potenzsteigerung für Demokratie und den Schwur von
Buchenwald dazu im Maule führend, gedächtnislos fürs „Aus der Geschichte lernen“ sich stark
machen. In der Logik der falschen Geldkritik aber liegt es weiter, daß sie den Antisemitismus
impliziert. Die Freiburger Zeitschrift „Allerdings“, Organ der Linken Liste, läßt über ihren
„Geld ist genug da“ - Kongreß schreiben, daß das Geld, „statt daß es im Rückfluß – wie es der
Sache entspricht – seinen Wert verliert, im Produktionsbereich zur Eigentumsbildung und
damit zur Machtbildung mißbraucht werden kann – wider seine Natur.“ Nur wenn der Zins als
der Tribut, den die Produktiven den arbeitsscheuen Besitzern zu entrichten hätten, abgeschafft
werde, könne das Geld seinem wahren Zweck gerecht werden, „und nur so ... kann soziale
Gerechtigkeit, Frieden entstehen, können die Krebsgeschwüre der Welt (das angehäufte
fixierte Geldkapital), die überall auf Kosten des Ganzen wuchern, sich zurückbilden und die
Funktionen wieder einnehmen, die ihnen im Ganzen des sozialen Organismus eigentlich
zukommen“. Hier fehlt nichts mehr zur fulminanten „Brechung der Zinsknechtschaft“. Nur der
Name und die Adresse der parasitären Wucherung am produktiv-ganzheitlichen Organismus
des Volkes werden – bis auf weiteres – nicht ausgesprochen: Von der Auflage ihrer Zeitung
einmal abgesehen, ist diese Linke Liste so überaus antikapitalistisch, daß sie mit der „BILD“Zeitung ohne weiteres um den besseren Dienst am Volke konkurrieren kann.
Kleine Leute, große Lügen ,kurze Beine: Die letzte und die größte Lüge allerdings,
nach der das Volk verlangt, ist die Bewahrheitung eben jener, der diese Sorte „links“ sich
verschrieben hat, der Lüge nämlich, die Linken seien die besseren Deutschen, weil sie vom
Nazismus nicht das Recht sich nehmen lassen, zu reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist.
Darin wird das Recht auf die Freiheit der Meinung praktisch – als Verpflichtung auf die allseits
zu bekennende Lüge. „BILD kämpft für Sie!“: Das ist weniger als gar nichts.
Auch in:
Initiative Sozialistisches Forum,
Flugschriften
Gegen Deutschland und andere Scheußlichkeiten
Freiburg: ça ira 2001, S. 95-100
„Die Kritik ist keine Leidenschaft des Kopfes, sie ist der Kopf der Leidenschaft.“
Karl Marx

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